2. Försterei Brieselang

[113] Lesen konnt ich in seinen festen Zügen

Seinen lang und treu bewahrten Entschluß:

Auch mit keinem Fingerdrucke zu lügen;

Sicher und wohl ward mir bei seinem Gruß

Nic. Lenau


Unter solchem Geplauder hatten wir eine Stelle erreicht, wo der Weg, die bis dahin innegehaltene Scheidelinie zwischen Wald und Wiese aufgebend, nach links hin scharf einbiegt. Hier schlug sich Lampe in die Tiefen des Waldes, während wir, den Weg weiter verfolgend, alsbald auf eine große Lichtung mit Gärten, Häusern und Stallgebäuden hinaustraten. Wir hatten den Zentralpunkt dieser Waldregionen erreicht: Försterei Brieselang. Daneben das »Remontedepot« gleichen Namens. Die Lichtung, die diese beiden Häuserkomplexe einschließt, hat den Charakter einer großen Waldwiese. Ein Wasserlauf, »der neue Graben«, der in früheren Jahren das[113] Sumpfland entwässert hat und nun zum Holzflößen dient, zieht sich quer durch die ganze Breite; eine Brücke führt darüber hin. Jenseits des Wasserlaufes aber steigt der Wald (»die Butenheide«) aufs neue an und schließt gegen Norden hin das Bild. Am jenseitigen Rande des Waldes: die Königseiche und Dorf Pausin.

Ein Hirschgeweih über der Tür ließ uns nicht lange in Zweifel, wo wir die Försterei, für die wir einen Gruß mitbrachten, zu suchen hätten. Wir traten ein. Es war um die dritte Stunde. Der Förster, ein Mann von nah an siebzig, fuhr aus seinem Nachmittagsschlaf auf, strich sich die momentane Runzel von der Stirn und stand grüßend vor uns. Wer in solchen Momenten Haltung bewahrt, ist allemal eine liebenswürdige Natur.

Wenn dies je zutraf, so hier. Wir setzten uns zunächst in eine Geißblattlaube, die den Eingang umrankte, als aber die Nachmittagsschwüle zu drücken begann, rückten wir – ein paar Forsteleven hatten sich uns zugesellt – weiter vor und stellten die Bänke ins Freie. Und nun die ganze Waldwiese samt Graben, Brücke und Remontedepot (das zur Hälfte eine Brandstelle war) vor uns, begann das Geplauder.

Der alte Förster verstand es. »Ich darf wohl sagen«, so hob er an, »der liebe Gott hat es gut mit mir gemeint. Mein Großvater war Förster, mein Vater war Förster, ich bin Förster und meine drei Jungens sind auch Förster, oder sollen es werden. Wir haben alle Waldblut in den Adern, Brieselangblut. Ein Jahr bin ich einmal in einer Kiefernheide gewesen, aber mir wurde erst wieder wohl, als ich wieder Elsen und Eichen um mich her hatte.«

»Ist der Brieselang Ihre Heimat?«

»Nicht so ganz, aber doch beinah. Wir sind auf dem Glin zu Hause. Mein Vater war in Diensten beim alten Blücher, der dazumal Groß-Ziethen hatte. Ich habe oft auf des alten Feldmarschalls Knie geritten. ›Willst du auch ein Förster werden?‹ Das will ich. ›Na, denn werd' ein so braver Kerl wie dein Vater.‹ Das hab' ich nicht vergessen. Es war doch ein gnädiger, alter Herr. Als es Anno 15 wieder losging, sagte er zu meinem Vater: ›Grothe, denk dir, der Deubelskerl ist wieder da; wir müssen ihm noch mal eins geben; aber diesmal ordentlich, daß er genug hat un nich wiederkommt.‹ Und dabei sah er ganz ernsthaft aus, gar nicht so schabernackisch wie sonst wohl; es mocht' ihm wohl schwanen, daß er am[114] Ende selber nicht wiederkommen könne. Und hören Sie, es war auch dichte dran, als er da bei Ligny unter seinem Schimmel lag!«

Wir nickten alle. Vom Walde her aber schmetterte Finken- und Drosselschlag immer frischer zu uns herüber und mit dem Daumen rückwärts deutend, sagte der alte Förster: »Ja, das klingt ins Herz.«

»Das tut's«, erwiderte jetzt mein Reisegefährte (den es nachgerade wohl Zeit ist aus seiner stummen Rolle zu erlösen, in der er bisher eigensinnig beharrte), »aber wollen Sie glauben, Herr Förster, daß es Gegenden gibt, wo die Vögel denn doch noch anders singen, so melodisch, so tieferschütternd, daß man aufhorcht, als habe man den Klang einer Menschenstimme, die ersten Töne einer wehmütigen Volksweise gehört.«

