Zehntes Kapitel
Am Wermelin

[290] Lewin und Grell waren am frühesten auf, beschlossen aber, das Erscheinen der übrigen abzuwarten. Dies währte nicht lange. Schon nach Ablauf weniger Minuten hatte sich alles in der Halle versammelt, in der heute der Gäste halber auch das Frühstück genommen werden sollte. Nur die Damen fehlten noch; Renate ließ sich vorläufig entschuldigen, während die Schorlemmer, voll instinktiver Abneigung gegen den alten General, einfach fortgeblieben war, sich damit getröstend, daß ihre Abwesenheit doch von niemandem, vielleicht mit Ausnahme Berndts, bemerkt werden würde. Und dieser kannte den Grund. Jeetze trippelte geschäftig hin und her, jede neue Bammesche Zweideutigkeit mit leisem Gekicher begleitend und still in sich hinein bekennend, daß er, als er letzte Woche die schwarzen Gamaschen anlegte, an so heitere Hohen-Vietzer Tage gar nicht mehr geglaubt habe.

»War Hoppenmarieken schon hier?« fragte Berndt.

Jeetze verneinte, der alte General aber, der, trotzdem er im geheimen beständig mit ihr verglichen wurde, bis dahin nie von der Zwergin gehört hatte, fragte neugierig: »Hoppenmarieken? Wer ist das?«

»Sie mag Ihnen selber antworten«, sagte Berndt. »Eben seh ich sie über den Hof kommen.«

Und so war es. Ehe noch weitere Fragen gestellt werden konnten – denn auch Grell und Hirschfeldt waren aufmerksam geworden –, erschien der Gegenstand allgemeiner Neugier innerhalb der Glastür und war nicht wenig überrascht, an eben der Stelle, wo sonst nur die toten Vitzewitze von der Wand hernieder sprachen, einer heiteren Gesellschaft Lebendiger zu begegnen.

»Hier, General, haben Sie Hoppenmarieken«, sagte Berndt.

Und Lewin setzte hinzu: »Meine Freundin, nicht wahr, Marieken?«

»Hohoho«, lachte die Zwergin und stellte die Kiepe vor sich[290] hin, in der sie nun zu kramen begann, trotzdem alles, was sie brauchte, obenauf lag.

»Briefe?« fragte Berndt.

»Nei, jnädge Herr, man bloß de Berlinsche. Awers hüt steit et inn.«

Und damit reichte sie Berndt die Zeitung herüber.

»Ah, der Aufruf!«

»Joa, dat süll et ja woll sinn. So seggte de Postminsch ook. Un een von de Küstrinsche Börgers röpp mi na'h: ›Nu geiht et los, Hoppenmarieken...‹ Na, man too, mi sall et recht sinn. Un vorbi is et nu mit de lütten Franzosen, dat 's man kloar; se röwern joa all, un de oll Genral...«

»Füllgraf?«

»Ne, de anner, de öwerste.«

»Ah, General Fournier. Nun, was ist es mit dem?«

»He wihr gistern bi Markgraf Hans' unnen. He sülwst, un fiev or söß von sine Genrals un Uffziers. All unnen in de Gruft.«

»Und da haben sie nach den vierundzwanzig Wispeln Dütchens gesucht, die der Markgraf mit ins Grab genommen haben soll?«

Hoppenmarieken nickte.

»Und wer hat es dir erzählt?«

»Oll Bäcker Mewes.«

»Und was noch?«

»Nich veel, un ihrst verstünn ick em nich. Awers dunn lachte joa Mewes und knipste mi und seggte: ›Bis' doch sünsten nich so dumm, Hoppenmarieken. Un nu paß upp. De Ruß is doa mitsamt sine Kosaken, un de hebben all ehre groten Ballerbüssen bi Quartschen und Tamsel. Un dat weten jo nu de lütten Franzosen ook un wullen sich nich ihrst rutrükern loaten. Se trecken aff. Un wenn een afftrecken deiht, denn nümmt he mit, wa he kreegen kann. Un dissentwegen wihren se gistern bi Markgraf Hansen unnen in sine Gruft. Awers se hebben nix fun'n.‹«

