Neuntes Kapitel
Ein Aide de camp

[278] Bamme zu Ehren war in der Halle gedeckt worden. Ein großes Kaminfeuer brannte, draußen fielen Flocken, und die alten Vitzewitze sahen aus ihren Rahmen verwundert auf den kleinen krähstimmigen Mann hernieder, der ein Mal über das andere »Herr General« genannt wurde. Zu ihren Zeiten hatten die Generale anders ausgesehen. Vielleicht galt übrigens ihre Verwunderung mehr noch der reichen und ganz besonderen Tafelausstattung als irgend etwas anderem; denn nicht nur brannten heute die schweren vierarmigen Silberleuchter, sondern zwischen diesen Leuchtern paradierte auch noch ein unverhältnismäßig großer, die Donau mit all ihren Zuflüssen darstellender Rokokoaufsatz, auf dessen oberster Spitze die Kaiserin Maria Theresia thronte. Das hatten die alten Perücken-Vitzewitze seit vollen dreißig Jahren nicht gesehen, und selbst unser Berndt war bei seinem Eintritt in die Halle einen Augenblick wie betroffen gewesen. Renate aber, als sie diesem Blicke begegnet war, hatte mit dem Zeigefinger erst auf sich selbst gewiesen und dann dem Vater in schelmischer Laune zugeflüstert: »Ich, Papa, als Erbtochter von Guse!«

Gleich darauf hatte man Platz genommen. Bamme zwischen Berndt und Renate, Lewin und die Schorlemmer ihnen gegenüber. Einer der gestellten Stühle war leer geblieben, da der ebenfalls geladene Seidentopf noch in der letzten halben Stunde hatte absagen lassen. Der alte Kossäte Maltusch nämlich lag[278] seit letzter Nacht im Sterben und hatte nach dem Abendmahle verlangt. Von seiten Bammes war unmittelbar nach Bekanntwerden dieses Behinderungsgrundes allerhand wirres Zeug über Abendmahl und Mittagsmahl gemurmelt worden, aber so undeutlich und mit so schlechtem Gewissen, daß er selbst von der Schorlemmer, die dergleichen nie durchgehen ließ, nicht hatte zur Verantwortung gezogen werden können.

Der alte Kossäte Maltusch, nicht viel jünger als unser Freund Jeserich Kubalke, wohnte dreiviertel Stunden vom Dorf hart an der Hohen-Ziesarschen Grenze und war eigentlich schon auf einer Art Landzunge in die Drosselsteinsche Feldmark hineingebaut. Das führte denn, nachdem auf dem Gebiete Maltusch-Seidentopf-Kubalke mehrere Minuten lang geplänkelt worden war, alsbald ins Gräfliche hinüber und vom Gräflichen auf den Grafen selbst. Alle waren einig in seinem Lobe; Renate sprach mit besonderer Wärme, und selbst die Schorlemmer pries seinen »vor ihm selbst verborgenen« christlichen Sinn. »Hätt er einen andern Verkehr gehabt«, sagte sie, »und statt in Zeiten des Abfalls in Zeiten der Erweckung gelebt, er wär ein Mann geworden wie ›unser Graf‹.«