»Der Tausend auch«, sagte der Förster, »Sie machen mich neugierig.«

»Und diese Vögel, von denen ich spreche, die singen da, wo wir's am wenigsten glauben möchten, in Australien bei den Antipoden. Ein Engländer ist dort gereist, hat die Waldstimmen belauscht, hat die Töne in Noten festgehalten und zuletzt eine Art Melodienbuch herausgegeben, aus dem wir nun genau erfahren können, wie die australischen Vögel singen.«

»Ist es möglich!«

»Es ist sogar gewiß. Ich habe das Buch. Und unter all diesen Stimmen ist eine, die es mir besonders angetan hat, das ist die Stimme des Leather-head. Leather-head heißt Lederkopf, ein Name, den dieser Vogel führt, weil er einen völlig kahlen Kopf hat. Ich will Ihnen die Melodie pfeifen; sie geht leise; Sie müssen scharf aufhorchen.«

Unser Reisegefährte pfiff nun in langgezogenen Tönen die Klagemelodie des Leather-head. Selbst im Walde war es still geworden. Es war, als ob die Vögel drinnen mit zu Rate säßen.

»Das ist schön«, sagte der Förster, »aber Ihr Engländer kann sich die Melodie erfunden haben.«

»Ich gestehe«, fuhr unser Reisegefährte fort, »daß ich dann und wann denselben Verdacht hatte. Aber denken Sie, wo mir plötzlich die Gewißheit kam! Sie haben vom Aquarium gehört. Nun, in dem Aquarium befindet sich auch eine Vogelhecke, die mir das Liebste vom ganzen ist. Jeder hat so seinen Geschmack. Und wie ich nun den Gang entlang komme[115] und das Gezwitscher der anderen Vögel einen Augenblick schweigt, was höre ich da plötzlich aus der Voliere heraus? Die leisen, langgezogenen Töne meines Leather-head, einmal, zweimal, dreimal. Mir war, als ob ich einen alten Bekannten wiedersähe. Da saß er und starrte mich lange an, wie wenn er gefühlt hätte: der hat dich verstanden.«

Alles schwieg. Der Erzähler pfiff die Melodie noch einmal. Dann knipste der Förster mit den Fingern und sagte: »Nichts für ungut, aber ich bin doch für eine richtige Brieselang-Drossel; ihr Leather-head hat mich ganz melancholisch gemacht. Ich bin für das Fidele.«

»Ich auch, ich auch«, riefen die anderen. Der Lederkopf war abvotiert.

Inzwischen begann sich Gewölk am Himmel zu sammeln. Dann brach die Sonne wieder durch, aber die Schwüle wuchs. »Haben Sie viel Gewitter im Brieselang?« fragte ich.

»Oft nicht, aber wenn sie kommen, kommen sie gut. Im vorigen Juli ging es hier eine Stunde toll her. Sehen Sie dort die Brandstelle (er zeigte nach rechts); da stand vor Jahresfrist noch das Remontedepot, einhundertundachtzig Pferde, alle schwarz.«

»Und es schlug ein?«

»Es schlug ein und es gab ein Wetter, wie ich es hier nicht wieder haben möchte, und doch war es zugleich eine Stunde, daß mir das Herz im Leibe lacht, wenn ich daran denke. Da habe ich gesehen, was ein preußischer Futtermeister ist.«

»Ein Futtermeister?«

»Ja, solch Remontedepot, müssen Sie wissen, hat einen Wachtmeister von altem Schrot und Korn, der regiert das Ganze; er ist wie ein kleiner König. Und ich sage Ihnen, dieser Futtermeister,... nun, der verstand es. Das Remontedepot hatte acht Türen. Als nun das Wetter über uns stand und die ersten Blitze herunterfuhren, stellte er seine acht Knechte an die acht Eingänge, sich selber aber mitten auf diesen Platz da.

Da stand er wie ein Feldherr, während das Feuer in breiten Scheiben niederfiel. ›Kerls‹, schrie er, ›wenn ich rufe: Vorwärts, Türen auf! dann ist's Zeit, dann hat's eingeschlagen‹. So vergingen wohl zehn Minuten; die Blitze ließen nach, ein Hagelwetter kam, Körner wie die Taubeneier. Mit einem Mal schwieg auch das; der Hagel war wie abgeschnitten. Aber im nächsten Augenblick ›Krach‹ und der Blitz lief über den First[116] hin. ›Vorwärts!‹ Alle Türen flogen auf; die Schloßen fielen nieder wie ausgeschüttet, und im nächsten Moment jagten die einhundertundachtzig schwarzen Pferde an mir vorbei, hier über die Brücke hin, in die Bütenheide hinein, auf Pausin zu. Zwölf Minuten später hatten wir die Spritzen hier; denn als die einhundertundachtzig schwarzen Pferde wie die wilde Jagd durchs Dorf jagten, da wußten die Pausiner, was los war. ›Das Remontedepot brennt‹ und heidi ging es in den Wald hinein, auf das Depot zu. Solch Wettfahren hat die alte Bütenheide ihr Lebtag nicht gesehen. Ein schöner Tag war es, aber ich mag ihn nicht wieder erleben.«

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 11, München 1959–1975, S. 113-117.
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