»Das glaub ich wohl«, sagte Bamme und setzte dann, an[291] Vitzewitz sich wendend, hinzu: »Markgraf Hans war ein Hohenzoller, und die verstehen's; die vergraben kein Pfund, am wenigsten vierundzwanzig Wispel Dütchen; die Hohenzollern wollen Zinsen haben. Das hätt ich dem Küstrinschen General sagen können. Aber freilich, er würd es mir nicht geglaubt haben.«

Hoppenmarieken, die kein Wort von dem allen verstanden hatte, lachte nichtsdestoweniger, nickte dem alten General vertraulich zu und verließ dann, salutierend und ihr übliches Kauderwelsch vor sich hin sprechend, die Halle.

»Ein Prachtexemplar«, sagte Bamme. »Hätt ich einen kleinen fürstlichen Hof, die ließ ich auf Hokuspokus abrichten, auf Tränkchen und Wahrsagerei.«

»Da wäre Geld und Mühe weggeworfen«, antwortete Berndt. »Sie versteht es ohnehin schon.«

»Desto besser; aber nun den ›Aufruf‹. Lassen Sie hören, Vitzewitz.« Und dieser begann zu lesen.

Während der ersten zehn Zeilen blieb aller Aufmerksamkeit gefesselt, bald aber ließ diese nach und mußte nachlassen, da man allerhand Halbheiten entdeckte und guten Grund hatte, sich im ganzen arg enttäuscht zu fühlen. Dieses Gefühl war so stark, daß das Erscheinen Schulze Kniehases, der noch vor Schluß der Vorlesung eintrat, kaum als eine Störung empfunden wurde.

»Setzen Sie sich, Kniehase«, sagte Berndt. »Was bringen Sie?«

»Gute Zeitung, gnädiger Herr; wir haben ihn.«

»Wen, den Vizekönig?«

»Nein, nicht so hoch hinaus, aber doch den italienischen Grafen. Eben war der Trebnitzer Verwalter bei mir; in seiner Kirche liegen die ganzen hundert Mann gefangen. Den Grafen haben sie nach Seelow gebracht, weil er einen Hieb über den Kopf hat.«

»Erzählen Sie.«

»Nun also: es muß so gestern um die Mittagsstunde gewesen sein, als sie durch Alt-Rosenthal kamen. Gleich dahinter[292] fängt die Trebnitzer Heide an, rechts hohe Stämme, aber nach links hin eine Kusselschonung, und der Kusselschonung, so meinte der Verwalter, der trauten sie nicht recht. Aber was half es, sie mußten durch, weil sie vor Dunkelwerden noch nach Jahnsfelde wollten. Und so marschierten sie denn dicht aufgeschlossen und die Kriegskasse immer in ihrer Mitte bis an den kleinen See, der schon zwischen den Kusseln liegt und eigentlich bloß ein Tümpel ist und den die Rosenthalschen und die Trebnitzer den ›Wermelin‹ nennen. Und da war es ja nun vorbei mit ihnen, denn dahinter steckten sie ja gerade, und nun vorwärts, immer mit Hurra, was die Franzosen von Moskau her gar nicht mehr hören können. Und da warfen sie die Gewehre weg und gaben sich gefangen.«

»Alle?«

»Bis auf den Grafen. Der riß eins der Gewehre wieder auf und schoß einen aus dem Sattel. Aber Tettenborn kam ihm von der Seite und hieb ihn über den Kopf, daß er niederstürzte.«

»Tettenborn?« fragten alle.