»Danken wir Gott«, erwiderte Bamme, »daß er geblieben ist, wie Natur und Verhältnisse ihn schufen. Ich habe nichts gegen den lausitzischen Grafen, den Sie, meine Verehrteste, als ›Ihren Grafen‹ zu bezeichnen lieben; aber ich erschrecke, wenn ich mir unseren Drosselstein, der, seine Tugenden in Ehren, ohnehin schon nicht zu den Alleroriginellsten gehört, als Zinzendorf den Zweiten vorstelle. Es tut jeder gut, sich auf seine eigenen Beine zu stellen, diese Beine mögen sein, wie sie wollen. Wir haben die unsrigen, Zinzendorf hatte die seinigen. Wenn ich sage die ›unsrigen‹, so muß ich um Entschuldigung bitten, weil ich mir wohl bewußt bin, meine berechtigten Eitelkeiten nicht gerade nach dieser Seite hin suchen zu dürfen. Im übrigen bleibt es dabei: ›Das Traurigste sind die Dubletten.‹ Woran ist Prinz Heinrich gescheitert? Die Gräfin drüben ist tot, und so läßt sich ohne Furcht vor einzubüßender Freundschaft allenfalls eine Antwort auf diese Frage geben. Er ist[279] gescheitert einfach an der Tatsache, daß er doch schließlich nichts anderes als ›beinah sein Bruder‹ war. Da lob ich mir den alten Ferdinand, den Sie neulich, Vitzewitz, in seinem Johanniter-Palais besucht haben. Der war nie etwas, Gott weiß es, aber er war doch wenigstens er selbst. Nein, meine Werteste, lassen wir unseren Hohen-Ziesarschen Grafen, wie er ist. Das wird das Beste sein für ihn und für uns. Er hat eben nur einen Fehler!«

»Und der wäre?« fragte Berndt.

»Er wird das Pregelwasser nicht los, oder, was dasselbe sagen will, er steckt zu tief in seinen ostpreußischen Vorurteilen. Achten Sie darauf, wenn er über politische Dinge spricht, speziell in diesen unseren Tagen, wo sie, nach seiner ehrlichsten Überzeugung, dort oben wieder beflissen sind, die Weltgeschichte zu machen und Freiheit und Ordnung in Balance zu bringen. Ich kenn ihn. In Ostpreußen ist die Mannhaftigkeit und in Königsberg ist die Weisheit zu Hause. Daran ist nicht zu rütteln, das ist Paragraph eins. Alles, was sich in den anderen Provinzen findet, wird an dieser Elle gemessen. Auch wir Märker passieren nur so obenhin. Er läßt uns gelten, aber bloß als Rohmaterial. Wir werden abgerichtet für den Dienst, für Armee und Verwaltung, aber aus uns selber sind wir nichts und bedeuten wir nichts. Wir sind unfrei, Werkzeuge, Hofsklaven, Hohenzollernsche Leibtrabanten.«

Berndt lächelte.

»Ja, General«, sagte er, während er mit den Fingern der linken Hand leise auf dem Tischtuch trommelte, »bei Lichte besehen, ist es nicht so?«

»Nein, Vitzewitz, nein. Natürlich, es gibt Ausnahmen, ein paar oder meinetwegen auch viele. Aber das reizt mich eben, daß man über die Pehlemanns, die Medewitz' und Rutzes, die nichts haben als Spieluhren, Gicht und Dummheit, daß man über diese die Vitzewitze und die Bammes vergißt. Hofadel! Bah! Der Jagdjunker von Otterstädt, der den abgeleierten Spruch von ›Jochimken, Jochimken, höde di‹ an seines gnädigen Herrn Kammertüre schrieb, war auch bei Hofe. Leibtrabanten![280] Unsinn! Frondeurs sind wir, alle oder doch die Besten von uns, und Ab- und Einsetzen, das wäre so unsere Passion, wenigstens die meine. Wann waren die Bammes bei Hofe? Nie. Und die Vitzewitze nicht oft. Wir haben Anno 95 nicht gefragt, und jetzt fragen wir wieder nicht. Man geht zusammen, solang es paßt. Manus manum lavat. Wenn mir wohl wird, wird mir immer lateinisch. Legitimität, Loyalität! Bah! Alles ist Akkord und Pakt und gegenseitiger Vorteil.«

»Und Eid«, sagte die Schorlemmer.

Bamme zuckte die Achseln.

»Meine Gute«, fuhr er geringschätzig fort (denn er wußte, daß ihn die Schorlemmer nicht leiden konnte), »wenn es mit den Eiden ginge, so würden die Zinzendorfe die Welt regieren. Ich bezweifle, daß wir dabei gewönnen. Denken Sie sich eine tugendhafte Weltgeschichte. Wenigstens ich für mein Teil möchte sie nicht lesen. Es ist mit den Eiden wie mit den Gesetzen, sie sind nur dazu da, um gebrochen zu werden. Wenigstens die politischen; die Liebeseide nehm ich natürlich aus.«

Und dabei wandte er sich zu der neben ihm sitzenden Renate und küßte ihr die Hand.

