Siebzehntes Kapitel
Bei Hansen-Grell

[194] Zwei Tage nach diesem Gespräch zwischen Kathinka und Bninski saß Lewin in Briefen, die der Erledigung harrten. Einige, darunter Zeilen von Doktor Faulstich und Tante Amelie, lagen schon so lange unter dem Stein, daß er ihre Beantwortung nicht wohl weiter hinausschieben und den Nichtbesuch seiner drei Vorlesungen, denn es war wieder Freitag, sich eher zum Verdienst als zur Versäumnis anrechnen konnte. Die Hulen, die von Zeit zu Zeit auf ihren altberlinischen, aus allerlei Tuchecken zusammengenähten Filzschuhen durch das Zimmer ging, sah mit Kopfschütteln, wie die Zahl der auf dem Sofatisch ausgelegten Briefe von Viertelstunde zu Viertelstunde wuchs, einige noch nicht fertig und nur erst auf der ersten Seite beschrieben. Denn Lewin haßte das Aufstreuen, ein Punkt, in dem er ausnahmsweise mit Kathinka übereinstimmte.[194]

»Ein Liebesbrief mit aufgestreutem Sand«, pflegte diese zu sagen, »da wird die Liebe gleich mit verschüttet und begraben.«

Er schrieb schon zwei Stunden, aber der Hauptbrief war noch ungeschrieben, der an Renate. Er hatte ihn sich bis zuletzt aufgespart; das Plaudern mit der Schwester sollte ihn schadlos halten für die Mühen oder gar den Zwang alles dessen, was voraufgegangen war. Der Brief an Faulstich war eine literarische Abhandlung, der an Tante Amelie wie gewöhnlich ein Eiertanz gewesen; das lag nun endlich hinter ihm, und er konnte sich erholen und die Feder frei laufen lassen.

»Liebe Renate!« so schrieb er, »wir haben heute den 29., und es ist nicht ohne Beschämung, daß ich auf das Datum Deines Briefes aus der Mitte des Monats sehe. Meine flüchtige Antwort darauf war keine Antwort. Laß mich versuchen, Versäumtes nachzuholen.

