Achtes Kapitel
Chez soi

[196] Über dem Salon, aus dem die Wendeltreppe mit dem Nußbaumspalier ins obere Stock führte, befand sich das Schlafzimmer der Gräfin. Ein stiller Raum, hoch und geräumig, die Fenster[196] nach Norden zu. Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte man diese Lage tadeln dürfen; hier aber, wo die Neigung vorherrschte, sich erst durch die Mittagssonne wecken zu lassen, gestaltete sich, was anderen Orts ein Fehler gewesen wäre, zu einem Vorzug. In der Mitte des Zimmers, nur mit der einen Schmalseite die Wand berührend, stand das Bett, ein großer, mit schweren Vorhängen ausgestatteter Behaglichkeitsbau und nicht eine jener sargartigen Kisten, die das Schlafen als eine Nebensache oder gar als eine Strafe erscheinen lassen. Ein zuverlässiger Mensch wacht aber nicht nur ordentlich, sondern schläft auch ordentlich, und es war eine Feinheit unserer Sprache, das richtig drapierte Großbett ohne weiteres zum Himmelbett zu erheben.

Die Gräfin, noch unter dem Einfluß des Streits, den sie mit dem Bruder gehabt hatte, und verstimmt, an einer, wie sie nicht zweifelte, siegreichen Entgegnung verhindert worden zu sein, stieg die Wendeltreppe langsam hinauf, während ihr ihre Jungfer, ein hübsches, blutjunges Ding von entschieden wendischem Typus, mit einem Ausdruck von Schelmerei und Schlauheit folgte. Es war Eva Kubalke, des alten Hohen-Vietzer Küsters jüngste Tochter und Schwester von Maline Kubalke.

Beide nahmen dieselbe bevorzugte Stellung ein. Eva war Liebling und Vertraute bei Tante Amelie, Maline bei Renaten.

Es verging eine geraume Zeit, während welcher die Gräfin nicht sprach. Endlich schien sie ihrer Verstimmung Herr geworden zu sein; sie setzte sich vor einen Spiegel und begann ihre Nachttoilette zu machen. Die Kleine sah ihr beständig nach den Augen. Endlich sagte die Gräfin unter freundlichem Zunicken: »Nun, Eva?«

»Gnädigste Gräfin sind so still.«

»Ja. Aber nun sprich. Nimm den Kamm. Was gibt es?«

»O vielerlei, gnädigste Gräfin. Fräulein Renate war wieder so gut. Sie hat mir alles erzählt. Ich freue mich immer, wenn sie Kopfweh hat und aus dem Salon nach oben kommt. Da höre ich doch von Hohen-Vietz und meiner Schwester Maline.«[197]

»Wie steht es mit dem Bräutigam? War es nicht der junge Scharwenka?«

»Ja, aber sie hat ihm abgeschrieben.«

»Ihm abgeschrieben? Dem reichen Krügerssohn?«

»Das war es eben. Es sind harte Leute, die Scharwenkas, hart und bauernstolz. Er hat ihr vorgeworfen, daß sie arm sei. Aber da war es vorbei. Sie machte sich auch nicht viel aus ihm. Sie will nun in die Stadt.«

»Wenn es nur gut tut.«

»Aber wissen denn gnädigste Gräfin, daß der Hathnower Pastor Hochzeit gehabt hat?«

»Der Hathnower?«

»Ja, gestern, am zweiten Feiertage. Es sollte was Apartes sein.«

»Und mit wem denn?«

»Mit einer Berlinerin. Und wie er dazu gekommen ist! Es ist eine ganze Geschichte.«

»Nun, so erzähle doch.«

»Er war letzten Sommer in Berlin auf Besuch bei einem Freunde, auch Prediger. Den Namen habe ich vergessen, aber ich besinne mich noch.«

»Laß ihn.«

»Nun, der Freund wohnte in einem großen Hause, zwei Treppen hoch. Ein Gewitter zog herauf, und es goß wie mit Kannen. Als es vorüber war und der Regen nur noch leise fiel, legten sich beide Freunde ins offene Fenster und sahen auf die Straße, die unter Wasser stand, so daß die Brückenbohlen umherschwammen. Aber soll ich weiter erzählen?«

»Gewiß.«

»Sie sahen also auf die Straße und die Brückenbohlen, aber auch auf ein paar große Rosenstöcke, die Regens halber umgelegt waren und gerade unter ihnen aus dem Fenster herausguckten. Die Freunde sprachen noch, und der Hathnower wollte sich eben nach den eine Treppe tiefer wohnenden Wirtsleuten erkundigen, als ein Arm herausgestreckt wurde, der dicht über den Rosenstöcken hin einen kleinen irdenen Blumentopf, in dem nur zwei, drei Blätter wuchsen, in den Regen[198] hinaushielt. Ein paar Tropfen fielen auf die Blätter und auch auf den Arm; und dann verschwand er wieder. ›Es war wie eine Erscheinung‹, soll der Hathnower gesagt haben. Den zweiten Tag hielt er an. Es ist eine Steuerratstochter.«

»Das hätte ich dem Kleinen nicht zugetraut. Er ist sonst so schüchtern.«

»Die Leute wissen auch nicht recht, was sie daraus machen sollen. Die einen meinen, es habe ihn so gerührt, die Liebe zu den drei kleinen Blättern, und er habe gleich gesagt, ›die muß jeden glücklich machen‹; die andern aber meinen, Frau Gräfin verzeihen, der Arm habe es ihm angetan.«

»Es wird wohl der Arm gewesen sein« bemerkte die Gräfin mit ruhiger Überzeugung.

Eva, die ein Schelm war, erwiderte, »daß es ja doch ein Prediger sei«, und fuhr dann in ihrem Abendrapporte fort: »Auf der Manschnower Mühle ist eingebrochen.«

»Beim alten Kriele?«

»Ja, gnädigste Gräfin. Sie haben ihm all sein Gespartes genommen, und das Pferd aus dem Stall dazu. Sie müssen die Gelegenheit gut gekannt haben, denn das Geld lag unter dem Fußboden; aber sie brachen die Dielen auf.«

»Hat man auf wen Verdacht?«

»Die Diebe hatten alte Soldatenröcke an, halb zerrissen, so daß man nichts Bestimmtes erkennen konnte. Die Manschnower meinen, es wären Marodeurs gewesen, Franzosen, die das Mitnehmen noch immer nicht lassen könnten. Ihre Gesichter hatten sie schwarz gemacht.«

»Dann waren es keine Franzosen. Wer sein Gesicht schwärzt, der fürchtet erkannt zu werden. Und du sagtest selbst, sie wußten Bescheid in der Mühle.«

»Aber die Soldatenröcke.«

»Das wird sich aufklären.«

Damit brach das Gespräch ab. Die Toilette war beendet, das Haar leicht zusammengesteckt, und die Gräfin bot Eva gute Nacht. Diese, bevor sie das Zimmer verließ, trat noch an einen großen Stehspiegel heran und ließ, wie man ein Fensterrouleau[199] herunterläßt, einen grünseidenen Vorhang über den Trumeau herabrollen.

Dies geschah jeden Abend, und es ist nötig, ein Wort darüber zu sagen. Wie alle alten Schlösser, so hatte auch Schloß Guse sein Hausgespenst, und zwar eine Schwarze Frau. Diese Weißen und Schwarzen Frauen gelten bei Kennern als die allerechtesten Spuke, gerade weil ihnen das fehlt, was dem Laien die Hauptsache dünkt: eine Geschichte. Sie haben nichts als ihre Existenz; sie erscheinen bloß. Warum sie erscheinen, darüber fehlen entweder alle Mitteilungen, oder die Mitteilungen sind widerspruchsvoll. So war es auch in Guse. Die Erzählungen gingen weit auseinander, nur das stand fest, daß das Erscheinen der Schwarzen Frau jedesmal Tod oder Unglück bedeute. Die Gräfin, sonst eine beherzte Natur, lebte in einem steten Bangen vor dieser Erscheinung; was ihr aber das peinlichste war, war der Gedanke, daß sie möglicherweise einmal einem bloßen Irrtum, ihrem eignen Spiegelbilde zum Opfer fallen könne. Da sie sich immer schwarz kleidete, so hatte diese Besorgnis eine gewisse Berechtigung, und sie traf ihre Vorkehrungen darnach. Die Anlage der mehrerwähnten Wendeltreppe stand im Zusammenhange damit; sie wollte das Spiegelzimmer nicht passieren, wenn sie sich spätabends aus dem Salon in ihr Schlafzimmer zurückzog. In diesem letzteren war nun natürlich der große Trumeau ein Gegenstand ihrer besonderen Aufmerksamkeit und Besorgnis, und ein durch Eva auch nur einmal versäumtes Herablassen des Vorhanges würde schwerlich ihre Verzeihung gefunden haben.

Es war heute noch früh, kaum elf Uhr, und die Gräfin, die ohnehin die Nacht am liebsten zum Tage gemacht hätte, hatte keinen Grund, die Ruhe vorzeitig aufzusuchen. Es waren noch Briefe zu schreiben.

Sie setzte sich an einen mit Schildpatt und Boulearbeit ausgelegten Tisch, der zwischen Bett und Fenster stand, überflog einen kurzen Brief, der ihr zur Linken lag, und schrieb dann selbst:


»Mon cher Faulstich. Tout va bien! Demoiselle Alceste, wie[200] sie mir heute in einem unorthographischen Billet (le style c'est l'homme) anzeigt, hat akzeptiert. Sie wird am 30. in Guse sein et, comme j'espère, den Dr. Faulstich bereits hier antreffen. Sie dürfen mich nicht im Stiche lassen.

Meinen Dank für die Vorschläge, die Sie gemacht. Ihre Begeisterung für de la Harpe, den Sie zu favorisieren scheinen, kann ich nicht teilen, weder für die ›Barmecides‹ noch für den ›Comte de Warwick‹. Die rot angestrichenen Stellen (Tome VII erfolgt zurück) lasse ich gelten.

Ich habe mich, après quelque hésitation, für Lemierre entschieden, nicht für den ›Barnevelt‹, der soviel Aufsehen gemacht hat und der reifer ist, sondern für den ›Guillaume Tell‹, justement parcequ'il n'a pas cette maturité. Er hat dafür Schwung, Feuer, Leidenschaft. Demoiselle Alceste, ohne daß ich ihr Urteil kaptiviert hätte, ist mir beigetreten. Ich leugne übrigens nicht, daß auch Rücksichten auf den Effekt meine Wahl bestimmt haben. Cléofés Paraphrasen an die Freiheit sind genau das, was man jetzt hören will, et comme Intendant en Chef du Théâtre du château de Guse habe ich die Verpflichtung, Neues, Zeitgemäßes zu bringen und mich dem Geschmacke meines Publikums anzubequemen. S'accomoder au goût de tout le monde, c'est la demande de notre temps. Das Beste wird Demoiselle Alceste tun müssen et encore plus la surprise. Also Verschwiegenheit, auch gegen Drosselstein.

Aber eines fehlt noch, cher Docteur, et c'est pour cela que je recours à votre bonté. Es fehlt ein Prolog, ein Epilog, ein Chorus, ein Irgendetwas, das vorwärts oder rückwärts oder seitwärts weist, denn so könnte man den Chorus vielleicht definieren. Sie werden schon das Richtige finden. J'en suis sûre. Vielleicht täte es auch ein Lied. Aber es müßte etwas Leichtes sein, das Renate vom Blatte singen könnte.

N'oubliez pas que je vous attends le 30. Je suis avec une parfaite estime votre affectionnée

A. P.«


Ein zweiter Brief war an Demoiselle Alceste gerichtet. Er enthielt nur den Ausdruck der Freude, sie mit nächstem zu sehen. Die Gräfin siegelte beide Briefe, löschte die auf dem[201] Schreibtische stehenden Kerzen und legte sich nieder. Nur noch die italienische Lampe brannte. Sie band, wie sie seit vielen Jahren tat, ein safranfarbenes Tuch um ihre Stirn und versuchte zu lesen, aber das Buch entfiel ihrer Hand. Die Eindrücke des Tages zogen an ihr vorbei; sie hörte die heftigen Reden Berndts, dann klangen sie ruhiger, und die großen Portaltüren, die Bamme mit soviel Eindringlichkeit geschildert hatte, öffneten sich langsam und leise. Aber in den Saal, in dem die Leibkarabiniers tanzten, trat niemand anderes als Mademoiselle Alceste, die Worte Lemierres auf den Lippen, den Sieg auf der Stirn. Alles applaudierte.

Der Traum spann sich weiter; die Gräfin schlief.

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21973, S. 196-202.
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