»Ich weiß, daß Sie scherzen«, sagte diese.

»Ach, meine Gnädigste«, fuhr Bamme fort, der auf seine Art eine Schwärmerei für Renaten hatte, »ich scherze nicht, ich verfalle nur in meinen alten Fehler, mir die Ohren nicht genau zu berechnen, vor denen ich spreche. Das alles waren Sätze für die Gräfin-Tante, nicht für die schöne Nichte. Ich war in diesem Augenblicke in Guse, nicht in Hohen-Vietz. Pardon!«

Schon während diese letzten Worte gesprochen wurden, war von der Dorfgasse her ein rasch sich steigerndes Schellengeläute hörbar geworden, und gleich darauf hielt ein Schlitten vor den Flachstufen des Hauses.

»Nach der Regel müßte das Drosselstein sein«, sagte Bamme und erhob sich halb von seinem Stuhl, um schärfer nach dem Vorplatz hinaussehen zu können. Es war aber nicht Drosselstein,[281] vielmehr traten, zu nicht geringem Staunen Lewins, Hirschfeldt, Grell und Tubal ein und wickelten sich, während letzterer erst zu Vorstellung seiner beiden Reisegefährten, dann zu Entschuldigungen über ihr allseitig unangemeldetes Erscheinen schritt, aus ihren Shawls und Mänteln heraus.

Berndt, gastlich und zerstreuungsbedürftig, gab seiner Freude über den unerwarteten Besuch – eine Freude, die, wie sich leicht denken läßt, von dem »immer frisches Blut« verlangenden Bamme geteilt wurde – den lebhaftesten Ausdruck; nichtsdestoweniger blieb eine kleine Verlegenheit, die sich bei Lewin und Renaten und mehr noch bei Tubal hinter einem beständigen Hin- und Herfragen, ohne daß die Antwort abgewartet worden wäre, zu verstecken suchte. Ja selbst die Schorlemmer ließ ihre sonstige Ruhe vermissen.

Inzwischen waren Stühle gerückt worden, und da bei dem ersten Besetzen der Tafel außer dem Seidentopfschen Platz auch noch die Schmalseiten oben und unten frei geblieben waren, so wurde das Tischarrangement keinen Augenblick ernstlich gestört. Es war die Rede davon, einige der Gänge rasch noch einmal wieder erscheinen zu lassen, alle Neuangekommenen aber lehnten auf das bestimmteste ab und erklärten nicht nur, unterwegs eine sehr substantielle Mahlzeit eingenommen, sondern auch, wie der Augenschein zeige, für ihre Ankunft in Hohen-Vietz den denkbar glücklichsten Moment, den des Desserts, getroffen zu haben. Dem stimmte Bamme, der gerade Schwarzbrot und Biskuitschnitten mit frischer Butter zusammenmörtelte, emphatisch bei und verschwor sich ein Mal über das andere, daß die Feinschmecker aller Zeiten, von Lukull bis auf Friedrich den Großen, das eigentliche Diner immer nur als den Sockel der drei großen Dessertgottheiten: Bacchus, Momus und Pomona, angesehen hätten.

So phantasierte der Alte weiter, dessen guter Laune es denn auch vorzugsweise zuzuschreiben war, daß das befangene Hin- und Herfragen der ersten Minuten einer ungezwungeneren Unterhaltung Platz zu machen begann. Jeder beteiligte sich schließlich daran, insbesondere Tubal, aus dessen Mitteilungen[282] unter anderem auch ihr eigentliches Reiseziel erkennbar wurde. Sie befänden sich, so versicherte er, auf dem Wege nach Breslau, wo sie dem durch Jürgaß und Bummcke gegebenen Beispiele zu folgen und in die daselbst sich bildende Freiwilligenarmee einzutreten gedächten. Der Aufruf, von dem alle Welt spräche, sei zwar noch nicht da, niemand bezweifele aber, daß er kommen werde (»Jede Stunde«, warf Berndt dazwischen), und ein gestern von Jürgaß eingetroffener Brief gäbe bereits ein Bild des neuerwachten Lebens. So sei neben anderem auch ein schlesischer Landsturm in Bildung begriffen. Alle Männer von achtzehn bis sechzig Jahren, soweit sie noch nicht Waffen trügen, sollten herangezogen werden. Zweck dieses Landsturms sei, den Feind, wo er sich in schwachen Detachements zeige, zu überfallen, Generale wegzufangen (Bamme schlug mit der flachen Hand auf den Tisch) und mit Fourageurs und Marodeurs kurzen Prozeß zu machen. Scharnhorst leite das Ganze; Blücher sei angekommen. Was aber am schwersten wiege, der König selbst, der bis dahin an einem kräftig-patriotischen Aufschwung gezweifelt habe, sei jetzt selber von Zuversicht getragen. Und in diesem neuen Glauben werd er sich befestigen, denn der Geist sei überall derselbe. Von allen Seiten strömten Gaben herbei: Geld, Waffen, Equipierung; jeder gäbe, was er habe, und wer nichts habe, der gäbe sich eben selbst. Alles dies sei dem Jürgaßschen Schreiben entnommen. Er seinerseits aber glaube noch hinzufügen zu sollen, daß in den nächsten Tagen schon neuntausend Freiwillige von Berlin nach Breslau abgehen würden.

Diese Mitteilungen, mit Jubel aufgenommen, schlugen den letzten Rest von Verlegenheit, wenn ein solcher überhaupt noch da war, in die Flucht, namentlich bei Berndt, der ohnehin von Anfang an den Vorfall im Ladalinskischen Hause nicht gerade von der allertragischsten Seite genommen hatte. Was war es denn schließlich? Mehr dem Eigensinn als der Ehre des alten Geheimrats war eine Niederlage bereitet worden. Bninski war Graf und reich, und Lewin – war jung. Der Ungar, dem nicht nur Bamme, sondern die ganze Tafelrunde mehr und[283] mehr zuzusprechen begann, begann auch in gleichem Maße die gute Stimmung zu steigern, und Berndt, erfüllt von Plänen, deren Ausführung aus der Anwesenheit und dem Verbleib seiner Gäste nur Vorteil ziehen konnte, richtete schließlich die Frage an Tubal: »Bis wie lange?«

»Bis morgen.«

Das war nun freilich nicht das, was er zu hören gewünscht hatte.

»Ihr müßt bleiben«, rief er, »und uns zur Hand gehen. Mit dem Guser Coup sind wir sitzengeblieben; dieser Conte war klüger, als ich ihn nahm, und hat seinen Kopf rechtzeitig aus der Schlinge gezogen. Aber die nächsten Tage müssen etwas bringen, und wenn wir recta gegen ›Bastion Brandenburg‹ oder den ›Hohen Kavalier‹ anstürmen sollten. Bamme und ich waren die ersten hier herum und exerzierten schon, als sich jenseits der Oder noch keine Hand rührte, und nun haben sie drüben den kleinen Krieg comme il faut, während wir immer noch dasitzen wie die Spittelweiber in der Nachmittagspredigt.«

Ein strafender Blick der Schorlemmer traf ihn, und Berndt, nachsichtig bis zur Schwäche gegen die rigorösen Launen der alten Herrnhuterin, korrigierte sich sofort und sagte, seinen letzten Satz in anderer Form wiederholend: »Während wir immer noch stillsitzen und unsere Hände in den Schoß legen. Aber das muß anders werden. Überall ist man uns voraus, in Soldin, in Driesen, in Landsberg. Und nicht genug daran, keine Stunde Wegs von hier schlagen diese Kirch-Göritzer ihre Krampenschlacht, und ehe wir's uns versehen, hat Faulstich den Pour le mérite. Sind wir dazu da, um vor Handschuhmacher Pfeiffer die Segel zu streichen? Wir, die wir zuerst gekräht haben, zuerst und am lautesten. Sollen wir uns sagen lassen, daß wir bloß gespielt und mit Exerzitium und Trommelschlagen dem lieben Herrgott die Zeit gestohlen hätten. Nein, ich hasse nichts mehr als diese Soldatenspielerei. Und warum? Weil ich Soldat war und das Ding ernsthaft ansehe. Ein Bürger, ein Bauer ist nicht gebunden, die Waffe zu nehmen, aber wenn[284] er sie nimmt, muß er sie brauchen, sonst ist er ein Narr oder ein Prahler.«

»Es ist doch ein eigen Ding um den Ungar«, schmunzelte Bamme und drehte seinen Schnurrbart. »So läßt er uns beispielsweise die Rollen tauschen. Sie, Vitzewitz, sprechen wie Bamme, so muß ich denn wie Vitzewitz sprechen. Das heißt ruhig und besonnen. Nein, Freund, Sie gehen zu weit, vor allem zu weit gegen sich selbst. Zum Streiten gehören zwei, sagt das Sprichwort. Und zum Bataillieren auch. Erst müssen wir sie haben, haben.«

»Nicht doch«, unterbrach ihn Berndt, »verstecken wir uns nicht hinter diesem Satz. Der Feind ist überall. Es braucht nur guten Willen, und wir begegnen ihm. ›Suchet, so werdet ihr finden.‹ Ein Sprichwort ist des anderen wert, und meines ist sogar ein Spruch. Solche Trupps, wie die hundert Mann in Guse, sind jetzt auf jeder Straße. Wir erklären sie gefangen, mehr ist nicht nötig. Es sind Expeditionen (du warst ja dabei, Tubal), als ob wir Muschwitz und Rosentreter aufsuchten, meine ›französischen Marodeurs‹ von damals. Von Gefahr keine Rede, viel weniger, als um unserer Reputation willen zu wünschen wäre. Aber das Blatt kann sich wenden, neue Regimenter des Vizekönigs mischen sich schon mit den alten, und unter allen Umständen, so oder so, du bleibst, du und deine Freunde!«

Tubal wechselte zustimmende Blicke mit Hirschfeldt.

»So bleiben wir denn«, riefen beide, und Hirschfeldt, indem er sich gegen Berndt verneigte, setzte hinzu: »Der Aufruf ist noch nicht da, und die Bildung der Freiwilligencorps hat kaum erst begonnen. So versäumen wir nicht viel. Ist doch Hohen-Vietz ohnehin eine Etappe nach Schlesien; in drei Tagen sind wir in Breslau, spätestens in vier. Ich für mein Teil stelle mich zu Diensten, und unser Freund Grell, bei allem Kriegseifer, der ihn beseelt, wird ein Gespräch über Hölderlin, zu dem sich ihm hier die beste Gelegenheit darbietet, auch nicht zu den verlorenen Stunden zählen. Ich bitte den Herrn General, über mich verfügen zu wollen.«[285]

»Topp, Hirschfeldt«, sagte dieser. »Das nenn ich eingefangen! Sie sind mir willkommener, als Sie wissen können. Es ist nichts Kleines für einen alten Zietenschen, der bloß reiten und die Augen aufmachen kann, einen ›Aide de camp‹ um sich zu haben, der sich auf Karten und Listen und aufs Schreiberhandwerk versteht. Denn ganz ohne Federfuchserei geht es nicht mehr in der Welt. Auf gute Kameradschaft also!«

Und dabei klangen die Gläser zusammen.


Eine Viertelstunde später erhoben sich alle von der Tafel, und die beiden Damen, während der Rest der Gesellschaft das Eckzimmer aufsuchte, stiegen in das obere Stockwerk hinauf, um hier für die Placierung ihrer Gäste Sorge zu tragen. Sie kamen überein, den Hölderlin-schwärmenden Grell bei Lewin, Tubal und Hirschfeldt aber in dem nebenangelegenen Zimmer unterzubringen. Alles dies war rasch geordnet, nur Bammes Unterbringung machte Schwierigkeiten. »Wo schaffen wir ihn hin?« sagte die Schorlemmer. »Ich mag ihn nicht auf unserem Korridor haben. Er ist anstößig und ein Greuel.«

»Ich fürchte mich auch vor ihm«, entgegnete Renate. »Das heißt, ein wenig.«

»Und das ist gut, daß du dich fürchtest. Ich tue es auch, wenn Abneigung Furcht ist. Er darf nicht nach oben, zehn Schritt von deinem und meinem Zimmer. Vielleicht klingelt er, oder gewiß klingelt er, und Maline muß ihm ein Glas Wasser bringen.«

»Nun?«

»Nun?« wiederholte die Schorlemmer. »Wie du nur fragst, Renate! Ich habe dich doch zu fromm erzogen. Ein Mensch wie Bamme trinkt nie Wasser und klingelt immer und rechnet dabei auf dies und das.«

»Aber, liebe Schorlemmer...«

»Ich habe mit den Angekoks gelebt«, fuhr diese fort, »und die Grönländer, die auch klein sind, geradeso klein wie dieser Bamme, die waren auch alle in der Fleischeslust. Meine liebe Renate, gewiß, man soll den Teufel nicht an die Wand malen;[286] aber ebenso gewiß ist es, man soll den Brunnen nicht erst zudecken, wenn das Kind hineingefallen ist. Und die Maline ist ein Kind, ja, das ist sie mit all ihrer Klugheit. Denn was die Klugheit hilft, das verdirbt die Eitelkeit. Und mit den Eitlen hat er immer das leichteste Spiel. Du weißt schon wer. Mir ist, als hätten wir den Bösen im Hause.«

»Du nimmst es schlimmer, als es ist«, sagte Renate. »Er hat keinen guten Ruf. Aber die Menschen übertreiben, und alles in allem, er ist ein alter Mann; er muß siebzig sein oder darüber. Ich entsinne mich, daß die Tante von ihm sagte: ›Wenn wir die Sünde nicht fliehen, so flieht die Sünde doch schließlich uns.‹ Sie sagte es französisch, aber das hörst du nicht gern.«


So ging oben auf dem Korridor das Gespräch, und während es geführt wurde, plätscherte der Gegenstand all dieser moralischen Ängste nicht nur persönlich in einem Meer von Behagen, sondern wußte sein eigenes Wohlgefühl auch seiner Umgebung mitzuteilen. Er war affabel und pikant wie gewöhnlich, durch Hirschfeldts Bleiben aufrichtig erfreut und verzichtete darauf, wichtigtuerisch den General zu spielen. Wußt er doch, daß er sich gehenlassen konnte, ohne an Autorität etwas Erhebliches einzubüßen. Und wenn doch, so war er der Mann, sich das Verlorengegangene jeden Augenblick zurückzuerobern. Mit Hansen-Grell, der ihm unter seinem etwas fremd klingenden Doppelnamen vorgestellt worden war, wußt er anfänglich, teils um dieses Namens, teils um seiner sonderbar vorstehenden Augen willen, nichts Rechtes anzufangen, söhnte sich aber bald mit ihm aus und versprach ihm beim Tarock – das unser Gantzerscher Kantorssohn als Spielpartner im Graf Moltkeschen Hause bis zur Perfektion gelernt hatte – ein Mal über das andere die Groß-Quirlsdorfer Pfarre, »wenn er erst seinen ›jetzigen‹ zu Tode geärgert oder nach Berlin hin weggelobt haben würde«. Denn dahin passe er, und dahin müß er. Patronat und Pfarre könnten eben nur bei Gleichartigkeit der Interessen mit- und nebeneinander bestehen und das[287] beste Bindemittel sei und bleibe Tarock oder doch überhaupt die Karte.