Diese und die letzte Woche, wie Du aus den Zeitungen ersehen haben wirst, haben allerlei Dinge von Wichtigkeit gebracht; was Papa mir schrieb, hat sich bestätigt. Der Einsegnung des Kronprinzen folgte die Abreise des Königs nach Breslau; der ganze Hof begleitete ihn, auch die Garden. Potsdam ist seitdem wie ausgestorben, wovon wir uns bei Gelegenheit einer nach Lehnin hin unternommenen Partie durch den Augenschein überzeugen konnten. Von dieser Partie, die letzten Dienstag stattfand, möchte ich Dir nun wohl erzählen. Du weißt, oder vielleicht auch nicht, daß Lehnin ein altes Zisterzienser-Kloster ist; die meisten der Askanier wurden dort begraben, auch einige von den Hohenzollern; Johann Cicero, wenn ich nicht irre, und Joachim Nestor. Aber diese beiden standen kaum in ihrer Gruft, so kam die Säkularisation, und ihre großen Metallsärge wanderten aus der Klosterkrypta in die Krypta des Berliner Doms. Es gibt auch eine Lehninsche Weissagung, ›Vaticinium Lehninense‹, hundert lateinische Verse, die den Untergang der Hohenzollern und die Wiederaufrichtung des katholischen Glaubens in Mark Brandenburg prophezeien; aber alles sehr dunkel und unbestimmt, so daß man,[195] wie so oft, bei einigem guten Willen auch gerade das Gegenteil herauslesen kann. Auf dieses Lehnin nun war in voriger Woche das Gespräch gekommen, und der Geheimrat, der einige Verse aus der ihm durch unseren alten Direktor Bellermann vor Jahr und Tag schon bekannt gewordenen Weissagung rezitierte, verriet plötzlich einen lebhaften, an ihm ganz ungewohnten Enthusiasmus, das Kloster kennenzulernen. Bei aller Hochachtung gegen ihn möcht ich im Vorübergehen doch die Vermutung aussprechen, daß er sich in dem Gedanken gefiel, an Ort und Stelle seine Vorträge fortsetzen und uns durch eine Art mittelalterlicher Klassizität imponieren zu können. Aber sein Enthusiasmus hielt nicht vor, und als der Dienstag herankam, stand er von der Teilnahme ab. Jürgaß war schon vorher zum Reisemarschall ernannt worden. Natürlich durch Kathinka. Außer ihr und dem engeren Ladalinskischen Kreise waren die Grafen Matuschka, Seherr-Toß und Zierotin samt ihren jungen Frauen mit von der Partie. Es gab eine Überraschung nach der andern; Jürgaß bewährte seinen alten Ruf als Festordner; die Matuschka war reizend, und ich hatte den Triumph, Kathinka eifersüchtig zu sehen. Auf der Rückfahrt fuhren wir eine hübsche Strecke zusammen. Ich sagte ihr herzliche Worte, vielleicht mehr als das, und sie nahm sie freundlich auf. Bninski verläßt uns bald; er geht auf seine Güter und von da nach Warschau, um sich dem Vizekönig, mit dem er befreundet ist, zur Verfügung zu stellen. Zu Poniatowski steht er nicht gut. Es wäre Torheit, wenn ich wegleugnen wollte, daß ich den Tag seiner Abreise herbeiwünsche. Kathinka zeichnet ihn aus; aber es ist nicht ihre Art, sich mit Abwesenden zu beschäftigen oder Erinnerungen zu leben. Sie gehört der Stunde, und die Stunde, so scheint es, ist mir günstig. Ich glaube wieder an die Möglichkeit meines Glücks. Sie schrieb mir neulich: ›Sieh nicht Gespenster, Lewin.‹

Und nun laß mich fragen, wie steht es in Hohen-Vietz? Was machen die Freunde: Seidentopf, die Schorlemmer, Marie? Denke Dir, ich träumte diese Nacht von ihr, und als was sah ich sie? Als Braut. In einem langen, langen Schleier stand sie vor[196] dem Altar; aber es war nicht der Altar der Hohen-Vietzer Kirche. Ihr Kleid war weiß und leicht wie der Schleier und mit Sternchen übersät. Sie sah sehr schön aus, und wer meinst Du, daß ihr Bräutigam war? Drosselstein. Nicht unser alter, sondern ein junger; groß und schlank und in eine Uniform gekleidet, in der ich unseren Hohen-Ziesarschen Freund nie gesehen habe. Als ich mich heute früh des Traumes entsann, mußt ich an das denken, was Du so oft über Marie gesagt hast: Du würdest dich nicht wundern, eine goldene Kutsche bei Kniehases vorfahren und die kleine Prinzessin mit verweinten und zugleich freudestrahlenden Augen neben ihrem Prinzen Platz nehmen zu sehen. Du hast ihr Wesen darin getroffen. Es war doch nur in der Ordnung, daß sie Othegravens Antrag ablehnte. Damals mißbilligte ich es; es schien mir eine Unklugheit, wenn nicht Schlimmeres. Aber ich hab ihr unrecht getan. Er ist aus Münsterland, und sie ist aus Feenland, und alles Westfälische ist der letzte Fleck der Erde, mit dem sich die Feen befreunden können.

An Faulstich und Tante Amelie habe ich heute früh geschrieben. Wenig zu meiner Zufriedenheit. Die Briefe an die Gräfintante passen mir nie; ich weiß nicht, woran es liegt. Ich sollte mir einen Sammelkasten für Anekdoten und Bonmots anlegen und diesen Kasten einfach ausschütten, wenn ich einen Brief an die Tante zu schreiben habe. Aber dergleichen kann ich nicht. Ich leide mitunter unter meiner Schwerfälligkeit, und um so mehr, als es derselbe Zug ist, den mir Kathinka nicht verzeiht.