»Ja, Oberst Tettenborn mit zwanzig Kosaken. Er war denselben Morgen bei Zellin über die Oder gegangen. Jetzt ist er in Seelow, wohin er den Grafen abgeliefert hat. Und hat ihm auch seinen Degen wiedergegeben, weil er sich als ein tapferer Offizier und Mann von Ehre gezeigt habe.«

Bamme faßte sich zuerst. Er hatte, wie Berndt und alle anderen, bei Beginn der Erzählung von einer Barnim-Lebuser Waffentat zu hören geglaubt und war, als der Name Tettenborn fiel, einen Augenblick ernstlich verstimmt gewesen, die ganze geträumte Landsturmherrlichkeit auf ein neues Kosakenstückchen hinauslaufen zu sehen. Aber der alte General war nicht der Mann, irgendeinem Ärger länger als zwei Minuten nachzuhängen, hatte vielmehr umgekehrt ein ausgesprochenes Talent, auch das Ärgerlichste sofort wieder von der guten Seite zu nehmen.

»Ziehen wir die Summe, Vitzewitz, so haben wir uns aus drei Gründen zu gratulieren: erstens hab ich recht behalten[293] (was in meinen Augen immer eine Hauptsache bleibt), zweitens haben wir den Conte samt seinen hundert Mann, und drittens haben wir die Kosaken oder doch ihre Vorhut diesseits der Oder. Ärgerlich genug, denken Sie. Aber wie die Dinge liegen, bleibt uns nichts übrig, als mit jedem Winde zu segeln, auch mit diesem Windbeutel von Tettenborn. Also keine Kopfhängerei, Vitzewitz. Etwas wird auch für uns noch übrigbleiben, und wenn es bloß der Vizekönig wäre, nach dem Sie sich bei Schulze Kniehase so teilnehmend erkundigt haben.«

Das half, Berndt gewann seine gute Laune wieder, und eine Fahrt nach Hohen-Ziesar, welches letztere Bamme, trotz seiner vieljährigen Beziehungen zu Drosselstein, noch immer nicht kennengelernt hatte, wurde verabredet. Der alte Vitzewitz entschied sich für eine vorgängige schriftliche Anmeldung und ging in sein Arbeitscabinet hinüber, die nötigen Zeilen zu schreiben.

Auch alle anderen erhoben sich: Grell und Hirschfeldt, um unter Lewins Führung das Dorf und die Kirche kennenzulernen, der alte General, um bei Seidentopf einen Besuch zu machen. »Ich muß mir seine Scherben mal wieder auf alte Bekannte hin ansehen und vielleicht auch seine Münzen. Trajan, Hadrian, Antoninus Pius. Weiter komm ich nie. Sonderbar, daß ich immer gerade bei dem steckenbleibe.«

Nur Tubal hatte sich ausgeschlossen und ging in das Eckzimmer hinüber, wo er hoffen durfte, die Damen zu treffen. Oder doch wenigstens seine Cousine. Und er hatte sich nicht getäuscht. Renate, mit einer Perlenstickerei beschäftigt, saß in der Nähe des Fensters und zählte auf einem vor ihr liegenden Muster die Stiche.

»Störe ich?«

»Nein, aber ich glaubte, die Herren seien ins Dorf gegangen und in die Kirche. Oder hast du, wie der alte General, eine Abneigung gegen Kirchen?«

»Ich zog es vor, zu bleiben. Darf ich einen Stuhl nehmen, Renate?«[294]

Sie nickte zustimmend.

»Unsere Stunden hier sind gezählt«, fuhr er fort. »Hirschfeldt wird ungeduldig, ihm brennt der Boden unter den Füßen, und was ich dir zu sagen habe, duldet keinen Aufschub.«

Renate gedachte des Gesprächs, das sie mit dem alten Ladalinski in der Bohlsdorfer Kirche geführt hatte. Es lag ihr daran, es zu keiner Erklärung kommen zu lassen, wenigstens in diesem Augenblicke nicht; so ging sie, um Fragen zu verhüten, vor denen sie bangte, selbst zu Fragen über.

»Hast du Briefe?« sagte sie. »Ich meine Briefe von Kathinka.«

»Nicht Briefe, aber flüchtige Zeilen. Ich empfing sie vorgestern, den Tag vor unserer Abreise.«

»Und von wo?«

»Von Myslowitz, einem Städtchen an der Grenze. Die Güter des Grafen sind in der Nähe.«

»Darf ich wissen, was sie schreibt?«

»Ich habe keine Geheimnisse, Renate. Und hätt ich sie, so würd es mich glücklich machen, sie mit dir teilen zu können.«

»Ich dürste nie nach Geheimnissen, aber ich bin voller Verlangen, von Kathinka zu hören. Bitte, lies.«

Und Tubal las:


»Myslowitz, 4. Februar


Mein lieber Tubal!

Wir gehen morgen über Miechowitz und Nowa-Gora auf Bninskis Güter. Ein katholischer Geistlicher wird uns begleiten. Ich gedenke (Bninski wünscht es) in unsere alte Kirche zurückzutreten. Es ist nichts in mir, was mich daran hindern könnte; alles in allem gefällt mir das Römische besser als das Wittenbergische. Schreibe mir bald. Ich bin begierig, von Euch zu hören, von allen. Ich denke stündlich an Papa und jetzt oft auch an unsere Mutter. Du begreifst. Bninski will nach Paris; er ist, wie ich ihn mir gedacht, und ich bin glücklich, ganz glücklich. Freilich ein Rest bleibt. Ist es unser Los oder Menschenlos überhaupt?

Deine Kathinka«[295]


Eine Pause trat ein.

Dann sagte Renate: »Und diese Zeilen sollen dich nun begleiten. Es ist schön, ein liebes Wort mit hinauszunehmen. Aber nicht ein solches. Es klingt so trüb und traurig.«

»Ach, Renate, daß ich ein tröstlicheres Wort mit mir nehmen könnte. Sprich es. Du weißt, was mich zu hören verlangt.«

Sie schwieg.

Tubal aber fuhr fort: »Ich weiß, warum du schweigst. Es fehlt uns etwas in den Herzen der Menschen, das ist unser Verhängnis. Meinen Vater hat es getroffen und ihm am Leben gezehrt, und nun trifft es mich. Es ist, als ob wir etwas verscherzt hätten. Einen Augenblick schien es, daß es anders werden sollte; da fällt nun dies in unser Leben hinein. Und wieder ist es hin. Altes und Neues zeugt gegen uns, und das ›Ja‹, das ich zu hören verlange, will nicht über deine Lippen.«

Da war nun das »Selbstbekenntnis«, das Marie am Abend vorher erst prophezeit hatte, und der leise Spott ihrer Worte klang schmerzlich in Renaten nach. Aber einen Augenblick nur, dann war es überwunden, und alles, was sich jemals zu Tubals Gunsten in ihrer Seele geregt, es war wieder da, doppelt da unter dem Einfluß eines tiefen Mitgefühls, das seine Worte geweckt hatten, und mit jener Offenheit und Heiterkeit, die den Zauber ihres Wesens ausmachte, sagte sie: »Höre mich, Tubal, ich will dir nichts verschweigen. Lewin und ich, wir haben es oft miteinander durchgesprochen, auch gestern erst. Euer Los ist nicht das schlimmste. Eines ward euch versagt, ein anderes ward euch gegeben. Und dies andere...«

Sie schwieg.

Er aber ergriff ihre Hand und rief, indem er sie mit Küssen bedeckte: »O diese deine Hand, daß ich sie halten dürfte mein lebelang, immer, immer.«

»Ich werde sie keinem andern reichen. Aber verlange von dieser Stunde nicht mehr, und am wenigsten binde dich. Ich, ich bin gebunden.«

»O sage, daß du mich liebst, Renate. Sprich es, es hängt so viel an diesem Wort.«[296]

»Nein, nicht jetzt. Es sind nicht Zeiten für Bund und Verlöbnis oder doch nicht für uns. Aber andere Zeiten kommen. Und hast du dann das eigene Herz geprüft und das meine vertrauen gelehrt, dann, ja dann!«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21973, S. 290-297.
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