Rasch verging der Abend. Bald nach neun Uhr wurde das Spiel abgebrochen, und alles zog sich zurück, die jüngeren Männer in die Fremdenstuben treppauf, der General in sein Parterrezimmer, in das auch bei heftigem Klingeln nicht einzutreten allen weiblichen Dienstboten des Hauses aufs schärfste anbefohlen worden war.


Eine halbe Stunde später war alles still; nur in einer der oberen Korridorstuben war noch Licht, und Renate und Marie plauderten von den Erlebnissen des Tages: von Bamme und den ridikülen Befürchtungen der Schorlemmer, von Grell und seiner imponierenden Häßlichkeit, von Hirschfeldt und seinem zerhauenen Gesicht.

»Narben ist doch das Schönste«, versicherte Marie.

Und dann glitt das Gespräch zu Tubal hinüber, dessen Name sehr bezeichnenderweise bis dahin noch nicht genannt worden war.

»Erzähle«, sagte Marie, »wie war er?«

»Er war befangen und vermied es, meinem Auge zu begegnen. Dabei sprach er viel und hastig, aber ich bemerkte wohl, daß ihm nur daran lag, sich und uns über das Peinliche dieses Wiedersehens hinwegzuhelfen. Eine Zartheit, die mich rührte. Aber das ist so Ladalinskische Art. Sie haben alle jene Vornehmheit, die lieber sich als andere verklagt. Und das mindeste zu sagen, es ist, als teilten sie die Verantwortung für das, was geschehen. Deshalb war auch Tubal nicht mit in Guse. Der alte Geheimrat bekannt es mir schon, als wir uns in Bohlsdorf trafen.«

Marie schüttelte den Kopf.

»Ich seh es anders«, sagte sie. »Was du Zartheit nennst, ist ihr Gewissen, und die Mitschuld, deren sie sich leise zeihen, ist keine eingebildete. Sie sind sich alle gleich und kennen nichts als den Augenblick. Er liebt dich und ist doch seiner eigenen Liebe nicht sicher. Voller Mißtrauen gegen sich selbst,[288] begegnet er dir mit Scheu. Vielleicht, daß er es dir offen bekennen wird, um wenigstens vor sich selbst einen Halt und etwas, das einer Rechtfertigung ähnlich sieht, gewonnen zu haben.«

»Ihr hattet immer eure Fehde«, sagte Renate. »Wüßt ich es nicht besser, ich könnte glauben, du liebtest ihn.«

Und damit schieden die Freundinnen, und Maline kam, um Marie nach Hause zu begleiten.


Die letzten Worte dieser Unterhaltung waren unter Lachen gesprochen worden, aber Renate, als sie wieder allein war, lachte nicht mehr. Waren das nicht dieselben Befürchtungen, die sie selbst erst diesen Morgen aufrichtig und doch in der Hoffnung auf Widerlegung gegen Lewin geäußert hatte? Und nun hörte sie nichts als die Bestätigung alles dessen, was ihr ahnungsvoll das eigene Herz bedrückte. Hatte Marie recht? Und schlimmer als das, hatte sie selber recht?

Sie hätte wohl noch weiter gefragt und gegrübelt, wenn nicht die Schorlemmer eingetreten wäre. Diese kam, um ihrem Lieblinge »Gute Nacht« zu sagen. »Die Erbtochter ist da«, so schloß sie, »nun werden auch bald die Hochzeitszüge kommen.«

»Ach, liebe Schorlemmer«, entgegnete Renate, »es ist mit euch Herrnhutern ein eigen Ding. Ihr seid fromm, aber prophetisch seid ihr nicht.«

»Das darfst du nicht sagen, Renate. Wer den rechten Glauben hat, der sieht auch das Rechte.«

»Das Rechte, aber nicht immer das Richtige. Die Wirklichkeit der Dinge läßt euch im Stich.«

Die Schorlemmer lachte gutmütig vor sich hin.

»Das sind so Sätze aus dem neuen Lewinschen Katechismus«, sagte sie. »Aber nichts mehr davon, mein Renatchen, für heute schlafe. Das wird wohl das Rechte und auch das Richtige sein.«[289]

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21973, S. 278-290.
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