Ich werde sie heute abend sehen, auch Tubal. Dieser ist viel mit Bninski und dem Rittmeister von Hirschfeldt zusammen, einem ausgezeichneten Offizier, der in Spanien war (auf englischer Seite), was aber nicht hindert, daß er sich mit dem Grafen befreundet hat. Das letzte Mal, daß ich Tubal sah, es war in Lehnin; während wir die Kirche besuchten, fragte er mich: ›Wann reisen wir nach Hohen-Vietz?‹ Ich lasse dahingestellt sein, ob ihm dabei die Enrollierung in das Landsturmbataillon Lebus oder seine Cousine Renate mehr am Herzen lag.[197]

Und nun lebe wohl. Ich sehe heiterer in die Zukunft als seit lange. Alles läßt sich gut an, das Große und das Kleine. Und das Kleine ist die Hauptsache, denn es ist das Ich. Gruß an Papa und die Freunde.

Dein Lewin«


Es war inzwischen ein Uhr geworden, und da sein Mittagsweg ihn ohnehin an dem großen Postgebäude vorüberführte, so unterzog sich Lewin der Mühe, die fünf Briefe, die das Ergebnis dieses Vormittags waren, selbst am Schalter abzugeben. Neben der Post war das Ladalinskische Haus; er sah hinauf, aber in allen Zimmern der ersten Etage, auch in dem des Geheimrats, waren die Rouleaux herabgelassen. Er sann einen Augenblick nach, was die Ursache davon sein könne, vergaß aber den gehabten Eindruck wieder, als er an der Ecke der Stechbahn Jürgaß begegnete, mit dem er nun ein kurzes Gespräch über die nächste Kastaliasitzung führte.

»Auf Dienstag!« damit trennten sie sich, und Lewin, nachdem er in der Taubenstraße an alter Stelle sein einfaches Mittagsmahl eingenommen hatte, ging auf die lange, der ehemaligen Berliner Stadtmauer entsprechende Wallstraße zu, von der aus er – in nur geringer Entfernung vom Spittelmarkt – in die aus alten und stattlichen, aber freilich auch heruntergekommenen Häusern bestehende Kreuzgasse einbog.

In einem dieser alten und stattlichen Häuser wohnte Hansen-Grell, zu dem sich Lewin um seiner Schlichtheit und kaum minder um seines romantischen, eben dieser Schlichtheit fast widersprechenden Zuges willen von Anfang an in hohem Maße hingezogen gefühlt hatte. Eine Aufforderung zu einem Besuche war nie ausgesprochen worden, aber als sie vor zwei Tagen, wo ein Zufall sie zusammengeführt, sich nach längerem und sehr eingehendem Geplauder wieder getrennt hatten, hatte Lewin den Entschluß gefaßt, diesen Besuch in Grells Wohnung auch ohne Aufforderung zu machen. Es war ein Hochparterre. Acht oder zehn Steinstufen, ausgelaufen und von einem verbogenen Eisengeländer eingefaßt, führten hinauf. An der Tür, mit[198] dicker Feder auf ein halbes Kartenblatt geschrieben, stand Hansen-Grell.

Lewin klopfte.

»Herein!«

Es war eine in drei Felder geteilte, nur mit dem vordersten Drittel sich öffnende Tür, gerade breit genug, einen Menschen mit seiner Schmalseite hindurchzulassen. Lewin passierte das Defilee und befand sich in einem großen, wohl vierzehn Fuß hohen Raum, in dem er auf den ersten Blick nichts weiter als vier kahle, gelbgetünchte Wände und einen ungeheuren schwarzen Kachelofen erkennen konnte. Zugleich hatten sich vier lange, schmale Gardinenstreifen, bei dem durch das Öffnen der Tür entstandenen Luftzug, in eine langsam schwerfällige Bewegung gesetzt. Aber dieser Eindruck des Kahlen und Öden blieb nicht lange, und die gemütlicheren Elemente kamen zu ihrem Recht. In dem von innen her geheizten Ofen war der Torf so weit niedergebrannt, daß der Anblick der in blauen Flämmchen zuckenden Glut mit diesem unschönsten aller Heizungsmateriale wieder aussöhnen konnte, und von dem danebenstehenden, mit Büchern überdeckten Klapptisch stiegen kleine, sich kräuselnde Wölkchen auf und zogen dem Eintretenden wie ein freundlicher Gruß entgegen. Hansen-Grell war bei der Präparation seines Nachmittagkaffees.

»Einen Augenblick noch«, rief er, und den Topf mit kochendem Wasser, den er nur halb geleert hatte, wieder in die Glut des Ofens schiebend, trat er jetzt Lewin entgegen und reichte ihm die noch halb rußige Hand, nachdem er sie durch einen energischen Strich über den Ärmel seines Flausrocks hin wenigstens aus dem Gröbsten herausgebracht hatte.

»Ich freue mich herzlich, Sie zu sehen,« sagte er, »besonders zu dieser Stunde, wo die Ofenglut und der dampfende Kaffee die Honneurs des Hauses machen. Sie trinken mit. Ich bin, wie Sie sehen, etwas beschränkt im Wirtschaftlichen, aber was Tassen angeht, kann ich mit jeder Klatschbase konkurrieren.«

Lewin wollte erwidern, aber Hansen-Grell fuhr fort: »O nicht doch; fürchten Sie nicht, mich zu benachteiligen; hier ist[199] der Kaffee und dort das Wasser. Ich könnte die ganze Kastalia bewirten, ohne jede Gefahr persönlicher Einbuße. Ich bitte Sie, nehmen Sie Platz, während ich nach meiner besten Meißner suche. Sie sollen die vergoldete haben, mit einem Amor und einer Schäferin, die lacht und weint, weil sie schon getroffen ist. Können Sie sich denken, daß ich eine Passion für solche Spielereien habe? Es ist noch ein Nachklang aus meinen Kopenhagener Tagen her. Der alte Graf war ein leidenschaftlicher Sammler.«

Bei diesen Worten hatte sich Hansen-Grell an einen auf den ersten Blick nicht wahrnehmbaren Schrank gemacht, der in einer der dicken Wände mittendrin steckte, und suchte hier nicht bloß nach der versprochenen Meißner Tasse, sondern behufs besserer Repräsentation auch nach einer Zuckerschale, die er auf einem der Bretter oben oder unten gesehen zu haben sich deutlich entsann. Er persönlich hatte das Tütenprinzip.

Lewin war inzwischen der Aufforderung seines in halber Verlegenheit immer weitersprechenden Wirtes gefolgt und hatte, die Gardinen zurückschlagend, in einer der tiefen Fensternischen Platz genommen. Hier standen zwei Binsenstühle, auf deren einem ein paar aufgeschlagene Bücher lagen, und während Hansen-Grell – der die Zuckerschale noch immer nicht entdeckt hatte – sein mehr und mehr in bloße Verwunderungsausrufe sich auflösendes Gespräch fortsetzte, nahm Lewin eines der kleinen Bändchen zur Hand und sah hinein. Es waren Hölderlins Gedichte. Auf einer der aufgeschlagenen Seiten standen vier Zeilen.


In jüngeren Tagen war ich des Morgens froh,

Des Abends weint ich; jetzt, da ich älter bin,

Beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch

Heilig und heiter ist mir sein Ende.


Lewin empfing einen bedeutenden Eindruck von diesen Zeilen, aber es war dafür gesorgt, daß er sich ihm nicht lange hingeben konnte. Hansen-Grell hatte mittlerweile alles gefunden, was ihm wünschenswert erschien, und präsentierte jetzt,[200] nachdem er, ängstlich die Diele haltend, den weiten Weg zwischen Ofen und Fenster zurückgelegt hatte, seinem Gaste eine bis an den Rand hin gefüllte Tasse Kaffee.

Dieser nahm, schlürfte und lobte und sagte dann: »Ich bin überrascht, Sie bei Hölderlin zu finden. Nach dem Bilde, das ich mir von Ihnen gemacht habe, mußten Sie mit der ›ums Morgenrot fahrenden Lenore‹ für dieses und jenes Leben verbunden sein. Ich kann Ihnen auch allenfalls den ›Wilden Jäger‹ oder die ›Chevyjagd‹ gestatten, aber Hölderlin? Nein.«

Hansen-Grell hatte sich auf den gegenüberstehenden Binsenstuhl gesetzt und sagte, während er seine beiden Hände auf das bequem übergeschlagene Knie legte: »Sie berühren da einen feinen Punkt, wenn Sie wollen, einen Widerspruch in meiner Natur. Vielleicht auch in mancher andern. Es ist ganz richtig, daß ich meiner Empfindung und, wenn ich von so Unbedeutendem sprechen darf, auch meiner Dichtung nach ganz in die neue Schule hineingehöre; ich halte es wohl oder übel mit den Romantikern und werde nie von etwas anderem träumen als von nordischen Prinzessinnen und siegreichen Schlangentötern. Und wird es mir gelegentlich des romantischen Apparates zuviel, so pfleg ich mich, nach der Lehre vom Gegensatz, mit einer Art Passion auf Rokokodinge zu werfen und vor Puder und Reifrock nicht zu erschrecken. Aber etwas Klassisches nie, weder nach Form noch Inhalt.«

Lewin lächelte und wies auf das zwischen ihnen liegende Buch.

»Ich komme darauf«, fuhr Hansen-Grell fort, »das ist es ja eben, was mich von einem Widerspruche sprechen ließ. Ich werde nie klassisch empfinden, nie auch nur den Versuch machen, einen Hexameter oder gar eine alkäische Strophe aufzubauen, und doch, wo immer ich mit dieser Welt des Klassischen in Berührung komme, fühl ich mich in ihrem Banne und sehe, solange dieser Zauber anhält, auf alles Volksliedhafte wie auf bloße Bänkelsängereien herab. Ich habe dann plötzlich aller naiven Dichtung gegenüber ein Gefühl, als ob ich hübsche Dorfmädchen auf einem Hofball erscheinen sähe; sie bleiben[201] hübsch, aber die Buntheit und die Willkürlichkeit ihres Aufputzes läßt selbst ihren wirklichen Reiz als untergeordnet erscheinen.«

»Ich kann Ihnen darin nicht zustimmen«, erwiderte Lewin, »Sie sprachen schon selbst das Wort aus, auf das es mir anzukommen scheint, ›solange der Zauber anhält‹. Da liegt es. Auch in der Kunst gilt das ›Toujours perdrix‹, und jedes Zuviel weckt das Verlangen nach einem Gegenteil.«

»Möglich, daß Sie es mit dem Toujours perdrix getroffen haben«, sagte Hansen-Grell, »aber nach meiner eigenen persönlichen Erfahrung muß ich es doch in etwas anderem suchen. Vielleicht haben Sie Ähnliches beobachtet. Unsere dichterische Produktion, und das ist der Punkt, auf den ich Gewicht lege, entspricht unserer Natur, aber nicht notwendig unserem Geschmack. Dieser kann sich über jene erheben. Wollen wir einen Einklang herstellen, soll unser Geschmack, der unsere Lektüre bestimmt, auch unsere Produktion bestimmen, so läßt uns die Natur, die andere Wege ging, im Stich, und wir scheitern. Wir haben dann unseren Willen gehabt, aber das Geborene ist tot.«

Lewin wollte antworten, Hansen-Grell indes fuhr in Entwickelung seines Gedankens mit Lebhaftigkeit fort: »Im übrigen, was unseren schwäbischen Hyperion angeht«, und dabei schlug er mit dem Finger auf das vor ihm liegende Bändchen, »so löst sich der Widerspruch, den ich Ihnen anfänglich zugestand, auf eine vielleicht viel einfachere Weise. Hölderlin, aller Klassizität seiner Form unerachtet, ist Romantiker von Grund aus. Darf ich Ihnen meine Lieblingsstrophen vorlesen?«

»Ich bitte darum.«

Es dunkelte schon. Da Hansen-Grell aber die Strophen so gut wie auswendig wußte, so genügte jede Beleuchtung, und er las:


»Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen,

Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,

Daß williger mein Herz, vom süßen

Spiele gesättiget, dann mir sterbe![202]


Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht

Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;

Doch ist mir einst das Heil'ge, das am

Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen:


Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!

Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel

Mich nicht hinabgeleitet; einmal

Lebt ich wie Götter, und mehr bedarf's nicht.«


Er legte das Buch aus der Hand und fuhr ohne Pause fort: »Das sind alkäische Strophen, klassisch in Bau und Form, und doch klingt es in ihnen romantisch trotz Orkus und aller Schatten- und Götterwelt der Klassizität.« Nun erst sah er auf Lewin.

Dieser schwieg noch immer. Aber sein Schweigen sagte mehr, als es die enthusiastischsten Worte gekonnt hätten. Endlich sprach er vor sich hin: »Wie schön, und wie ist die Stimmung getroffen!«

»Ja, das ist's«, nahm Grell noch einmal das Wort. »Die Stimmung ist getroffen; und darauf kommt es an, das entscheidet. Es ist jetzt Mode, von Stimmung zu sprechen und von In-Stimmung-Kommen. Aber das In-Stimmung-Kommen bedeutet noch nicht viel. Erst der, der die ihm gekommene Stimmung: das rätselvoll Unbestimmte, das wie Wolken Ziehende, scharf und genau festzuhalten und diesem Festgehaltenen doch zugleich auch wieder seinen zauberischen, im Helldunkel sich bewegenden Schwankezustand zu lassen weiß, erst der ist der Meister.«

Lewin nickte, aber zerstreut. Er hatte offenbar nur mit halbem Ohre hingehört und wiederholte statt aller andern Antwort nur die Schlußworte des Liedes: »Einmal lebt ich wie Götter, und mehr bedarf's nicht.«

Hansen-Grell war aufgestanden, und sein unschönes Gesicht mit dem kurzen Strohhaar und den geröteten Lidern verklärte sich von innen heraus zu wirklicher Schönheit. »Ob Lied[203] oder Liebe, ob Freiheit oder Vaterland, einmal leben wie Götter und dann – sterben. Sterben bald, ehe das große Gefühl der Erinnerung verblaßt.«

Sie sprachen noch eine Weile, beide sich in dieselben Vorstellungen vertiefend; dann sagte Lewin: »Lassen Sie uns gehen, Grell, draußen hängt noch das Abendrot; es plaudert sich besser im Freien.«

Und damit verließen sie das Haus und gingen über den Opernplatz auf den Lustgarten und die Schloßfreiheit zu.

Hinter der Sophienkirche ging eben die Mondsichel auf.

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21973, S. 194-204.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Vor dem Sturm
Romane und Erzählungen, 8 Bde., Bd.1/2, Vor dem Sturm
Vor dem Sturm 2 Bd.: Große Brandenburger Ausgabe (Fontane GBA Erz. Werk, Band 1)
Vor dem Sturm. (Dünndruck). Roman aus dem Winter 1812 auf 1813.
Vor dem Sturm
Vor dem Sturm: Roman aus dem Winter 1812 auf 13

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon