Virginia an Adele

[139] Baltimore


Glücklich bin ich hier mit meinem Gefolge angelangt, und ein Handelsfreund von Ellison hat sich nicht abhalten lassen, mich aufzunehmen. Unsre Reise war nur wenig verschieden von einer Reise in Frankreich, so kultiviert ist schon der Distrikt zwischen hier und Philadelphia; nur waldiger ist das Land als dort und der Baumwuchs üppiger, saftvoller, auch gibt es mehr Viehzucht und mehr kleine zerstreute Besitzungen. An das Gemisch der verschiedenfarbigen Menschen, welches dem Reisenden anfangs sehr auffällt, habe ich mich schon gewöhnt. Von hier aus will ich erst nach Washington, um die Nachbildung jenes Kapitols zu sehen, wohin mein Geist so oft mich trug und welches jemals wirklich zu sehen mir nun jede Hoffnung entschwunden ist. Dann kehre ich hierher zurück, um von hier aus die große Wanderung zu den Seen anzutreten. Baltimore ist freundlich und um vieles lebhafter als Philadelphia. Es wohnen hier viele Franzosen. Meine Wirtsleute sind noch jung, besonders die Frau, ein Irländerin, voll Lebhaftigkeit und beweglich wie Quecksilber. Sie erzählt mir unaufhörlich; schade nur, daß ich mich mit ihr so schlecht verständigen kann, denn sie spricht das Englische nach ihrer vaterländischen Mundart aus und kann wenig Französisch. Besonders wünschte ich mich über einen Teil ihrer Erzählungen vollständig unterrichten zu können, welcher mich seltsam anzieht. Sie spricht nämlich oft von den Freiwilligen von Baltimore, welche im vorigen Jahre Washington zu Hülfe gezogen, und daß darunter mehrere Ausländer gewesen. Unter diesen erwähnt sie oft eines jungen Franzosen, welcher lange in ihrem Hause gewohnt habe. Die Beschreibung scheint mir, wunderbarerweise, auf Mucius zu passen, auch der Name hat in ihrer Aussprache einige Ähnlichkeit, und so fest ich von der Unmöglichkeit seines Lebens überzeugt bin, so nimmt mein törichtes Herz doch einen Anteil an diesen Erzählungen,[139] der mich mit Unruhe erfüllt. Gern möchte ich nun etwas Näheres über diesen Fremdling erfahren, möchte seine ferneren Schicksale, seinen jetzigen Aufenthalt wissen; aber entweder weiß die gute Davson nur wenig, oder ich verstehe sie schlecht. Ich kann nicht einmal mit Bestimmtheit erfahren, ob er mit den Freiwilligen zurückgekehrt ist, sie spricht immer, »der gute junge Herr ist gegangen«. Ich entschloß mich, mit einer kleinen Schamröte, den Mann deshalb zu befragen. »Hat Ihnen meine Frau davon gesagt?« fragte er mit einem finstern Blick, welchen ich noch gar nicht an ihm gesehen hatte. »Ich weiß nicht mehr als Betty«, setzte er hinzu, »es hat mich nicht interessiert.« Und damit brach er das Gespräch ab, welches ich nicht wieder anzuknüpfen wagte.

Der Fremde ist ein Zankapfel zwischen dem Ehepaare gewesen, das bemerke ich wohl. Aber weshalb beunruhigt mich das? warum ist mir seitdem die Schönheit der jungen Frau auffallender? warum bemerke ich sie mit halbem Neide? warum fällt mir ihre Lebhaftigkeit doppelt auf, wenn sie von dem Fremden spricht? was geht das mich an? Wahrhaftig, Deine Virginia ist recht kindisch! lache sie nur tüchtig aus, und schilt sie zugleich. Sie scheint eifersüchtig auf einen Schatten und war es nie auf den lebenden Mucius.

Auf jeden Fall aber wird dieser Umstand meine Abreise nach Washington beschleunigen. Es drängt mich hin zu dem Schauplatze, wo der Unbekannte gekämpft, vielleicht geblutet hat. Vergib mir, William! dich konnte das törichte, undankbare Mädchen verlassen, und hier jagt es dem Truggebilde einer kranken Phantasie nach, dessen Urbild über den Sternen lebt. Guter William! ich fürchte, so wird es immer sein.


Mein Gefolge ist es sehr wohl zufrieden, daß wir bald weiterreisen. Meinen Negern gefällt der städtische Aufenthalt nicht. Corally, das schwarze Mädchen, kann gar nicht begreifen, wie man sich in einen so großen Ort einsperren[140] könne, wo man gar keine Rasenplätze zum Tanzen, keine Blütengebüsche vor seiner Haustür habe. Ihr Bruder Ismael horchte auf die Erzählungen seines Vaters von der Lebensart der Wilden. Er hofft immer, einigen Stämmen am Ontario oder Erie zu begegnen und mit eigenen Augen ihr Treiben zu sehen. Dann aber sehnt er sich nach seiner Frau und seinen kleinen Buben zurück. Corally hat mir auch ganz heimlich vertraut, daß sie einen jungen Schwarzen gar liebhabe, er sei aber arm, müsse noch verdienen und sparen, denn Vaters kleines Feld könne keine neue Familie mehr ernähren. Gutes Kind der Natur, wie wenig bedarf es, dich zu beglücken! Einige Morgen Land, eine Hütte, ein paar Kühe, und daran soll es dir bei unserer Rückkunft nicht fehlen.


Washington


So bin ich denn gestern eingezogen in diese Hauptstadt des freien Amerika, vielleicht bestimmt, dereinst der Neuen Welt Gesetze, Sprache und Sitten zu geben, wie Rom sie vormals der Alten gab. Möge sie sich nie zu Roms Üppigkeit und Übermut erheben, um einst zu sinken wie sie! Welche Vergleichungen, welche Erinnerungen und Betrachtungen bieten sich hier bei jedem Schritte dar. Kühn und groß ist der Entwurf zu dieser großen Bundesstadt, wie überhaupt der Riesenbund dieser freien Staaten. Gebe das Schicksal Gedeihen! die Saat ist vollwichtig, die Säemänner sind voll redlichen Eifers, und nur der Sonnenschein des Friedens ist not. Das Hagelwetter, welches jüngst vorübergeflogen, hat vieles zerstört. Prachtvolle Gebäude stehen dachlos und ausgebrannt, und der Mond scheint verwundert in die leeren Räume hinabzublicken. Die Säulen des Kapitols sind beschädigt von dem feindlichen Geschütz, aber die Säulen der Republik trotzen jedem Anfall, hier wird sich die Macht des neuen Karthago brechen. Unter Kämpfen ward hier das Riesenkind der Freiheit geboren, Kämpfe und Gefahren stärken seine[141] Kräfte und ziehen es groß, wie die junge Eiche mitten unter Stürmen emporwächst.

Mit stiller Ehrfurcht habe ich das noch nicht ganz vollendete Denkmal des großen Mannes besucht, dessen Name durch die Stadt selbst der späten Nachwelt überliefert wird und dessen Andenken in dem Herzen jedes Amerikaners lebt. Wahrlich, ein beneidenswerter Sterblicher, den selbst seine Gegner nicht zu verunglimpfen wagen! Die einfachen Sitten seines Landes, die ruhige Art der hiesigen Entwickelung bewahrten ihn vor dem kühnen Auffluge, welchen unser französischer Adler nahm. Napoleon übertraf Washington an Geist und Energie, wurde aber von ihm an Mäßigung und stiller Bürgertugend weit übertroffen. Washington war der Cincinnatus des tugendhaften Roms, Napoleon der Caesar des verderbten. Bei der Charakter leiden sowenig eine Vergleichung als die Lage ihrer Umgebungen.


Das Gewühl des Hafens und die Tätigkeit, womit man die Brandstätte abräumt und den Schaden zu heilen strebt, hat mich mehrere Tage ergetzt und festgehalten; daneben habe ich manche Forschung nach dem Unbekannten angestellt. Humphry Dyk, der Bediente von Ellison, ist mir dabei sehr nützlich gewesen, und ich habe diesen Menschen recht liebgewonnen, seines Diensteifers wegen. Aber ach, es ist alles vergebens, man weiß hier nichts von einem schwarzlockigen Franzosen, welcher unter den Freiwilligen von Baltimore sich befunden. Alle Behörden sind befragt, alle Krankenanstalten besucht worden; hier ist er nicht, wenn er überhaupt noch lebt. »Was geht es mich an!« rufe ich trotzig aus oder verlache mich selbst mit dieser kindischen Grille; aber es hilft wenig, ich kann den Gedanken nicht loswerden. Das beste wird sein, daß ich mich bald von hier entferne, die Anstalten zu einer Reise und die immer wechselnden Gegenstände werden mich zerstreuen. Wann wird Virginia die Ruhe ihres Herzens wiederfinden!
[142]

Baltimore


Hier bin ich wieder, und in voller Geschäftigkeit für meinen großen Zug. Wir haben uns, in der Tat, wie zu einer Entdeckungsreise gerüstet. Humphry hat fürchterliche Vorstellungen von der Ungastlichkeit der Gegenden, wohin wir gehen, ich lasse sie ihm, weil mir beiläufig der romantische Gedanke, durch Wildnisse zu irren, ein geheimes Vergnügen macht.

Wir haben einen Wagen, mit zwei Pferden bespannt, gekauft und für den Zweck zurichten lassen. Gegen Regen und Sonne wird er durch eine Art von Zelt geschützt, welches nicht nur an den Seiten in die Höhe gewunden, sondern auch abgenommen und durch Stangen vergrößert werden kann. In diesem Wagen sitzen Corally und ich auf Sitzkasten, welche mit Decken und Wäsche angefüllt sind. Außerdem befindet sich ein großer Fächerkorb voll Lebensmittel und ein tüchtiges Flaschenfutter mit Wein und Rum, ein Bratspieß nebst dazugehörender blecherner Pfanne, sechs Teller aus Silberblech, ein kleiner kupferner Kessel, Messer, Gabeln und Löffel, einige leere Korbflaschen, einige hörnerne Becher, ein Beil, eine Matratze und ein Tragekorb auf demselben. Da hast Du unsre ganze wandernde Haushaltung. John hält uns für fürstlich ausgestattet, Humphry hätte gern noch mehr hinzugetan. Er und John befinden sich, zu unsrer Bedeckung, zu Pferde, sind mit guten Flinten bewaffnet und reichlich mit Pulver und Blei versehen; Ismael macht den Kutscher. So werden wir nun morgen, in aller Frühe, unsere Wallfahrt antreten. Ich habe mich mit einem kleinen Reiseschreibzeuge versehen und werde ein ordentliches, an Dich gerichtetes Tagebuch halten, welches Du vielleicht einst erhältst. Mir hüpft das Herz vor Freude bei dem Gedanken an diese Pilgerfahrt. Das neue, ungekannte Leben reizt mich, und ich werde diese Nacht kaum schlafen können, wie die Kinder, welchen das ganze Leben meist noch fremd ist, schon vor einer Spazierfahrt nicht schlafen. Oh, wie ist man so selig, wenn man noch Kind ist! da zieht uns[143] nur der Blumenhügel an, welchen wir erreichen können, jetzt schließen kaum die blauen Berge und das Meer mein Sehnen ein.


Den 20. Junius


Wir sind vor Tage aufgebrochen, um in der Morgenkühle zu reisen. Die Sonnenhitze in den Mittagsstunden ist jetzt unerträglich, wir werden dann an einem schattigen Orte rasten, wo Wasser in der Nähe ist und Weide für unsere Pferde. Heute trafen wir einige artige Meiereien an, wo wir uns mit herrlicher Milch und mit Eiern versahen, welche nebst dem frischen Fleisch, welches wir aus Baltimore mitgebracht hatten, eine leckere Mahlzeit gaben. Zur Nacht haben wir bei dem Hause eines Pflanzers haltgemacht. Mein Gefolge wird draußen, bei Vieh und Gerät, Corally und ich werden in dem Hause schlafen. Von hier aus möchten wir wohl nicht oft mehr ein Obdach finden; je weiter wir gegen das Gebirge kommen, desto sparsamer werden die Wohnungen, und doch habe ich diesen Weg vorgezogen, statt auf Albany zu gehen, die Gegend wird hier viel romantischer.

Die Kinder unsres Wirtes sehen mir neugierig zu, wie ich beim Schein ihres Küchenfeuers schreibe. »Was machst du da?« fragt ein kleiner Knabe. »Ich spreche mit meiner Schwester«, erwidere ich, »welche da über dem großen Wasser wohnt.« – »Mit den Fingern?« sagt er und sieht mich kopfschüttelnd an. »Ich zeichne die Worte auf dies Papier, wie du dort ein Pferd mit Kohle auf die Wand gemalt hast«, gebe ich zur Antwort. Er blickt hinein und sagt: »Du mußt an kein Pferd, an keinen Vogel, keinen Baum, kein Haus gedacht haben, ich kenne kein einziges von deinen Worten.«


Den 26. Junius


Die Landschaft wird wilder, aber unbeschreiblich schön. Wir machen nur kleine Tagereisen, um unser Vieh bei der[144] Hitze zu schonen. Bis jetzt haben wir noch immer Wohnungen angetroffen, wo wir Geflügel, Milch, Eier und Früchte kaufen konnten. Diese Nacht brachten wir zum erstenmal im Freien, am Saum eines Waldes, zu, wo ein klarer Quell uns mit vortrefflichem Wasser versorgte, und auch jetzt, indem ich dies schreibe, lagern wir am Fuß eines Berges, welcher dicht mit Ahorn und weißen Zedern bewachsen ist; hundert Schritte von uns braust ein Waldstrom durch eine Bergschlucht hinab. John und Humphry sind auf die Jagd gegangen, und Ismael dreht den Bratspieß, Corally hat Wasser geschöpft in unsern Kessel und bereitet die Lager, ich stehe der kleinen Küche vor, die Pferde weiden neben uns. Du glaubst nicht, welchen eigentümlichen Reiz dieses Nomadenleben hat, selbst für den kultivierten Menschen; ich wundre mich gar nicht, daß die Eingeborenen es nicht verlassen mögen.


Den 30. Junius


Schon seit vier Tagen irren wir in den Gebirgen umher, uns bloß nach der Sonne und den Gestirnen richtend, worauf sich John sehr gut versteht. Oft denke ich mir, wie Du Dich ängstigen würdest, Du weintest ja ehmals fast jedesmal, wenn auf unsern Spaziergängen die Turmspitze von Chaumerive sich uns versteckte, aus Furcht, Dich zu verirren. Hier sind wir deshalb ganz unbesorgt, denn diese Wildnisse sind so überraschend schön, daß man sie nie wieder verlassen möchte. Die Waldvögel über unsern Häuptern lassen ihre hundertfältigen, oft so fremden und seltsamen Stimmen hören, Erdbeeren und die Beeren anderer Rankengewächse röten den Rasen an den Abhängen der Berge, von deren Wipfeln neugierige Gazellen auf uns herniederblicken. Wir leben zum Teil von dem Ertrage der Jagd, welche hier nicht mühsam ist, da das Wild sich nicht sehr scheu und furchtsam zeigt; auch die Eier einiger Wasservögel haben wir schon häufig an sumpfigen Stellen gefunden. Ich schlafe unter dem Zelte; die[145] Nächte sind kalt, aber entzückend schön durch ihre Klarheit, und mit Vergnügen betrachte ich die neuen Sternbilder, welche ich sonst nur auf der Himmelskarte antraf. Mein Schlaf ist vortrefflich, ein wenig Rum, mit Wasser, Ei und Zucker vermischt, mein Frühstück, wenn wir, mit dem ersten Anbruch der Morgenröte, uns auf den Weg machen.


Den 5. Julius


Wir haben, auf mancherlei Umwegen, die südliche Spitze des Eriesees glücklich erreicht und müssen hier einen Rasttag halten, denn unsere Pferde sind ziemlich erschöpft. Das Land war schon in den letzten Tagereisen flach und offen. Der See gewährt einen schönen Anblick, die jenseitigen Ufer sind nur in einzelnen nebeligen Punkten bemerkbar. John hat mehrere Wasservögel geschossen, welche unsere Mahlzeiten würzen. Er späht überall nach den Wilden umher, deren Wiedersehen ihm sehr am Herzen liegt; ich selber bin auf ein solches Zusammentreffen höchst gespannt.


Den 8. Julius


Unser Wunsch wurde erfüllt. Der Zufall wollte, daß grade von dem Stamme, mit welchen John verschwistert ist, ein Trupp von sechs Männern und vier Weibern in ihren Canots über den See kam, um auf die Rehjagd zu gehen, welche hier am Fuße des Alleghany-Gebirges sehr ergiebig ist. John wurde sehr bald von ihnen als ihr Bruder erkannt, und die Freude war von beiden Seiten unbeschreiblich. Er zeigte ihnen seine Kinder, und sie erklärten, daß diese auch die ihrigen wären. Sie brachten uns mit großer Gastfreiheit die Beute ihrer Jagd zum Geschenk; wir bewirteten sie dagegen mit Rum und gekochten Speisen und teilten unsern Vorrat an Reis und Zwieback mit ihnen, unsre Männer gaben ihnen den größten Teil ihres Tabaks. Ich schmückte die Weiber mit[146] allem, was ich an Glasperlen, einfachen Ringen, Bändern und entbehrlichen Tüchern besaß; das Freundschaftsbündnis war in kurzem auf das engste geknüpft. Sie lagerten sich in unserer Nähe und geleiteten uns heute eine ganze Strecke. Der Abschied schien ihnen sehr wehe zu tun, doch trösteten sie sich mit der Hoffnung, uns bei unserer Rückkunft von dem großen Wasserfalle, wohin wir nach ihrer Meinung wallfahrten, um den Großen Geist anzubeten, wiederzusehn. Auch John war gerührt bei dem Scheiden von diesen herzlichen Kindern der Natur, und er hat mir nachher wiederholt versichert, daß, wenn er nicht Frau und Kinder daheim hätte, er der Versuchung kaum würde haben widerstehen können, mit ihnen in ihr Land zurückzukehren. Ich begreife leicht, wie anziehend diese ungebundene Lebensart für den sein muß, welcher die Sprache dieser Völker kennt und seine Bedürfnisse noch nicht zu weit über die ihrigen hinaus gesteigert hat.


Den 11. Julius


Wir sind heute zu einer mittelmäßigen Meierei gelangt, welche an den Ufern eines kleinen Flusses liegt, der sich ungefähr vier Stunden von hier in den Eriesee ergießt. Der Boden ist sehr fruchtbar, der Mais steht vortrefflich und verspricht einen fünfzigfältigen Ertrag. Obstbäume umgeben die niedere Wohnung und verstecken sie fast, alle beugen ihre Zweige unter der Last der Früchte. Kirschen, Aprikosen, Birnen, Melonen sind von ganz vorzüglicher Güte, die Pfirsich rötet sich schon, und der Zider wird gewiß ebenso trefflich und reichlich gewonnen werden als im vorigem Herbste. Wir trinken jetzt davon und werden unser fast geleertes Flaschenfutter damit füllen. Auch herrliches Gemüse gibt es hier. Kühe weiden umher, und an Geflügel fehlt es nicht. Die Natur versorgt diese glückliche Familie mit allem im Überfluß, was das physische Leben angenehm machen kann. Wöchentlich bringt der älteste Sohn des Hauses die Produkte, welche man nicht verzehren[147] kann, auf einem einspännigen Karren nach Venago, welches fünf Stunden entfernt ist. Die Familie besteht, samt den Kindern, aus neunzehn Personen, worunter zwei deutsche Knechte sich befinden, welche sich auf sechs Jahre vermietet haben; dies ist bei dem ärmern Teil der Ausgewanderten sehr gebräuchlich. Nach Ablauf der Dienstzeit erhalten sie eine Summe Geldes, Vieh, Getreide und dergleichen, um sich anzusiedeln. Bis dahin werden sie völlig zur Familie gerechnet und den Söhnen des Hauses gleich behandelt, genährt und gekleidet. Heiterkeit und Frohsinn malt sich auf allen Gesichtern der hiesigen Hausbewohner, und ich muß sie glücklich preisen in ihrer Abgeschiedenheit, welche sie gegen die tausend Plagen der Gesellschaft sicherstellt. Nur selten kehrt hier ein Reisender ein, wird aber dann auch mit der größten Gastfreundschaft empfangen, und man gedenkt seiner noch lange. Als etwas Seltenes wurde bemerkt, daß in dieser Woche schon zwei Fremde, nebst ihrem Führer, hier gewesen, welche gleichfalls nach dem Wasserfall wallfahrten. Wie es scheint, waren es Maler, denn der eine hatte die Landschaft gezeichnet und der zweiten Tochter ein kleines Stück von seiner Arbeit zum Andenken geschenkt. Das muntere Mädchen lobt deshalb ihn am meisten, während ihre ältere Schwester seinen schwermütigen Gefährten rühmt.

Wir haben uns hier mit einer großen Menge frischer Lebensmittel versehn, es ist mir aber kaum gelungen, den guten Leuten den wahren Wert aufzudringen.


Den 13. Julius


Wir sind nur noch drei Stunden vom Niagara entfernt und hören den Fall wie das Rollen eines mächtigen Donners. Schon gestern den ganzen Tag tönte sein Getöse in der Ferne, und in der Nacht hinderte es mich lange am Schlaf. Wir haben hier haltgemacht, weil ich erst morgen zur Stelle kommen will; ich habe mir dieses große Fest zu meinem Geburtstage aufgespart. Tausend Erinnerungen[148] und Gefühle werden da auf mich einstürmen an diesem merkwürdigen Tage, wo die Kraft meines Volkes hochaufschäumte, wie diese Flut die türmenden Felsen überwand und dann auch in den Abgrund fiel. Wird dieser mächtigen Welle eine zweite folgen? Es würde mir sehr unlieb sein, wenn ich morgen die beiden Reisenden dort fände, von welchen man in Woodhouse erzählte; ich wäre gern allein. Heute sahen wir in einer ziemlichen Entfernung einige menschliche Figuren auf einer Hügelspitze sitzen. Ismael, dessen Auge am weitesten trägt, behauptete, sie schrieben, wie ich es oft abends zu tun pflegte; wahrscheinlich aber zeichneten sie. Mein Herz fühlte sich zu ihnen hingezogen, so mächtig wirkt der Trieb der Geselligkeit im Menschen überall, und doch möchte ich, wie gesagt, gerade morgen nicht gern mit ihnen zusammentreffen, an einem Tage, wo ich so viel abzumachen gedenke mit meinem eigenen Herzen. Mein ganzes Leben wird mit den Bildern aller meiner Geliebten an mir vorübergehen. Hier will ich das Trauerfest feiern um meine teuern Verlorenen, und hier, wo der rohe Irokese betet zu dem Großen Geist, will auch ich zu ihm beten, daß er mich erleuchte in dem, was mir not tut. Noch immer erhält sich in mir die Ahndung, als werde hier der Wendepunkt meiner Gefühle sein, kaum werde ich schlafen können vor unruhiger Erwartung. Schon jetzt klopft mein Herz höher und schneller mein Puls – ich bin ein Kind, was wird's denn sein?

Ich muß etwas Kühlendes trinken und mit Corally schwatzen, das Schreiben erhitzt mich. Lebe wohl, Adele! Gedenke Deiner Virginia.


Den 14. Julius


O Himmel und Erde, Adele, er ist's! Wie ist die Welt so anders, anders der Mond, die Gestirne anders! Er ist's! meine Ahndung, der Unbekannte, der Geliebte, alles eins. Laß mich zu mir selbst kommen, mir schwindelt. Ich möchte[149] Dir so gern mein Glück in seiner ganzen Fülle mitteilen, wie bisher meinen Schmerz, aber meine Hand zittert. Doch nur eines Namens bedarf es, und hundertmal rufe ich ihn dem Echo der Felsen zu, das Echo antwortet, als teilte es mein Gefühl. Warum kannst Du mir nicht antworten, Adele! Auch Dir rufe ich ihn zu: »Mucius!« Ja, Mucius! die Toten kehren wieder. O könntet ihr auch wiederkehren, mein Vater, mein Emil, meine Mutter! Aber ich umfasse euch alle in dem lieben Wiedergefundenen, auch Dich, Adele; er ist mir Vater, Bruder, Freund. Auch mein Vaterland habe ich wieder, wo Mucius atmet, ist meine Welt! Mein Kopf ist wüst, ich muß einige Stunden ruhen. Das höchste Glück ist fast schwerer zu tragen als der heftigste Schmerz. Welch ein Tag, der mir zum zweitenmal mein Leben, mein Glück, das Ziel meiner Wünsche schenkte! Schlafe wohl, Adele, ich vermag nicht weiter!


Einige Tage später


Für mich gibt es keine Zeit mehr. In meiner Seligkeit vergesse ich zu zählen, wie oft die Sonne auf- und untergeht. Nur die Kranken berechnen die Stunden, und die Gefangenen zeichnen einen Unglückstag nach dem andern an die Wand ihres Kerkers auf. Gern schreibt der Unglückliche seine Leidensgeschichte, der Glückliche erzählt lieber, die Feder teilt seine Wonne zu langsam mit. Und doch muß ich schreiben, wenn Du erfahren sollst, was ich vor allem gern zu Deiner Kenntnis brächte; ich werde also oft ein Stündchen aufopfern müssen, um Dir von meinem Glücke Kenntnis zu geben, an welchem doch niemand so innigen Anteil nehmen kann als Du. Meine Erzählung wird sehr oft unterbrochen werden, da jedoch noch eine ziemliche Weile verlaufen wird, ehe Du diese Blätter erhältst, so werden die Bruchstücke sich schon nach und nach zu einem Ganzen gestalten, und so fange ich denn mit jenem wunderreichen Tage des Wiedersehns an.

Wir hatten früh den letzten Ort unseres Nachtlagers[150] verlassen und fuhren bis zum Fuße der Felsen, über welche sich der Niagara stürzt; hier ließen wir Vieh und Gerät unter Ismaels Obhut, und John führte uns auf steilen Fußpfaden bis zu einer Höhe, von welcher wir den betäubenden, jede Beschreibung übertreffenden Wassersturz übersehen konnten. Wir waren alle ergriffen von diesem einzigen Schauspiele. Donnernd stürzt sich der Strom von Fels zu Fels, himmelhoch spritzt der Schaum empor, von der Sonne durchschienen, einem Goldregen gleich; hundertfältige Regenbogen bilden sich an dem dichter herabfallenden Gewässer. Die Sprache ist zu mangelhaft, den Eindruck wiederzugeben, den das Auge kaum im ganzen aufzufassen vermag. Sprachlos standen wir lange und staunten vor uns hin, dann gab ich meiner Dienerschaft durch Winke zu verstehen, daß ich bis zu einer Abstufung des Felsens ohne Begleitung hinuntersteigen wolle, wohin ein bequemer Pfad führte und wo einige Wölbungen einen kühlen Aufenthalt zu bieten schienen; ich wollte ungestört sein. Als ich um eine Ecke bog, erblickte ich ein männliches Wesen, welches in Gedanken verloren zu sein schien, und trat zurück. Der Fremde wurde mich gewahr und machte seinerseits gleichfalls eine Bewegung, um den Ort zu verlassen, so daß wir einander nach entgegengesetzten Richtungen auswichen, oft schüchtern rückwärts sehend. Nach vielleicht hundert ungewissen Schritten traten wir beide zugleich auf eine Anhöhe hinauf und standen, Bildsäulen gleich, einander gegenüber. Welche Gestalt? Ich zitterte. Der Fremde beugte sich vorwärts, er hob die Arme. »Geben die Gräber ihre Toten zurück?« rief eine bekannte Stimme. »Mucius oder sein Geist?« fragte ich fast zu gleicher Zeit und lag in seinen Armen, verlor an seiner Brust das Bewußtsein. Als ich erwachte, befand ich mich im Schatten eines Felsenüberhanges, Mucius hielt mich umfaßt, Corally kniete zu meinen Füßen und suchte meine kalten Hände mit ihren Küssen zu erwärmen. Erhöhete Lebenskraft und Wärme kehrten durch meinen[151] ganzen Körper zurück, sobald ich die Augen aufschlug, ich blickte ja in meinen Himmel. Des Weines bedurfte ich nicht, welchen der ehrliche John herbeigeholt hatte. »Miß Virginias Bruder?« fragte Humphry etwas befremdet. »Ja, wohl Bruder, Vater und Vaterland!« rief ich und umschlang den Heißgeliebten. »Mehr, mehr«, sagte Corally mit schlauem Lächeln, und Humphry blickte zweifelnd und finster vor sich hin. Mucius bat ihn und John, sich nach seinen Gefährten umzusehen, welche tiefer gegen die Wasserwand hinabgestiegen waren, und sie hierher zu führen, Corally setzte sich schweigend hinter einen entfernten Stein. So waren wir denn allein, und die unermeßliche Seligkeit, welche uns fast den Busen zersprengte, machte sich in Tränen, Worten und Küssen Luft. Ich bin unfähig, Dir die ganze Wonne dieser ersten glücklichen Stunden zu schildern. Wir hatten nur Sinn für das ungehoffte Glück des Wiedersehens, keine andre Erinnerung trübte unsern sonnenhellen Himmel. Endlich langten unsere Führer und Mucius' Freund bei uns an; dieser war die sogenannten Indianerleitern hinuntergestiegen, um den östlichen Wasserfall recht in der Nähe zu sehen, während Mucius vorgezogen hatte, hier oben in der Einsamkeit seinen Gedanken Raum zu geben. Er wußte, es war mein Fest, und hier wollte er es in wehmütiger Erinnerung begehen. So seltsam, auf so wunderbarem Wege führte uns die liebende Vorsicht zusammen, denn nimmer kann ich es für den Glückswurf des blinden Zufalls halten.

»Virginia!« rief Mucius seinem Freunde entgegen. Der bloße Name erklärte diesem das Ganze, er stürzte sich jauchzend an Mucius' Brust. »Gebenedeiet sei die Jungfrau und alle Jungfrauen, die ihr gleichen!« rief er in toller Lustigkeit; »nun wird doch dies Auge wieder lachen und dieser Mund nicht mehr seufzen, wenn ich das Leben preise mit all seinen Launen, Tücken und Fastnachtspossen.«

Der Fremde, ein junger Maler aus Bassano im Venezianischen, welchen Mucius in Spanien kennenlernte, wo[152] er mit ihm in einem Regimente diente, wurde mir vorgestellt. Er hat ein schönes freundliches Gesicht und ist voll unerschöpflich heiterer Laune. Seine treue Freundschaft könnte den Mustern des Altertums an die Seite gesetzt werden. Das Glück seines Freundes war jetzt das seinige, er hatte ihm lange genug die Last des Daseins ertragen helfen. Das Geräusch des Falls fiel seiner Redelust beschwerlich, und wir kehrten, auf seinen Wunsch, zu meinem Fuhrwerk zurück. Hier, um ein gutes Mahl gelagert, welches Ismael bereitgehalten, erzählten die beiden Freunde sich abwechselnd ihre Schicksale in französischer Sprache, welche ihnen die geläufigste, unseren Leuten aber wenig verständlich war.

Pinelli lernte Mucius in den Tagen der Hoffnung kennen, wo dieser sich schon wieder die rosenfarbigsten Bilder der heimatlichen Zukunft schuf. Des Freundes heitere Laune erhöhete die hellen Farben des schönen Gemäldes, und beide fingen an, einander unentbehrlich zu werden. Nach einiger Zeit setzte das gänzliche Ausbleiben meiner Briefe Mucius in große Unruhe; Pinelli tröstete nach Möglichkeit. Die Kriegsvorfälle konnten leicht die Ursache sein, wie sie es denn auch wirklich waren; aber das leidenschaftliche Gemüt eines Liebenden, welcher schon so viel Trübes erfahren, fürchtet leicht das Ärgste. Am Morgen jenes Tages, als man sich zum Sturm auf eine spanische Festung anschickte, ward Mucius eines Soldaten gewahr, welchen er als Landsmann aus Aix erkannte und welcher erst vor kurzem bei dem Korps eingetroffen war. In seiner Nähe reitend, fragte er ihn, ob er den Besitzer von Chaumerive kenne. »Freilich kenne ich den guten Herren, er war sonst oft in Aix.« – »Weißt du jetzt nichts von ihm?« fragte Mucius zitternd. »Als ich durch Avignon ging«, entgegnete jener, »war ihm vor einigen Tagen die Tochter gestorben.« – »Virginia?« schrie Mucius mit Entsetzen. »Den Namen weiß ich nicht«, sagte jener, »man beklagte jedoch, ihrer Güte und Wohltätigkeit wegen, allgemein ihren frühen[153] Hintritt.« – »Lebt die Mutter noch?« stammelte Mucius. »Ich glaube nein«, sprach der Soldat. Wenige Sekunden darauf wurde der Unglückliche von einer Kanonenkugel zerschmettert. Mucius' Zustand war halbe Geisteszerrüttung. Kurz darauf wurde der Sturmmarsch geschlagen. Wie außer sich sprang Mucius vom Pferde, ergriff gewaltsam einen Adler und eilte die Brücke hinauf, aber schwankend und halb bewustlos wurde er bald von der Menge hinabgedrängt. Pinelli war, in der größten Unruhe, dem Freunde gefolgt, er sahe ihn stürzen, noch ehe er zu ihm gelangen konnte, und nur die Stimme der Freundschaft hörend, warf er sein Pferd herum und jagte am Ufer des reifenden Flusses entlang. Nach einigen Minuten sahe er Mucius auftauchen und matt mit den Wellen kämpfen, der Strom schlang ihn immer wieder in seine Strudel. Endlich blieb der schon fast Entseelte mit den Kleidern an einem Gesträuch hangen, und mit der größten Mühe gelang es dem Freunde, ihn ans Ufer zu ziehn, mit noch größerer, ihn völlig ins Leben zurückzurufen. Beide waren weiter als eine Viertelstunde von der Festung entfernt. In dieser Lage wurden sie plötzlich von einer Abteilung englischer Reiterei umringt und gefangengenommen. Mucius fühlte und begriff wenig von dem, was um ihn her vorging, er glich einem Seelenlosen, sein Freund mußte für ihn denken und handeln.

In diesem Zustande wurden sie bis Lissabon gebracht und von dort, mit mehreren Gefangenen, auf einem Transportschiffe nach England geführt. Der Kapitän schien gerührt von der tiefen Niedergeschlagenheit des einen und von der aufopfernden Freundschaft des andern und behandelte beide Freunde mit einiger Auszeichnung. Pinelli erkundigte sich oft nach dem Schicksale, welches ihnen bei ihrer Ankunft in England bevorstände. Die Antwort war allgemein, daß sie, wie alle Subalternen, nebst den Soldaten auf die Gefangenenschiffe gebracht werden würden. Er hatte von diesen Wassergefängnissen eine so furchtbare[154] Vorstellung, daß er Tag und Nacht darauf sann, sich und seinen Freund diesem Elende zu entziehen. Das Glück, oder das Schicksal, erleichterte sein Vorhaben. Die Hitze, oder die Hand eines Frevlers, sprengte nach wenigen Tagen die beiden größten Wasserfässer des Fahrzeuges, zugleich trennte ein Windstoß dasselbe von der Konvoi und trieb es gegen die französische Küste. In dieser Verlegenheit zog der Kapitän die amerikanische Flagge auf und ging auf der Reede von La Rochelle vor Anker, wo eben kein französisches Fahrzeug von Bedeutung lag, sich aber zwei amerikanische Fregatten befanden.

Man hielt sich soweit als möglich von den Batterien entfernt und schickte die Schaluppe ans Land, um einen Vorrat von Wasser einzunehmen. Die Amerikaner kümmerten sich wenig um die Ankömmlinge, sondern waren beschäftigt, die Anker zu lichten und die Segel beizusetzen, um mit dem eben umsetzenden Winde in See zu gehen. Der Mond war aufgegangen und erhellte wechselnd den wolkigen Himmel; die Freunde waren auf dem Verdeck und betrachteten das eilende Gewölk. Da blitzte in Pinellis Seele ein Gedanke an Rettung auf. Unvermerkt ergriff er ein daliegendes Tau, schlang es um seinen Freund und stürzte sich mutig mit ihm über Bord. Die Wellen schlugen hoch auf, der kühne Schwimmer arbeitete sich jedoch mächtig empor und zog den Gefährten mit sich, welcher sich bald begriff und ebenfalls seine Kräfte anstrengte, ihm zu folgen. Gewölk verdunkelte den Mond, und man ward die Schwimmer vom Schiffe aus nicht gewahr. Sie nahmen ihre Richtung den absegelnden Fregatten zu, welche sie auch bald erreichten und von welchen sie, bei einem aufblitzenden Lichtstrahle, bemerkt wurden. Man warf ihnen ein Tau zu und brachte sie glücklich an Bord. Hier gaben sie Kunde von ihrem Schicksal und von der falschen Flagge des Engländers, ihre Rettung war vollendet. Die Fregatte war in wenigen Minuten außer dem Gesichte des Schiffes, welches ohnehin an kein Verfolgen denken konnte.[155] Die Fahrt ging gerade auf Boston, wo man ohne alle Abenteuer einlief. Die beiden Freunde waren hinreichend mit Golde versehen, und man richtete sich genügsam ein. Pinellis froher Mut und seine Lebenslust halfen dem schwermütigen Mucius tragen. Er brachte, zu seiner Zerstreuung, eine Reise ins Innere in Vorschlag und zu den Denkmälern der Vorzeit am Ohio, zu den Wildenvölkern am Missouri, und wirklich hatte diese Reise einen günstigen Einfluß auf Mucius' gramvolles Gemüt. Noch jetzt spricht er mit Entzücken von der Schönheit der südlichen Provinzen, verliert sich noch in philosophische Betrachtungen über den Urzustand dieses Weltteils, über die untergegangene Kultur dieser zersprengten Stämme. Nach fast zwei Jahren kehrten die Pilger nach Boston zurück, ihre Barschaft war indessen sehr verringert. Pinelli suchte seine Kunst, mit vielem Glück, geltend zu machen. Er führte die auf der Reise entworfenen Landschaften mit großem Fleiße aus und fand Käufer zu ihnen. Auch die Porträtmalerei übte er wieder, und man war entzückt von dem eigentümlichen Charakter und der Idealisierung, welche er seinen Physiognomien, bei aller Ähnlichkeit, zu geben wußte. Mucius beförderte seine Reise, mit seinen Altertumsforschungen, zum Druck und gab daneben Unterricht in alten Sprachen. Mitten unter diesen Beschäftigungen erhielten sie die Nachricht von den großen Umwälzungen im Vaterlande, welche ihnen für immer den Wunsch zur Rückkehr benahmen. Sie betrachteten nunmehr das fremde, freie Amerika als ihre Heimat und eilten, zu seiner Verteidigung die Waffen zu ergreifen, als es von den Engländern in seinem Innern bedroht wurde. In Baltimore hatte Mucius wirklich im Hause des Herrn Davson gewohnt, wie mein ahndendes Herz es mir damals sagte. Mistreß Davson fühlte sich von der sanften, freundlichen Schwermut ergriffen, welche den schönen jungen Mann so anziehend machte. Herr Davson fing nach und nach an, Eifersucht zu hegen, welches die Freunde veranlaßte, bald nach ihrer[156] Rückkehr aus der Gegend von Washington eine Reise zu den Wasserfällen zu unternehmen. Sie durchstrichen lange die umliegenden Gegenden. Mucius konnte sich nicht wieder losreißen von dieser wildromantischen Natur, und hier, wo er nur Nahrung für seinen Schmerz suchte, fand er die Heilung desselben.


Laut dankte ich Gott, nach Endigung jener Erzählung, für seine väterliche Führung; nächst ihm dem treuen Pinelli, denn ohne ihn, den Schutzgeist meines Mucius, hätte ich diesen nicht wiedergesehen. Oh, wie unendlich teuer muß dieser neue Freund mir sein! Aber auch ohne diese Rücksicht muß man den Mann liebgewinnen. Er lebt nur für seine Freunde und hegt ein gefühlvolles Herz für die ganze Welt. Seine gute Laune ist unerschöpflich, jeder Unannehmlichkeit weiß er eine heitere Seite abzugewinnen. Von unserer Reisegesellschaft wird er allgemein geliebt. Er unterhält sich mit Humphry, läßt sich von ihm über Amerika belehren und bewundert seine Kenntnisse; John muß ihm von den wilden Stämmen erzählen, und er schüttelt ihm treuherzig die Hand; den ehrlichen Ismael umarmt er und sagt der kleinen Corally tausend schmeichelhafte Dinge. Er will damit niemand gewinnen, es ist der notwendige Ausdruck seines heiteren Herzens, seiner warmen Menschenliebe, aber er nimmt jedermann ein. Mucius, bloß mit seiner Liebe beschäftigt, hat in dem Herzen unserer Reisegefährten nur den zweiten Rang, ja in Humphrys Augen begegne ich sogar zuweilen einem zweideutigen, vorwurfsvollen Blicke. Er ist wohl, nach und nach, von seinem ersten Gedanken zu Corallys Voraussetzung übergegangen, und dies muß dem ehrlichen Kerl wehe tun, welcher sich gewöhnt hatte, mich im stillen als die Braut seines Herrn zu betrachten. Sein stummer Vorwurf erinnert mich oft mit einiger Ängstlichkeit an Ellison, welcher jetzt meinetwegen die Meere durchkreuzt. Was wird der gute William sagen, wenn er zurückkehrt? Zwar spricht[157] mein Gewissen mich frei, ich habe ihn nicht getäuscht, aber ich habe nicht jede Hoffnung in ihm niedergeschlagen und werfe mir jetzt fast die kleinste freundschaftliche Äußerung vor, welche mein dankbares Herz für ihn gezeigt hat; auch fürchte ich die unangenehmen Empfindungen seiner Familie, deren Güte ich mit getäuschter Hoffnung lohnen muß. Mein Glück wird nicht eher ganz rein sein, als bis bei diesen guten Menschen wieder Zufriedenheit herrscht. Mucius nimmt die Sache leichter, wie wohl meistens die Männer. »Konnte William die Vergänglichkeit der Liebe hoffen?« spricht er, »begriff er das Herz meiner Virginia so wenig? kennt er über haupt wohl die wahre Liebe? Wer die frühere Neigung eines anderen zu überwinden hofft, muß auch auf die Überwindlichkeit der seinigen schließen. Und seine Eltern? Du lohnst ihnen Gastfreundschaft mit Dankbarkeit und kannst jeden Aufwand vergüten, welch ein Recht haben sie zu höheren Forderungen?« Wenn der Geliebte so tröstend spricht, kann meine Vernunft nichts dagegen einwenden, aber mein Herz hört doch nicht auf, etwas ängstlich zu schlagen, und ich sehe es recht gern, daß unsere Reise sich noch länger verzögert.


Wir sind bis zum Fort Niagara in kurzen Tagereisen, meist zu Fuß, gelangt. Hier haben sich Mucius und Pinelli beritten gemacht, ihren Führer verabschiedet und neue Lebensmittel eingehandelt. Dann sind wir bis zum See Ontario hinaufgezogen und haben auf mehreren herrlichen Pflanzungen verweilt. Heute sind wir bis Woodhouse zurückgekehrt, wo wir mit lauter Freude empfangen wurden und, auf inständiges Bitten der Familie, zwei Rasttage halten werden. Diese einzelnen Niederlassungen haben einen unbeschreiblichen Reiz für uns, besonders für Mucius, welcher sich, seit den neuesten Umwälzungen in unserem Vaterlande, mit dem Zeitgeiste von Europa entzweiet hat. Schon malen wir uns, mit wahrer Liebe, das Bild einer einsamen Kolonie aus, welche bei aller Geisteskultur der[158] gebildeten Welt doch die ganze Einfachheit der Sitten des Goldenen Zeitalters bewahrt. Pinelli ist unerschöpflich an neuen Einfällen und Entwürfen für diesen unsern Lieblingsgedanken, welcher leicht in Wirklichkeit verwandelt werden könnte, wenn wir noch einige gleichgestimmte Menschen träfen.

Wir begleiten hier die jüngeren Mitglieder der Familie bei ihren leichten Arbeiten. Heute abend gab uns der gute Vater vom Hause einen ländlichen Ball, wobei er die Geige mit vieler Leichtigkeit spielte. Wir tanzten sämtlich auf einem kurzen, ebenen Rasen mit gleicher, herzlicher Fröhlichkeit. Rümpfe nur das Näschen immer ein wenig, liebe Adele, über die Art unsrer Vergnügungen, ich ziehe sie euren glänzenden Hofbällen weit vor. Welch ein seliges Gefühl für mich, nichts als Mensch zu sein! Ich bin nicht mehr die Gräfin Montorin, ich bin auf ewig nur Virginia.


Philadelphia


Ich habe Dir lange nicht geschrieben, meine Adele. Desto öfter denke ich an Dich und spreche von Dir, und unsere Freundschaft leidet nicht darunter, daß Du nicht mehr meines Busens einzige Vertraute bist. Gewiß, Du freuest Dich mit Deiner sonst so verlassenen und jetzt so glücklichen, so überreichen Virginia.

Wir sind hier, nach einigen Umwegen, glücklich angekommen. Mucius und Pinelli haben eine Wohnung gemietet, und ich würde gern ein Gleiches getan haben, hätte ich nicht Ellisons dadurch noch mehr zu kränken geglaubt. Es gibt hier im Hause veränderte Gesichter, vorzüglich von seiten der Mutter, welche meine offene Erzählung mit einem ungläubigen Kopfschütteln anhörte und mit spitzen Anmerkungen begleitete. Sie hält die Begebenheit für eine offenbare Fabel und Reise und Zusammentreffen für einen heimlich verabredeten Plan, das schmerzt mich tief. Wäre nur erst William hier; was wird er dazu sagen? wird er[159] seiner Freundin mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen? Hätte ich doch erst hierüber Gewißheit! Nur Philippine ist die alte. Sie warf sich mir, mit einem Freudengeschrei, in die Arme; und als ich ihr Mucius vorstellte, hüpfte sie diesem mit kindlicher Fröhlichkeit entgegen und schüttelte ihm freundlich die Hand. Dieser findet das Mädchen so liebenswürdig als ich, und Pinelli schwört bei allen seinen mythologischen Göttern, sie sei die jüngste der Grazien. Ich fürchte sehr, er wird künftig keine andere Gestalten mehr malen wollen als ihren Nymphenwuchs und ihr liebliches griechisches Profil; auch Philippinchen sieht den muntern Jüngling gern. »Es ist ein lieber Mensch«, sagt sie ganz offen und ohne Erröten, »man sieht ihm durch die klaren Augen bis in die Seele hinein.« Nun, wer weiß, was mir auch von dieser Seite für Glück erblüht, wenn mein eigenes Schicksal nur erst entschieden sein wird.


Ein Brief von Dir, Adele, und von London? Welche Neuigkeiten, welche unerwarteten Begebenheiten! Du Arme wieder geflüchtet, wieder heimatlos? Welch ein prophetischer Geist sprach aus mir, als ich sagte, Du ständest auf einem glimmenden Vulkane!

So habe ich mich doch nicht getäuscht über die Gesinnungen meiner Landsleute; denn, was man auch sagen mag und wird, mit einigen hundert Mann erobert man kein Reich in wenigen Tagen. Auch werden die Geschichtsforscher künftiger Jahrhunderte schließen: daß, wer einen Thron zum zweiten Male besteigen konnte, bloß durch die Macht seines Namens und die Liebe seines Volkes, dieses Thrones nicht ganz unwürdig sein könne; Millionen irren nicht leicht über ihr Interesse und ihre Neigung. Wird aber der wiederauftretende Held dem allgemeinen Sturme widerstehen können, welcher sich sogleich in seiner Nähe erheben muß, ehe seine Stellung noch Festigkeit gewinnt? Ich zweifle sehr und beklage das unglückliche Frankreich.[160] Hier ist man mit den Neuigkeiten sehr zufrieden, England wird dadurch wieder in Europa beschäftigt und läßt uns in Frieden. Ich sage uns; denn welches auch immer Frankreichs Schicksal sein mag, ich kehre nimmer dahin zurück! Hier ist nunmehr mein Vaterland! mit ihm, dem Lande der Freiheit, kann sich kein europäischer Staat messen, wo dieses große Wort bedeutungslos ist. Alles, was Du mir übrigens schreibst, macht mir große Freude. Du liebst mich noch, das ist die Hauptsache. Du hast meinen Brief aus Marseille erhalten, auch den, welchen ich einem Kauffahrer am Ausfluß des Delaware mitgab, und hast Dich über mein Schicksal beruhigt. Deine gute Mutter zürnt mir nicht und hat Dir erlaubt, mir von London aus zu schreiben. Das ist viel! fast mehr, als ich hoffte. Möge doch Dein Vater lebenslang dieses strenge Stillschweigen über mich beobachten, ich werde ihn niemals an mein Dasein erinnern. Man denkt auf eine Heirat für Dich? Möge die Wahl glücklich sein, mögest Du so glücklich werden, als ich zu sein hoffe. Du gibst mir doppelte Adresse, unter welcher ich Dir schreiben soll. Das macht mir unbeschreibliche Freude, und ich danke Dir tausendmal für diese Maßregel. Nun scheint es mir, als wären wir gar nicht getrennt, höchstens nur durch Meilen, durch einige Berge, einige Flüsse. Was ist es denn mehr? Ein Schnellsegler kann Dir meine Gedanken in wenigen Wochen überbringen, und ebensoschnell kann ich Deine Antwort erhalten! Mucius grüßt Dich aufs herzlichste. Er liebt Dich in dem Bilde, welches ich ihm, immer von neuem, von Dir entwerfen muß und wozu ich jetzt oft einige Ähnlichkeiten von Philippinen borge, welche Dir wirklich, in manchen Stücken, verglichen werden kann. Auch sind es diese Ähnlichkeiten, welche mich zuerst zu dem lieben Mädchen hinzogen.


Wir leben hier ein seliges, obwohl erwartungsvolles Leben und sehnen uns von allen Seiten nach Williams Ankunft, die Mutter, weil sie für ihn fürchtet, wir andern,[161] weil wir auf ihn hoffen. Gewiß wird seine Gegenwart die Spannung lösen, welche man jetzt nur zu verbergen sucht. Philippine und Pinelli scheinen heimlich auf seine Verwendung zu rechnen. Ihre Wünsche stehn leserlich in ihren Mienen geschrieben, aber die Eltern geben sich das Ansehn, sie nicht zu verstehen; zu reden wagt niemand, Philippine ist stumm, aus Schüchternheit, wir Fremden schweigen, aus Mangel an Recht. – Die Freunde haben die Bekanntschaft zweier trefflichen Männer gemacht, eines Schweizers und eines Deutschen namens Stauffach und Walter, und auch diese bei uns eingeführt; beide gefallen uns sehr. Der erste ist ein junger Apotheker, welcher aus leidenschaftlicher Liebe zur Gewächskunde einen großen Teil der südlichen Provinzen bis Mexiko durchwandert hat; der zweite stammt aus einer hannöverischen Familie und studierte in Hofwyl die Landwirtschaft, wo er mit Stauffach bekannt wurde. Seine Mutter gewann einst in einer englischen Lotterie ansehnliche, aber wüste Ländereien am Ohio. Bei der Entfernung und dem langen Kriege waren alle Nachforschungen fruchtlos. Man nannte die Besitzungen scherzend die Güter im Monde. Der Vater war tot, der Bruder blieb im Kriege, die Mutter folgte ihren Lieben in kurzem nach und hinterließ ihrem jüngsten Sohne ein kleines Vermögen nebst den Urkunden über die amerikanischen Ländereien. Walter hatte keine nahen Verwandten und keine lockenden Aussichten in den bedrängten Ländern der Alten Welt, daher nahm er sein ganzes Eigentum zusammen und folgte seinem schweizerischen Freunde lustig in die Neue. Er wurde der unzertrennliche Gefährte seiner Wanderungen und durchstreifte auf diesen auch seine Besitzungen. Ihre Lage und ihr ergiebiger Boden entzückten ihn. Sie wurden, unter Aufsicht der Ohio-Gesellschaft, verwaltet, doch nur äußerst nachlässig, da sich kein Eigentümer meldete; kaum der fünfzigste Teil war urbar, und dennoch fand er diesen schon hinreichend, seinen Unterhalt zu sichern. Er eilte, sich als[162] rechtmäßigen Besitzer auszuweisen, und denkt jetzt darauf, sich in den Stand zu setzen, dort angenehm und bequem zu leben. Diese Angelegenheit ist eine Hauptunterhaltung der jungen Männer, woran auch ich immer mehr teilnehme. Der Italiener nennt den jungen Mann scherzend bald Fürst Walter, bald Walter Robinson, Stauffach und Mucius nennen ihn nur den Penn von Kentucky.


Einige Wochen später


Große Freude! gedrängte Neuigkeiten und Begebenheiten! Was soll ich Dir zuerst erzählen? und in welcher Reihefolge? Doch mit dem, was das Herz beschäftigt, fange ich an. William ist angekommen, und ich habe Deine lieben Briefe erhalten. William ist hier, und ich atme aus voller leichter Brust. Als die Nachricht aus dem Hafen einlief, der »Washington« gehe vor Anker, erblaßten wir alle, und mein Herz schlug kaum hörbar. Doch als der edle Mensch, mit seiner festen Haltung, ins Zimmer trat und sein freundliches, Zutrauen forderndes Auge auf mich warf, da war plötzlich meine Ängstlichkeit verschwunden, und ich eilte ihm mit schwesterlicher Zärtlichkeit entgegen. Er bewillkommte mich mit seiner alten Herzlichkeit; sein Blick ruhete lange auf mir und überflog dann die kleine Versammlung. »Ich finde Sie so glücklich wieder«, sagte er, »wie meine Freundschaft es nur wünschen konnte; Ihre Gesundheit scheint auf Ihrer Reise viel blühender geworden, und der Kreis Ihrer Freunde hat sich angenehm vermehrt.« – »Ich habe den ältesten wiedergefunden«, erwiderte ich, und in demselben Augenblicke warf sich Mucius an seine Brust und bat mit seiner rührenden schönen Stimme: »O lassen Sie mich auch der ihrige werden, edler Mann.« William war betroffen, aber bald fragte er: »Mucius?« –

»Er ist's! mein verlorener, wiedergefundener Mucius«, rief ich. Er blickte von ihm auf mich; ein leichter Krampf zuckte um seinen Mund, und eine Blässe überflog plötzlich[163] sein Gesicht, doch mit schnellem Übergange schoß der gehemmte Blutstrom verdoppelt in seine Wangen; er schloß uns beide zugleich, mit Heftigkeit, in seine Arme und rief: »Willkommen an dem Herzen eures Bruders!« Dann grüßte er die übrigen und beantwortete die Fragen seines Vaters mit der gewohnten Klarheit und Ruhe. Die Mutter betrachtete ihn oft unvermerkt von der Seite und schüttelte heimlich den Kopf, doch schien auch sie froh, daß der gefürchtete Augenblick vorüber war. Nun ging es an ein Erzählen und Erkundigen, daß die Mitternacht ganz unbemerkt über unsre Versammlung hereinbrach. Im ganzen hörten Mucius und ich nichts Unerwartetes. Daß ein einziger Schlag entscheiden würde, hatten wir freilich nicht voraussehn können; wenn es aber doch so enden mußte, so war es gut für Frankreich, daß es schnell endete. Der Held des Trauerspiels wird hier sehr verschieden beurteilt. Bei Extremen, denke ich, liegt die Wahrheit ziemlich in der Mitte, die Zeit, das Endurteil zu sprechen, ist noch und lange nicht erschienen. Der Ort seines künftigen Aufenthalts interessiert mich sehr, ich kenne die glückliche Insel. Oh, könnte ich ihm meine Ruhe geben, er würde dort glücklich leben! Freilich macht der Gedanke, gefangen zu sein, eine Änderung; aber auch in Fesseln ist der Weise frei, und ein königlicher Gefangener gebietet seinen Wächtern.


Wie sehr die neuesten Begebenheiten Europa erschüttern, davon spürt man hier besonders die Wirkungen an dem Heere der Ausgewanderten, welche in den hiesigen Häfen landen. Wie die Möwen beim drohenden Sturme an das Ufer eilen, so verlassen die Menschen den gärenden Weltteil und fliehen zu unseren Friedensküsten. Auch Ellisons Schiff hat interessante Flüchtlinge an Bord genommen, während es in einem niederländischen Hafen ankerte; einen deutschen Mechaniker namens Frank nebst Frau und zwei Schwestern, einen Baumeister aus Verona, einen[164] florentinischen Arzt mit seiner Schwester und einen niederländischen Kunstgärtner mit seiner Frau, sämtlich gebildete Menschen, jung und lebensfroh, welche hier ein besseres Fortkommen und ein freieres Dasein suchen. Die lange Reise hat sie mit William eng befreundet, welchem besonders die Mädchen mit unschuldiger Freundlichkeit entgegenkommen. Er zeichnet darunter die jüngste der deutschen, mit einigem Wohlgefallen, aus. Philippine ist innig vergnügt über diesen Zuwachs unserer weiblichen Gesellschaft und macht die Wirtin mit so vieler Anmut, daß die Fremden sich schon ganz einheimisch finden.


Seit gestern abend ist unser munterer Kreis etwas verstört durch die Unpäßlichkeit des Vaters Ellison. Die Symptome sind bedenklich, unser Florentiner fürchtet das gelbe Fieber und ermahnt uns alle, einen andern Aufenthalt zu wählen, er selbst weicht nicht von dem Kranken, hat aber um den Beistand des Hausarztes gebeten. Die Gesellschaft versammelt sich jetzt auf dem Landhause. Ich werde die Nacht in der Stadt zubringen, um Philippinen abzulösen, welche, nebst der Mutter, die vorige Nacht durchwacht hat. Mucius und William wollten mich daran verhindern, ich stellte ihnen aber vor, wie oft der eine den Schlacht-, der andere den Seesturm bestanden, mit fester Treue in ihrem Beruf. »Des Weibes Beruf ist, am Krankenbette Pflege zu leisten«, setzte ich hinzu.


Die Lage wird gefährlicher. Das gelbe Fieber ist nicht mehr zu bezweifeln; auch die Mutter hütet das Bett. Das Haus ist gesperrt, die Gemeinschaft mit dem Landhause ist gänzlich aufgehoben, wozu ich freiwillig das meiste beigetragen habe. Wie könnte ich Mucius, Philippine und William in Gefahr wissen! Ich habe den ersteren in einigen Zeilen beschworen, die Geschwister mit Gewalt zurückzuhalten, wie es selbst die Eltern wünschen; über mich mag die Vorsicht walten. Sollte mich die Krankheit ergreifen,[165] so konnte dies schon bei der ersten Nachtwache geschehen; aber ich hoffe auf meinen Mut und vernachlässige keines der Mittel, welche mir Salvito, der Florentiner, empfiehlt. Dieser hält treulich mit mir aus. Das Studium seiner Kunst verdrängt bei ihm jede andere Rücksicht; mich beseelt Dankbarkeit und Freundschaft, ich kann die guten Alten nicht unter fremden, bezahlten Wärtern wissen und teile meine Pflege zwischen ihnen. Ihr zufriedenes Winken, sooft sie zum Bewußtsein kommen, lohnt mir dafür.


Es ist vorüber. Dieses Übel endet schnell. Armer William! arme Philippine! verwaist, ganz verwaist! mein Herz blutet mit. Ach, ich habe ihren Schmerz empfunden! Sie sind um vieles glücklicher, als ich es war, sie trauern gemeinschaftlich.

Noch immer bin ich die Schaffnerin dieses verödeten Hauses, welches kein fremder Fuß zu betreten wagt. Heute, in der Stille der Mitternacht, werden Salvito und ich die dichtverschlossenen Särge der verstorbenen Gatten zur Gruft geleiten. Verhüllte, scheue Leichenträger werden die einzigen Begleiter sein und John, der treue John, welchen nichts abhalten konnte, seinen Wohltäter noch einmal zu sehen. William hat auch zu uns gewollt, aber man hat es verhindert. Philippine liegt krank, wie mir John sagt, Gott verhüte, daß sie schon von dieser fürchterlichen Krankheit ergriffen ist, deren Ausbreitung die Gesundheitspolizei, mit großer Wachsamkeit, zu verhindern strebt. Morgen werden wir auf dem Hofe des Hauses das sämtliche Mobiliar, mit Wäsche und Kleidungsstücken, verbrennen. Ich werde ein Bad nehmen und mich unmittelbar darauf in frische Wäsche und Kleider hüllen, welche man mir von außen reichen wird. Dann verlasse ich dies traurige Haus des Todes, um wieder aufzuleben in den Armen der Liebe und den leidenden Freunden beizustehn; Salvito und John werden mich begleiten.
[166]

Vom Landhause, nach 14 Tagen


Alles ist glücklich überstanden. Trotz der beobachteten Vorsicht war ich doch nicht ohne Besorgnis für meine Lieben und näherte mich ihnen, nur auf einem weiten Umwege, längs den Ufern des Delaware. Aber wir sind sämtlich gesund geblieben, und Philippinens Krankheit war nur eine Wirkung ihres bewegten Gemüts, über welches die Zeit und des Freundes Trost schon einige Macht gewinnen. Wir trauern gemeinschaftlich über den Tod des gastfreundlichen Paares, dessen kleine Schwächen mit der irdischen Hülle abgelegt wurden. Glücklich preisen wir ihr Los, daß sie, nach langer Vereinigung, fast zugleich und so schnell die Erde verließen. Jeder von uns wünscht, so dereinst mit dem Gefährten seines Lebens, Hand in Hand, die große Reise anzutreten.


Wir haben uns hier förmlich miteinander eingerichtet, eine kleine freundliche Kolonie, und es ist uns ganz undenkbar, uns wieder voneinander zu trennen. Der Plan, mit Walter an den Ohio zu ziehen, gewinnt immer mehr Festigkeit; selbst Ellison will sein und seiner Schwester Vermögen aus der Handlung nehmen und uns begleiten. Die Männer gedenken noch in diesem Herbst eine Reise dahin zu machen und das Nötige zu ordnen. Wir zärtlichen Dulzineen werden ihre Rückkunft mit Sehnsucht erwarten, denn unsre Herzen stehen sämtlich unter Amors Macht, und der Frühling wird mehr als ein Eheband knüpfen. Philippine und Pinelli werden Mucius und mich zum Altar begleiten, wahrscheinlich auch William und die sanfte Marie Frank; Salvito wirbt um Therese Frank, und Antonio, der Veroneser, scheint die schöne Florentinerin Rosalva zu lieben. Noch ein liebendes Paar ist, seit einigen Tagen, zu uns gekommen: Dupont, ein Franzose, ist mit seiner jungen Braut hierher geflüchtet, um ein Bündnis zu schließen, dem in ihrer Heimat große Hindernisse im Wege standen. Er ist Protestant, und die beginnenden Verfolgungen[167] seiner Glaubensgenossen drohten ihn auf immer von seiner katholischen Geliebten zu trennen. Welch ein Verein von jungen, muntern Kolonisten! Noch nie ist wohl ein kleiner Staat unter so günstigen Vorbedeutungen gegründet worden.


Die kühlere Herbstluft hat den Fieberstoff zersetzt, und die Besorgnis einer allgemeinen Ansteckung ist verschwunden, es zeigt sich keine Spur mehr davon. Unsre Geliebten sind abgereist, von John und seinen Söhnen begleitet, Humphry ist zu unsrem Schutze hiergeblieben. Wir verlassenen Frauen vertreiben uns die Zeit, so gut es sich tun läßt; wir gehen und fahren aus, machen Musik und arbeiten. An Stoff zur Unterhaltung fehlt es uns nicht. Die furchtsamen Weibchen zittern vor den Gefahren, welche ihre Männer in dem wüsten Lande treffen könnten, und nehmen mit ihren tausend Fragen ihre Zuflucht zu mir, ich bin ihre Heldin, die allen Mut zuspricht. Ich darf reden, meinen sie, denn ich habe ja die Gebirge durchreist, habe die Wasserfälle gesehen und die Wilden, Gazellen und Wölfe, ja selbst in einiger Entfernung einen Bären, und ich lebe noch. Was noch mehr, ich sehne mich in die Urwälder zurück, in die Freiheit des Goldenen Zeitalters. Meine Beredsamkeit reißt alles mit sich fort; man wünscht die Zeit herbei, wo der Völkerzug beginnen soll, unfehlbar geschieht dies in den ersten Frühlingstagen.


Es scheint, als ob wir auch noch ganz junge Kolonisten mitnehmen sollten. Die junge Frank und Vanhusens niedliches Weibchen sind guter Hoffnung. Wir Mädchen haben uns vereinigt, den kleinen Ankömmlingen eine förmliche Aussteuer zu bereiten, und da ist denn ein Wetteifer im Sticken, Stricken und Nähen, daß es eine Lust ist, unsern emsigen Zirkel zu sehen, welcher sich um den flammenden Kamin bildet oder um den dampfenden Teetisch. Hin und her gaukelt das freundliche Kosen, manch[168] neckendes Wort von den Lippen der schalkhaften Weibchen rötet die Wangen der Mädchen. Zephyrine, meine junge, muntre Landsmännin, vergilt ihnen Arges mit Argem und überflügelt sie oft mit ihrem Witz. Dies liebliche Mädchen hat die Neigung aller im vorzüglichen Maße. Sie nennt sich selbst unser verzogenes Kind, spielt tausend kleine Eulenspiegelstreiche, und wir lieben sie darum nur desto mehr. Sie gleicht ihrem Namensbruder, dem Westwinde, der unter Blumen spielt und Balsamdüfte stiehlt und gibt.


Freude über Freude! Unsre Ritter sind glücklich zurückgekehrt und haben die frohesten Nachrichten mitgebracht; alles ist vortrefflich gefunden worden. Ellison und Mucius haben noch einen großen Bezirk hinzugekauft, wovon der kultivierte Teil mit Walters Erbschaft zusammenhangt. John und seine Söhne sind zurückgeblieben, um über die Arbeiter die Aufsicht zu führen, wozu Walter Tagelöhner aus Louisville gedungen hat. Unser Baumeister hat die Risse zu den vorläufigen Gebäuden entworfen, und auch diese werden wir, durch den Fleiß reichlich bezahlter Handwerker, fertig finden. Dann aber werden wir aller Außenhülfe entsagen, und die junge Kolonie wird für ihre Bedürfnisse selbst sorgen. Hierzu werden alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Alles ist voll Leben und Tätigkeit, wir alle sind nur von einem großen Gedanken begeistert. Mucius entwirft den Plan zu einem kleinen Staate, in welchem Freiheit und Gleichheit verwirklicht werden sollen; jeder Abschnitt des Entwurfs wird der Generalversammlung, in welcher auch wir Weiber eine halbe Stimme haben, vorgelegt und, nach Stimmenmehrheit, angenommen oder abgeändert, und ich denke, es wird eine Verfassung zustande kommen, woran mehrere Menschenalter nichts zu flicken finden werden. Ewig ist am Ende nichts, selbst das Sonnensystem bekommt nach Jahrtausenden einen andern Polarstern.[169]

Unsre jungen Weibchen sind von zwei muntern Knaben entbunden worden. Wir werden den Tag, an welchem ihnen Namen beigelegt werden sollen, mit der Vermählung sämtlicher Paare feiern und erwarten dazu nur die gänzliche Wiederherstellung der Mütter. Auch wir haben manches zu beschicken für den neuen Haushalt, welcher zwar sehr einfach, aber doch äußerst bequem eingerichtet wird; selbst unsre Kleidung wird gänzlich umgestaltet.

Der Mechanikus ist beschäftiget, unter den erfundenen Maschinen die zweckmäßigsten zu wählen; denn in einer jungen Kolonie allein ist es von unbestrittenem Vorteil, Menschenkraft und Hände zu ersparen. Es wird jetzt von nichts gesprochen als von Säemaschinen, Dreschmaschinen, Spinnmaschinen, Webemaschinen usw. Auf der andern Seite zieht Walter Erkundigungen ein, wo die besten Arten des Rindviehes, der Schafe usw. zu haben sind. Vanhusen handelt Sämereien, Setzbäume und Pfropfreiser ein. Johns ganze Familie (meine Corally ist verheiratet) nebst noch zwei Schwägern und ihren Kindern rüsten sich zum Aufbruch und werden uns begleiten, sechzehn Neger und Negerinnen, die Kinder ungerechnet. Sie werden ein Dörfchen in der Nähe des unsrigen beziehen und uns beim Feldbau zur Hand gehen, auf welchen sich die meisten vollkommen verstehn. Daneben werden sie hinreichende Ländereien und Vieh erhalten und überhaupt so gesetzt werden, daß sie, als wohlhabende Grundbesitzer, fast uns gleich leben können. Unter den scharenweise ankommenden deutschen Ausgewanderten haben Walter und Frank zehn tüchtige und wackere Handwerker ausgewählt, welche mit ihren Familien gleichfalls ein Dorf in unsrer Nähe, Landeigentum und vorteilhafte Bedingungen erhalten. Mit ihnen sowohl als mit den Negern sind Verträge auf zehn Jahre geschlossen, und ich hoffe, sie werden, nach ihrem Ablaufe, von beiden Seiten gern verlängert werden.[170]

Schon scheint die Sonne wärmend auf das junge Jahr, die Tulpenbäume in unsren Gärten treiben mit den Tulpen der Beete um die Wette, und die geselligen Sangvögel kehren aus den wärmeren Zonen unter unsre Zederngebüsche zurück. Morgen ist die große Feier der Hymenäen; morgen vereint mich ein öffentlicher Schwur auf ewig mit meinem Mucius. Oh, könntest Du uns heute sehen, an diesem Tage der seligen Vorfeier! Jedes Auge glänzt noch einmal so hell, jede Rede klingt gleich einer Jubelhymne. Die ganze Versammlung scheint ein wenig närrisch. Pinelli und Philippine, Dupont und Zephyrine, Salvito und Therese tanzen um die Wette, Antonio und Rosalva verstecken und suchen sich durch alle Lauben, während William und seine sanfte Marie, Walter und sein Freund, der Schweizer, mit einem Paar schöner Mädchen, den Jugendgespielinnen Philippinens, sich, innerer Seligkeit voll, die Hände drücken und schweigend in die blauen Augen schauen. Von mir und Mucius müßte ich eigentlich auch sprechen, meinst Du? Je nun, liebe Adele, uns wird unser Schellenkäppchen auch nicht fehlen, wir bemühen uns nur, es mit Anstande zu tragen, wie es so alten Liebesleuten geziemt. Die Stürme des Schicksals haben ihr mögliches getan, einen Teil des Blütenstaubes von den Schmetterlingsflügeln unsrer Liebesgötter abzustreifen; an dem Lächeln der Ehepaare sehe ich jedoch, daß die losen Buben überall hervorgucken. O könntest Du mir doch den Brautkranz winden, meine traute Adele! Mucius übernimmt es an Deiner Statt, jeder Verlobte flicht ihn der Verlobten. Lebe wohl, Du Freundin meiner Kindheit! zum letzten Male schreibt Dir das Mädchen Virginia, das nächste Mal Mucius' Gattin.


Wir rüsten uns zur Abreise. Alle verlassen diese gastliche Gegend ohne die leiseste Reue. An der Hand des Geliebten wandelt man ja freudig zur Unterwelt, um wieviel lieber also einem stillen Paradiese entgegen, wie wir es[171] zu finden hoffen. Selbst Walters und Stauffachs Gattinnen, Fanny und Lucia, verlassen ihre Verwandten ohne Schmerz. In ihren Familien ist diese Trennung nichts mehr, als wenn man bei Euch von Lyon nach Avignon zöge. Die Wanderungslust ist hier überhaupt fast ansteckend. Der Amerikaner hangt bei weitem nicht so fest an der Erdscholle, auf welcher er geboren wurde, als der Europäer und liebt die Ortsveränderung. Ob dies in allen Kolonien der Fall sein mag, oder ob es der Reichtum des Bodens ist, welcher die Ansiedler so mächtig nach dem Innern zieht? Häufig verlassen sie ihre mühsam angebaueten Pflanzungen nach wenig Jahren und suchen weiterhin einen fetten Erdstrich, wo sie mit gleicher Anstrengung einen neuen Anbau beginnen. Selbst die Pflanzer auf unsern nunmehrigen Besitzungen haben diese mit Freuden verkauft, um sich in Louisiana und an dem Missouri anzusiedeln, mitten unter wilden, kriegerischen Stämmen. Ob dieser Geist sich auch unsrer jungen Kolonie bemächtigen wird? Ich glaube, nein. Wir werden glücklicher sein als diese vereinzelten Pflanzer, und unsere Kinder werden den Boden lieben, wo sie ihre glückliche Kindheit durchspielten; wir werden eine Verfassung haben und Vorteile genießen, welche man außer unsern Grenzen vergebens suchen würde.


Du kennst unsere fröhliche Gesellschaft, welche sich in Marsch gesetzt hat. Wahrlich ein Völkerzug. Sämtliche Männer zu Pferde, die Frauen und das Gerät, Proviant und Maschinen auf sechzehn Wagen, die Herden unter Leitung der Neger. Unsere Handwerker bestehen in einem Schmied, Stellmacher, Zimmermann, Tischler, Schuhmacher, Töpfer, Glasmacher, Kupferschmied, Leinweber und in einem Tuchweber, sämtlich verheiratet und zum Teil mit halberwachsenen Kindern; alles rüstige Menschen, welche auch bei dem Feldbau von Nutzen sein werden. Humphry woll te sich durchaus nicht von seinem Herrn trennen und wird sich bei uns ansiedeln, wo er dann unter einigen hübschen[172] deutschen Mädchen die Wahl haben wird. Wir gehen durch Virginien und am Fuß der Gebirge hin. Die Weideplätze für unser Vieh bestimmen unsern Weg, weshalb wir die Städte und auch größtenteils die Pflanzungen vermeiden, wo das Eigentumsrecht uns Streitigkeiten zuziehen könnte. Um frischen Proviant einzuhandeln, werden Seitenpatrouillen abgeschickt, das meiste verschafft uns die Jagd. Wir lagern unter freiem Himmel, welches ich schon von meiner Reise her sehr gewohnt bin, meinen Gefährtinnen aber anfangs sehr sonderbar vorkam. Zephyrine nennt uns nicht anders als die Zigeunerhorde und Mucius den Hauptmann. Sie ist äußerst drollig, wenn sie abends um die Feuer hergaukelt und, in ihrem angenommenen Zigeunercharakter, uns allen wahrsagt. Am possierlichsten ist es dann, wenn sie unter die Deutschen gerät, welchen sie sich nicht verständlich machen kann und von welchen sie kein Wort versteht. Oh, wie schön ist hier die Natur! Die Tulpenbäume stehen in voller Blüte, neben ihnen die zarte Akazie mit ihren weißen, duftenden Blütenbüscheln; der schattende Plantan und sein Bruder, der Zuckerahorn, schützen uns gegen die Strahlen der brennend heißen Sonne; Jasmin, Geißblatt und Rosen bilden Lauben und Wände und erfüllen die Luft mit Balsamdüften; die Höhen sind mit Zedern, Tannen und Eichen bekränzt, überall vermählt sich der Norden mit dem heißeren Süden. Wie wird es sein in unserem lauen Tale am schönen Ohio! Wir werden auf Louisville gehen, um uns noch mit einigen Bedürfnissen zu versehn; dann geht's nach Eldorado, wie wir unsere Landschaft getauft haben, um es nimmer wieder zu verlassen. Möchte es doch, wie jenes Eldorado des Candide, jedem Fremden unauffindbar sein! Zwar wird er dort keine Goldstücke, keine Rubinen zu entwenden finden, aber er würde die Ruhe und den Frieden unterbrechen, welche dort ihren Wohnsitz aufschlagen werden. Fern von dem unruhigen Treiben der Welt werden unsere Tage dahinfließen, wie der Wiesenbach, dessen Wellen kein Sturm[173] empört; kein Ehrgeiz, kein Gelddurst wird unsre Herzen bewegen, welche nur für die Liebe und die sanften Gefühle der Freundschaft schlagen; politische Meinungen werden uns so fremd sein als Religionsstreitigkeiten; keine Modetorheit wird uns berühren, kein Richter Streitigkeiten veranlassen, kein Fürst Befehle erteilen, kein Priester unsern Glauben meistern. Das goldene patriarchalische Dasein hebt für uns an, wo alle Menschen Brüder waren; und welchen Schatz von Kenntnissen und Fertigkeiten nehmen wir mit in dieses Leben hinüber! Wie doch so anders muß es sich gestalten als in jener Urzeit menschlicher Kindheit.


Eldorado, im Junius 1816


Angelangt sind wir in Edens blühendem Garten. Kein erzürnter Engel wehrte uns den Eingang; freundlich wurden wir von dem Grenzgott, freundlich von den friedlichen Laren empfangen. Wir mußten den Kentucky hinaufgehen, bis fast zu seinem Ursprung, um einen Übergang zu finden in unser Paradies. Sehnsüchtig blickten wir hinüber, wie einst die Kinder Israel nach den blauen Bergen, welche sie noch von dem glückseligen Arabien trennten. Zephyrine verglich uns hundertmal mit ihnen und Mucius mit ihrem Führer und Gesetzgeber. In ihrer fröhlichen Laune, reich an Anspielungen und Gleichnissen, nannte sie Walter und Stauffach Josua und Kaleb, welche uns die goldene Traube gezeigt, damit wir geduldig durch die Wüste folgen möchten, wie die Rinder dem salzspendenden Hirten; die Deutschen, meinte sie, wären die ägyptischen Ziegelstreicher und Fronknechte, welche durch den langen Zug erst geläutert werden müßten und würdig gemacht zur Gründung der neuen Kolonie. Nur bat sie, daß die Prüfungszeit nicht auf vierzig Jahre ausgedehnt werden möge, weil sie noch wünsche, im Gelobten Lande um den Bundesaltar zu tanzen, ehe sie Runzeln habe und der Krücke bedürfe.

Endlich fuhren wir durch den Fluß und, nach einer[174] Tagereise, über eine Hügelkette von ziemlicher Höhe. Auf der Spitze des letzten Berges rief Walter: »Wir sind am Ziel!« Und zu unsern Füßen lagen weithin die grünen beblümten Savannen, wie ein gestickter Teppich, welchen links ein dunkler Urwald, rechts der blaue Kentucky mit seinen Silberpappeln und babylonischen Weiden besäumt. Ein allgemeiner Freudenruf tönte durch die Lüfte; wir sprangen alle zu gleicher Zeit auf und liefen mit ausgebreiteten Armen jauchzend den Berg hinunter. Hier, auf der Grenze unsres Gebietes, fielen wir alle, mit namenlosem Entzücken, auf den heiligen Boden nieder, wie vom Sturm verschlagene Seefahrer am Ufer eines wirtbaren Eilandes. Wir umarmten die Pflanzen, umarmten einander, die Busen schlugen hochauf, und Tränen der süßesten Freude träufelten auf die Blumen herab. Es dauerte lange, ehe dieser selige Rausch sich in Betrachtung der neuen Gegenstände auflöste. Selbst die kältern Deutschen, selbst die ungebildeten Schwarzen teilten diese schwärmerische Freude, sie umarmten einander und uns. Dieser Augenblick machte uns zu einem Volke, aller Unterschied der Farbe, der Heimat, der Bildung war vernichtet, wir wurden alle Brüder, mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten.

Nun ging der fröhliche Zug längs dem Kentucky hin, welcher geraume Zeit unser Wegweiser blieb. Erst am folgenden Morgen verließen wir seine reichen Ufer, um durch einen Ahornwald einen nähern Weg zu unsern Wohnungen zu nehmen, welche wir im letzten Schimmer der Abendsonne vor uns liegen sahen; Du kannst daraus auf die Größe unseres Gebietes schließen. Es wird gegen Norden vom Kentucky, gegen Westen vom Ohio, gegen Süden vom Schawanoe begrenzt, im Ostnord schließt eine Hügelkette, an welche sich eine undurchdringliche Waldung lehnt, in welcher noch nie der Schall einer Axt gehört worden und deren Alter vielleicht bis zur jüngsten Umgestaltung der Erde hinaufreicht. Ganze Baumgeschlechter gingen hier unter, und neue wuchsen auf ihren Trümmern stark und[175] frisch empor. Unser Wohnort liegt am Schawanoe, unweit seines Einflusses in den Ohio, den schönen, welcher mit Recht diesen Namen führt; es ist eine lachende Ebene, deren Fruchtbarkeit jede Beschreibung übertrifft. Freundliche Gebüsche wechseln mit den grasreichen Matten, und bepflanzte Hügel durchlaufen die Ährengefilde. Jenseits des Ohio erhebt sich ein dichtbewachsener Gebirgsrücken, welcher uns gegen den Nordwestwind schützt und viel zur Milde unsres Klimas beiträgt. Als einzelnes, abgetrenntes Überbleibsel dieses Gebirges lehnt sich ein einzelner Fels an den Schawanoe und reicht bis zu unsern Wohnungen, deren Lage er einen malerischen, romantischen Anblick gibt. Wir waren alle davon ergriffen, ganz besonders aber Pinelli, welcher nicht müde wird, die verschiedenen Ansichten zu zeichnen. John und seine Söhne empfingen uns mit hoher Freude. Die notwendigsten Arbeiten waren vollendet und die Arbeiter schon seit einigen Tagen entlassen worden. So sahen wir denn nur lauter wohlbekannte Gestalten und hatten nichts kennenzulernen als die bleibenden Gegenstände. Kein Abschied soll in diesem glücklichen Erdstrich gehört werden als einst der Abschied zur Reise in ein noch schöneres Land.


Mit freudiger Rührung führten die Männer jede Familie in ihr blütenumranktes Haus. Hier zündeten wir ein kleines Feuer in dem Kamine an, warfen Weihrauch in die gastliche Flamme, umarmten uns, dankten laut dem Schöpfer der Welten für dies kleine Asyl und flehten ihn, uns hier lange und glücklich vereinigt zu erhalten. Dann traten wir alle aus unsern Hütten und gingen vereinigt zu der großen Halle, welche die gemeinschaftliche Küche und den Versammlungssaal enthält. Auf dem Herde wurde das Feuer entzündet, Weihrauch und Mais hineingestreut und weihend der Herd mit Milch und Wein besprengt. Nun wurde das Mahl gemeinsam bereitet und gemeinsam an der langen, mit Blumen bestreueten Tafel verzehrt. Der Mond blickte[176] hell durch die offenen Fenster und leuchtete uns erst spät zu unsren verschwiegenen Hütten. Mit der Sonne dem Lager enteilt, kleidete sich jeder, nach Übereinkunft, in die gewählte Landestracht. Die Männer tragen lange, weite Beinkleider aus baumwollenem Zeuge, Weste und Hemdsärmel, an den Füßen kurze Schnürstiefel, ohne Strümpfe, auf dem Kopf einen leichten Strohhut. Wir Frauen hingegen ein weißes kattunenes Hemd mit offenen Ärmeln, welches bis an die Knöchel reicht und die Brust bis drei Finger breit vom Halse bedeckt, darüber ein farbiges griechisches Gewand ohne Ärmel, nur bis über das Knie herabfallend und unter dem Busen gegürtet; das Haar wird geflochten, und gegen die Sonnenstrahlen schützt ein Strohhut; die Fußbekleidung ist für beide Geschlechter gleich. Diese einfache Tracht wird unabänderlich die unsre sein und soll der Mode auf ewige Zeiten den Eingang verwehren. Bei Regen oder rauher Witterung werden beide Geschlechter einen Tuchmantel tragen und bei schmutziger Arbeit einen Überwurf aus grauer Leinwand. Du glaubst nicht, wie unbeschreiblich reizend diese neue griechische Kolonie sich ausnahm, als sie durch das rötlich besonnte Tal, mit Blumenkränzen in den Händen, zur Tempelweihe zog.

Glänzend in der Morgensonne, lag auf einer sanften Anhöhe der heitere Tempel vor uns. Stufen führen ringsum zu ihm hinauf, zwölf Säulen tragen die einfache runde Kuppel, keine Wände wehren dem Lichte; in der Mitte steht der Altar, rund wie das Gebäude, mit der Inschrift: Dem Unbegreiflichen, Ewigen, Einzigen; ein breiter Marmorrand schließt oben die Vertiefung ein, wo die Opferflamme lodert. Hier hingen wir unsere Kränze an dem Altar und den Säulen auf, Mucius zündete das Feuer an und sprach: »Wir weihen diesen Tempel dem Ewigen, dem Schöpfer und Regierer des Weltalls, der in jeder Menschenbrust wohnt! Ihm weihen wir unsere Herzen! Wir erkennen, daß menschliche Vernunft sich nicht bis zu ihm erheben kann, sowenig als wir uns von der Ewigkeit und Unendlichkeit[177] einen klaren Begriff zu machen vermögen, daß also die verschiedenen Vorstellungen und Mythen der Völker menschliche Erkenntnisse sind und mehr und minder irren, daß aber in allen eine und dieselbe Wahrheit herrscht. Er ist unser Schöpfer und Erhalter, der Geber alles Guten, ihm sind wir Dankbarkeit und Ergebung schuldig.« Wir knieten alle um die heilige Flamme, und im stillen, heißen Gebet erhoben sich unsre Herzen zum Ewigen. Fröhlich kehrten wir zurück zum einfachen Frühmahle. Dann durchgingen wir unsere nächsten Umgebungen, ein wahres Paradies, in welchem sich fast alle Zonen des Erdkreises zu verbinden scheinen. Italiens Orangenbäume duften dicht neben den deutschen Eichen; die Dattelpalme Asiens und der südliche Kokos verschmähen die Nachbarschaft der nordischen Tanne nicht, und Libanons Zeder prangt neben den heimischen Tulpenbäumen, Zypressen, Lerchenbäumen und Pappeln; Ahorn, Buchen, Platanen und die weiße Birke, der Sumach und die Tamarinde, Kastanien-, Nuß- und Mandelbäume stehen einzeln und gemischt in malerischen Gruppen. Alle Obstarten der bekannten Welt gedeihen hier in einem hohen Grade der Veredelung. Kirschen, Aprikosen, Apfelsinen, Pfirsichen, Pflaumen, Birnen, Äpfel, Pisang und Bananen gibt es in großer Menge; Stauden- und Rankengewächse, voll Blüten und Beeren, laden alle Sinne zum Genuß. Myrten und Rosengesträuche bilden die Hecken um die umhegten, mit Sorgfalt angelegten Pflanzungen, wo Vanhusen die köstlichsten Ananas und Melonen zieht. Auch den Kaffeebaum und die chinesische Teestaude hat der Mühsame hierher verpflanzt, und es ist Hoffnung zu ihrem Gedeihen. Der Mais steht mit seinen breiten Blättern in Manneshöhe da, und das wallende Korn neigt die schweren Ähren zu Boden. Kartoffeln und Yams wetteifern an Ergiebigkeit; die Baumwollenstaude, Lein und Hanf streiten um den Vorzug; auch die feineren Gemüse fehlen nicht, und was mich vor allem entzückt, ich habe den Öl- und den Maulbeerbaum meiner Provence und die köstlichsten[178] Rebenhügel wiedergefunden. Wir könnten hier ebenso wie Moses' erste Menschen ein Leben ohne Mühe und Arbeit führen; für alle unsere Bedürfnisse hat die überreiche Natur im Überfluß gesorgt. Die Dattel, der Kokos, die Kartoffel, die Yams, die Kastanie würden uns nie Mangel leiden lassen; die saftigsten Früchte wachsen ohne Pflege, der Zuckerahorn und die Palme bieten ihren süßen Saft, der Schawanoe führt die schmackhaftesten Fische und Krebse, die Herden und das Geflügel suchen und finden leicht ihre Nahrung, und die Wälder wimmeln von Wild.


Das wahre Glück kann nur bei den Tätigen wohnen, und das wohltuendste Gefühl ist das Gefühl des erfüllten Berufs. Wir haben daher unsre Zeit klüglich zwischen Arbeit und Erholung und die verschiedenen Zweige der großen gemeinsamen Haushaltung wieder unter uns geteilt. Mucius, Walter und Ellison haben die Besorgung des Ackerbaues übernommen, Pinelli, Stauffach und Vanhusen warten der Baumpflanzungen, der Gartengewächse und der Rebenhügel, Salvito und Dupont führen die Aufsicht über die Herden, und Frank und Antonio sorgen für Wildbret und Fische. Die beiden Mütter haben sich das Küchengeschäft nicht nehmen lassen, die rasche Therese und ich besorgen die Milchkammer, Zephyrine und Philippine den Hühnerhof, Rosalva und Fanny sammeln die Früchte ein, und die Bereitung der Baumwolle, des Leins und Hanfs steht unter Mariens und Luciens Aufsicht. Jeder ist nach seiner besondern Neigung und Fähigkeit angewiesen, und hüpfend und singend wird die leichte Arbeit vollbracht. Die neuen Maschinen, über deren Verbesserung und Vermehrung Frank, Walter und Antonio vieles beraten, haben die meisten Geschäfte weniger beschwerlich gemacht. Die verschiedenen Arten der Pflüge machen die Hacke fast entbehrlich, und an Zugstieren haben wir Überfluß.

Mein Milchgewölbe ist in einer Felsengrotte, durch welche eine immersprudelnde Quelle sich ergießt. Bei der[179] jetzigen Hitze stellen wir die Gefäße mit Milch auf vierundzwanzig Stunden in den flachen Bach, um dadurch das zu schnelle Gerinnen zu verhüten. An einer tieferen Stelle desselben werden die leeren Gefäße gespült, nachdem sie zuvor in heißem Wasser gereinigt sind. Wenige Schritte davon bildet der Bach einen Wasserfall, welchen Frank zur Treibung eines Rades benutzt hat und dadurch die Buttermaschine in Bewegung setzt. In diesem wird auch die Butter gewaschen, dann unter eine Presse gebracht und, mit einem kammähnlichen Instrumente, von allen Fasern gesäubert. So ist die Mühe nicht groß, mit welcher wir die köstlichste Butter bereiten. Auch für das Käsestellen, -schöpfen und -pressen sind leichte Vorrichtungen erfunden. Nichts gleicht dem Wohlgeschmack unseres Milchwerks und unserer Käse, und Therese und ich freuen uns nicht wenig, wenn bei dem Frühstück alle in laute Lobeserhebungen darüber ausbrechen. Die Herden werden von den Negern mit den ihrigen gehütet, und das Milchvieh wird von den Negerinnen gemolken, dicht neben der Grotte. Stauffach und Walter versichern, daß selbst das Schweizer Vieh der fettesten Alpen nicht so viele und so gute Milch liefere als das unsere. Die Schafmilch ist ganz vorzüglich und der Ziegenkäse unübertrefflich. Dabei bedarf das Vieh das ganze Jahr hindurch keiner Wartung. Nach Johns Aussage fiel den Winter hindurch nicht ein einziges Mal Schnee, einige Regentage bildeten den Übergang der Jahreszeit, darauf folgte Reif und ein leichter Frost, dessen Spuren jedoch die Sonne schon nach wenigen Stunden verschwinden ließ. Diese Wintertemperatur dauerte kaum vier Wochen, worauf die Bäume neu trieben und das junge Gras unter dem alten hervorwuchs. Wir werden daher auch nur eine Kleinigkeit an Heu sammeln, welches sonst nie geschehen ist, um den Tieren, zur besseren Erhaltung ihrer Gesundheit, an Regentagen und wenn Reif fällt ein Morgenfutter geben zu können.[180]

Du solltest uns sehen, liebe Adele, wie nett uns die Geschäftigkeit kleidet. Wir vergleichen einander oft mit den Mädchen in der »Odyssee« oder mit Labans Töchtern, wenn wir zum Brunnen gehen und schöpfen und der Lorbeer neben uns säuselt. Zephyrine vorzüglich ist reizend in ihrem gefiederten Reiche, wenn sie mit dem Futterkörbchen hineintritt und das ganze Heer sie jubelnd umringt; Täubchen setzen sich ihr auf die Schultern, und sie koset mit allen auf das anmutigste oder tritt mit dem Ansehen einer Königin zwischen kämpfende Hähne, um sie zu trennen. Die herzige, muntere Philippine erfreut sich an dem Spiel ihrer reizenden Gefährtin, und beide tändeln in Kindesunschuld ihre Stunden hin. Die sanfte Marie und die stille Lucia sondern die Baumwolle, wenden den röstenden Lein und Hanf, bringen ihn unter die Klopf-, Schwing- und Hechelmaschinen und freuen sich schon auf die Zeit, wo er als Gewebe, unter ihrer Aufsicht, bleichen wird. Rosalva und Fanny sammeln in der Morgenfrühe Gemüse und Früchte für die Küche und gegen Abend für die Vorratsgrotte. Die Hausmütterchen bereiten das Mittagsmahl, wobei auch wir ihnen beistehen, wenn unsere Geschäfte früh vollendet sind und sie unser bedürfen. Der Mittag versammelt die ganze frohe Gesellschaft unter den dichtbelaubten Platanen um den steinernen Tisch. Die Geräte sind einfach, das Tischzeug fehlt, aber die Speisen sind trefflich bereitet. Feine Gemüse, saftiges Fleisch, herrliche Braten von Geflügel und Wild, Fischspeisen, Backwerk aller Art und ein Nachtisch der auserlesensten Früchte würden auch dem verwöhntesten Schmecker genügen. Der Becher geht umher und belebt den Scherz. Jetzt ist er noch vom mitgebrachten Vorrat gefüllt, künftig perlt eigener Wein, Palmensekt, Birk- und Ahornwasser darin; jetzo ist Milch und des Quells Kristall an seiner Stelle gesunder.

Die Nachmittagsstunden gehören der Ruhe und der Erholung. Erst wenn die Sonne tiefer sinkt und ein kühleres Lüftchen weht, widmen wir noch eine oder ein paar Stunden[181] der nötigen Arbeit. Mit ihrem Untergange hören die Geschäfte auf, man versammelt sich zur kalten Abendkost, welche aus Milch, Eiern, Butter, Käse, Honig und Backwerk besteht. Darauf wird Musik gemacht, getanzt, gespielt, bis der Mond oder die Sterne uns spät zur Ruhe leuchten. So fließen unsere Tage einförmig, aber reich an Freuden dahin. Die Einrichtung der Deutschen, wie der Neger, ist der unsrigen gleich. Mucius erwirbt sich um ihre Ausbildung ein hohes Verdienst; er hat einige Tage festgesetzt, wo er ihnen, unter der Form freundschaftlicher Betrachtung, die zweckmäßigsten Lehren gibt. Besonders sorgt er für die Erziehung der Jugend und wird eine eigene Bildungsanstalt gründen, in welcher sie für jetzt allein, künftig mit unsern Kindern gemeinschaftlich Unterricht erhalten wird. Der Lehrstunden werden nur wenige sein, und jeder der Männer wird in seinem Lieblingsfache unterrichten. Bei den Alten nehmen wir jetzt selbst in manchen Stunden Unterricht, besonders wir Frauen. Zum künftigen Winter werden wir geschickte Weberinnen besitzen. Das Material fällt uns fast von selbst in die Hand; die Schafschur ist über alle Erwartung günstig gewesen, die Baumwolle von der besten Gattung, der Lein fein und stark; Spinnmaschinen liefern das Garn. Die Witterung ist in den Sommermonden so gleich, daß die Seidenraupe im Freien fortkommt; der erste Versuch damit ist sehr genügend ausgefallen, wir haben keine andre Mühe damit, als die Kokons zu sammeln und sie unter die Haspelmaschine zu bringen.

Bei allen Arbeiten, welche viele Hände auf einmal erfordern, helfen Deutsche und Neger gemeinschaftlich mit solcher Bereitwilligkeit, daß wir ihre Dienstleistungen eher abzulehnen als zu erbitten haben. Aber auch wir helfen ihnen, wenn es not tut, und wie sie die Güter der Natur mit uns teilen, so benutzen sie auch die Vorteile unserer Maschinen- und Mühlenwerke mit demselben Rechte als wir. Wir behandeln sie als Brüder, und sie betrachten die Männer fast wie Väter.[182]

Die Getreideernte ist überreich gewesen. Die Dreschmaschinen sind im Gange, und die Kornmühle klappert, hoch aufgespeichert liegen die goldenen Kolben des Mais; die Trauben schwellen, die Äpfel röten sich und versprechen köstlichen Zider. Wir haben das Erntefest gefeiert und werden noch vor dem Herbstfeste eine Wanderung längs unserer südlichen Grenze hin unternehmen, welche die meisten der Männer noch nicht kennen. Von den Frauen haben nur wenige den Mut, uns zu begleiten, aus Scheu vor den Chickasaws und den Irokesen, welche unsere Grenznachbarn sind. Zephyrine und Philippine waren die ersten, welche sich erboten, mit uns die Gefahr zu bestehen, sie wollen ihren Hühnerhof Corallys Sorgfalt übergeben; auch die mutige Rosalva und die sanfte Marie werden sich an uns anschließen, indem die Liebe für ihren William über der letzteren natürliche Furchtsamkeit siegt. Wir werden in einer Barke den Schawanoe hinauffahren, so weit er schiffbar ist, um so auf die leichteste Art unsere Lebensmittel mitzuführen und eine Partie Tabak, welcher, beiläufig gesagt, ganz vortrefflich geraten ist, als Geschenk für die Wilden, wenn uns benachbarte Stämme begegnen sollten. Alles ist Leben und Bewegung zu dieser kleinen Ausflucht, es wird gebraten und gebacken, als gelte es eine Reise um die Welt; und doch werden wir kaum zehn bis zwölf Meilen machen, aber ganz durch Einöden und auf mancherlei Krümmungen.


Unsere Schiffahrt und unsere Wanderung sind glücklich vollendet. Ellison war auf beiden unser Führer, Marie blieb mutig an seiner Seite, John und Humphry begleiteten uns. Nach einem Wege von anderthalb Meilen floß der Schawanoe durch einen dichten Wald oder kam vielmehr aus ihm uns entgegen, und an einigen Stellen faßten blühende Wiesen die Ufer ein. Als wir gegen Abend an einer derselben gelandet waren, bemerkten wir in dem nahen Gebüsch einige Wilde; John wurde ihnen entgegengeschickt, aber die Nacht brach an, ohne daß er zurückkehrte. Wir[183] gerieten in die lebhafteste Unruhe, schliefen nur abwechselnd und wenig und erwarteten mit Sehnsucht den Morgen. Herrlich ging die Sonne über der Wildnis auf, und vielartige Papageien durchhüpften die Zweige und sonneten am Morgenstrahl ihr buntes Gefieder; für uns Unruhige ging die Schönheit dieses Schauspiels fast verloren. Endlich, nach mehrstündigem Harren und nachdem man den Saum der Gebüsche vergebens durchspäht hatte, jauchzte uns der sehnlich Erwartete aus weiter Entfernung zu. Bald wurde er, in Begleitung von wohl zwanzig Wilden, sichtbar, zu deren einige Meilen entferntem Lager man ihn gestern abend geführt hatte. Die Wilden gehörten zu dem Stamm der Chickasaws, und ihr Oberhaupt befand sich unter ihnen. John konnte sich notdürftig mit ihnen unterreden, obgleich ihre Mundart etwas von der des Stammes abwich, welcher ihn unter sich aufgenommen hat. Sie hatten die Tätowierung erkannt, welche er bei der Aufnahme erhalten, und behandelten ihn als Bruder. Wir wurden von ihnen sehr freundschaftlich begrüßt, und sie rauchten mit unseren Männern die Bundespfeife. Von ihnen erfuhren wir, daß eine Tagereise jenseits des Flusses sich Salzquellen befinden, aus welchen sie eine Menge Salz gewinnen, welches freilich noch einiger Reinigung bedarf, dann aber vortrefflich werden wird. Sie schenkten uns einen Beutel voll, und wir gaben ihnen dagegen Tabak, Backwerk und einiges buntes Töpfergerät, mit welchem Tausche sie höchst zufrieden schienen. Sie erklärten uns für viel bessere Nachbarn als die, welche mit ihnen gegen Süden grenzen, wahrscheinlich die Spanier. Von jenen, klagten sie, wären ihnen die Pocken mitgeteilt worden, welche jährlich so viele ihrer Brüder hinrafften und ihrem ganzen Geschlechte den Untergang drohten. Salvito ließ sich mit ihnen über diesen Gegenstand, mit Johns Hülfe, in ein langes Gespräch ein. Er suchte ihnen den Nutzen der Kuhblatternimpfung begreiflich zu machen und ließ sie die Narben sehen, welche wir fast alle davon an den Armen tragen. Die Sache schien[184] ihnen am Ende einzuleuchten, und auf Salvitos Zureden entschlossen sich einige der jüngern und die Weiber, welche diese Krankheit noch nicht gehabt hatten, sich impfen zu lassen. Salvito trug, aus löblicher Vorsicht, ein Gläschen mit Lymphe und das nötige Impfgerät bei sich. Ehe wir Abschied nahmen, um den Fluß weiter hinaufzufahren, versprachen wir ihnen, auf dem Rückwege hier wieder anzulegen, und ließen uns dagegen das Wort von ihnen geben, sich alsdann wieder einzufinden und sowohl alle Kinder ihres Stammes als auch die Erwachsenen, welche die Krankheit noch nicht gehabt hatten, mitbringen zu wollen. Auf unsrer Fahrt belustigte uns der Fischfang einige Stunden, auch schossen die Jäger mehrere Wasservögel; um Mittag landeten wir, das Mahl zu bereiten, und schifften erst in der Kühle des Abends weiter. Nicht lange mehr vermochte, am folgenden Tage, der seichter werdende Fluß unsre Barke zu tragen; wir verließen sie daher, verteilten die Lebensmittel und wanderten fröhlich neben dem Ufer hin. Nach Eintritt der Nacht machten wir uns das Vergnügen, bei Fackelschein Krebse zu fangen. Malerisch schön wirkte die Erleuchtung gegen die dunklen Waldgruppen, und Pinelli konnte sich nicht enthalten, das herrliche Nachtstück aufzunehmen. Der nächste Morgen führte uns einen Haufen Irokesen zu, welche der Rehjagd wegen den Grenzwald zu besuchen kommen. Ihnen hatte ehemals diese ganze Gegend gehört und war ihnen späterhin von der Ohio-Gesellschaft abgekauft worden, da ihre Bevölkerung abgenommen hatte. Sie kannten noch alle Wege durch den Wald und die Wechselplätze des Wildes; in ihrer Begleitung gingen wir ein beträchtliches Stück in diese kaum durchdringliche Wildnis hinein.


Diese Uramerikaner, welche man Wilde nennt, sind äußerst gutmütige Menschen, und ihre Sitten beschämen die der Europäer. In dem nördlichen Kanada mag die Not und die rauhere Natur sie wohl gefühlloser und roher[185] machen, doch hier trifft man nur Züge der sanftesten Menschlichkeit. In der Kultur sind sie freilich rückwärtsgegangen, wie ihre Sagen und die Denkmäler am Ohio deutlich beweisen. Schauderhafter Gedanke, wenn einst Europas Verfeinerung auch so bis auf die schwächsten Spuren verschwände! Und doch liegt in dem ewigen Wechsel der Dinge nur zu viel, was für die Möglichkeit spricht. Auch hier lebte, vor kaum dreihundert Jahren, ein großes mächtiges Volk, welches Städte und Tempel erbauete und jene befestigte, Theater und Künste besaß und selbst schon die Lapidarschrift kannte und übte. Jetzt, welch ein Wechsel! Von den Europäern und den Nachbarvölkern verdrängt, durch Schwert und Hunger, durch die Pockenkrankheit und den Genuß der berauschenden Getränke bis zu einem unbedeutenden Häufchen zusammengeschmolzen, flüchtet der Überrest, wie das gescheuchte Wild, immer tiefer in die nahrungslosen Einöden. Rührend sind die Klagen, welche durch die Gesänge, durch die Sagen dieser Völker tönen. Mit Johns Hülfe habe ich einiges von ihrer Sprache verstehen lernen. Sie erinnerten mich oft an Ossian, mit welchem ich überhaupt auf dieser Reise, in diesen ernsten Wäldern viel gelebt habe. Daheim um unsern Wohnsitz spielt das heitere, griechische Kinderleben, hier in diesen Einöden herrscht die Trauer um eine untergegangene Welt. Selbst die Vögel der Nacht stöhnen so tiefe, durchdringende, fremde Klagetöne aus, daß es mir oft wie fernes Grabgeläute klang und Zephyrine zum Rückweg trieb.

Salvito suchte sich den guten Irokesen auf alle Weise verständlich zu machen, sie über die Pocken und andere Krankheiten zu belehren und sie mit den Heilkräften in einheimischen Kräutern bekannt zu machen; er warnte sie vor dem Genuß des Branntweins mit allem Ernste und schien sie zu überzeugen. Wir selbst führten keine gebrannten Wasser bei uns, sondern nur etwas Wein, wovon wir ihnen zu kosten gaben. Sie fanden ihn nicht sehr nach[186] ihrem Geschmack, nahmen aber ein Geschenk an Tabak mit vieler Freude an. Salvito impfte einige und gab ihnen weitläufige Anweisung, wie sie, nach einer bestimmten Zahl von Tagen, den Impfstoff andern mitteilen, auf diese Weise die Lymphe erhalten und ihren Stamm gegen die Ansteckung der wirklichen Blattern sichern könnten. Sie trennten sich mit vielen Freundschaftsbezeugungen von uns, und wir kehrten zu unsrer Barke zurück. Die Fahrt hinab ging nun schneller und bequemer. Die Chickasaws warteten schon am Ankerplatz, zahlreicher als das erste Mal. Die Impfung hatte guten Erfolg gehabt, sie wurde fortgesetzt und fernerer Unterricht deshalb erteilt. Gegen eine Menge Salz, welche jene mitgebracht hatten, erhielten sie von uns alle Lebensmittel, deren wir entbehren konnten. Es wurde festgesetzt, daß jährlich um diese Zeit einige von unseren Männern hierherkommen und Salz gegen Tabak und andere Produkte eintauschen sollten. Die Chickasaws machten besonders zur Bedingung, daß Salvito, welchen sie für einen Halbgott hielten, mitkommen möchte, um die später Geborenen zu impfen. Wir trennten uns mit wahrhaft nachbarlichen Gesinnungen.

Am folgenden Abend langten wir fröhlich bei unseren Wohnungen an, vor welchen uns unsere Freundinnen entgegenkamen. Wie unendlich schön fanden wir unsern reizenden Aufenthaltsort bei der Rückkunft aus jenen wilderen Gegenden, und gleichwohl möcht ich um keinen Preis sie nicht gesehen haben. Unsere Hausmütter gaben uns einen festlichen Schmaus; dann begrüßten wir noch im Mondenschein alle die Gegenstände umher, welche uns vorzüglich lieb waren. Ganz allein schwärmte ich noch bis zu den Palmen, welche den Tempel umgeben und deren Schatten, neben den beleuchteten weißen Säulen, wie Geistergestalten wiegten. Freudig sprang ich die Stufen hinauf und umfaßte den Altar, Worte hatte ich nicht, doch galt, was ich fühlte, dem Unerforschlichen gewiß für ein heißes Gebet.[187]

Die Früchte sind eingesammelt, die Trauben gekeltert, die Bienenkörbe verschnitten, wir haben das Herbstfest gefeiert und dem Ewigen gedankt für seinen reichen Segen. Jetzt machen sich John und Humphry bereit, um den Überfluß unsrer Erzeugnisse, den Ohio hinauf, nach Louisville zu führen. Sie bringen dagegen die wenigen Bedürfnisse zurück, welche uns Anfängern für jetzt noch fehlen; der Überschuß an Geld wird dort in einem Handlungshause niedergelegt. Es ist eins der Grundgesetze unsrer Republik, daß im Umkreise ihres Gebietes kein Geld umläuft. Dieses unselige Metall, welches drei Vierteile des Erdkreises verbindet und entzweit, soll bei uns keinen Einfluß erlangen. Was von Ellisons und meinem eh'maligen Vermögen übriggeblieben ist, steht in der fortgeführten Handlung des Vaters Ellison, welche dem treuen Buchhalter übergeben worden ist, und bleibt, wie die Summe, welche jährlich sich in Louisville sammeln wird, für ein etwaniges künftiges Bedürfnis der Kolonie unberührt. Es ist das Gemeingut derselben, und nur mit Zustimmung aller Mitglieder kann darüber verfügt werden. Möchten doch unsere Kinder und Enkel niemals in den Fall kommen, davon Gebrauch zu machen!

Während diese Reise beraten und eingeleitet wird, will ich Dir noch alles schreiben, was Du wohl gern über unser hiesiges Dasein wissen möchtest. Humphry wird das Briefpaket in Louisville, unter Umschlag an das Haus Ellison, nach Philadelphia senden, tue Du mit Deinen Briefen ein Gleiches. Auf diese Art werden wir jedes Jahr einmal Du von mir, ich von Dir Nachricht erhalten, die einzige, welche mich aus der europäischen Welt interessiert. Die Männer bekommen auf demselben Wege Kenntnis von den Ereignissen und Begebenheiten auf dem großen Welttheater im letztverflossenen Jahre und zugleich das Lesenswerteste in allen Fächern der Wissenschaften, wie es scheidend mit dem ehrlichen Handelsherrn ausgemacht worden. Hier ist also Stoff genug für die kurze Winterzeit, wo die Natur,[188] selbst noch in ihrem leichten Schlummer, schön bleibt. Dann werden wir uns am Abend um den Herd oder um den Kamin versammeln, und Erzählungen der nächsten und der ferneren Vergangenheit werden uns die Stunden kürzen. Für diese Winterzeit sparen wir einzig den Tee und den Kaffee auf, auch ist während derselben den Männern der Genuß der gebrannten Wasser erlaubt, welche Stauffach in großer Vollkommenheit zu bereiten versteht, und wie schon erwähnt, wird in dieser Jahreszeit Bier gebrauet und getrunken werden; mit dem Frühlinge kehren wir zur Milch zurück. Noch ist beschlossen worden, bei dem nächsten Frost Eis von dem nahen Gebirge zu holen und in der tiefsten Grotte des Felsens einen Eiskeller anzulegen, damit wir, in großer Hitze, uns an Gefrorenem laben können.


Am 14. Julius dieses Jahres wurde mein Geburtstag dadurch gefeiert, daß die Grundgesetze der Kolonie allen Einwohnern der drei Dörfer im Tempel vorgelesen und dann in einem Behältnisse unter dem Altare niedergelegt wurden. In jedem Jahre sollen sie an diesem Tage aufs neue verlesen und so soll dieser uns allen merkwürdige, mir aber insbesondere beziehungsreiche Tag auf ferne Zeiten hin geweiht werden. Dieser Gesetze oder vielmehr Grundsätze, einfach wie unsere ganze Einrichtung, sind nur wenige. Sie bestehen in Anerkennung eines einigen Gottes, welchen der menschliche Verstand sich nicht klar darzustellen vermag; sein Dienst ist die Erhebung des Herzens zu ihm, die Ergebung in seinen Willen, Vertrauen, Dankbarkeit gegen ihn und das Streben, gut und menschlich zu handeln; kein Götzendienst, kein Symbol soll die erhabene Idee des Einigen entweihen. Seine Propheten und viele der Heiligen waren achtungswerte Menschen, deren Andenken uns teuer bleiben wird. In ihnen lebte die reine Idee, mehr und minder klar, sie strebten, sie dem Volke mitzuteilen, welches sie aber nur wenig verstand und die reine Wahrheit bald wieder mit bunten Zieraten umhing; sogar den Propheten,[189] welcher sich ihm zeigte, oder dessen Bild höher hielt als den Geist, den niemand darzustellen vermag, und so den göttlichen Menschen zum Gott erhob.

Der Tempel ist der Ort, wo jede feierliche Hand lung stattfindet. Hierher bringen wir am Frühlingsfeste die schönsten Blumen, am Erntefeste die vollsten Ähren aller Art, umhängen damit Säulen und Altar und werfen davon, mit Weihrauch vermischt, in die leuchtende Flamme. Am Herbstfeste brennen Oliven, Kastanien und Datteln auf dem Altar, er wird mit Traubensaft besprengt, und am Neujahrsfeste lodert höher die Flamme, von Zweigen aller Art und den köstlichsten Herzen entzündet. Lobgesänge, zum Preise des Ewigen, werden in Chören gesungen, und um den Altar kniend, steigt unser vereintes, heißes Gebet zu dem Allgütigen auf. Diese Abschnitte der vier Jahreszeiten und das Stiftungsfest sind die einzigen verordneten öffentlichen Feste. Außerdem steht es bei jedem einzelnen, sooft er hierzu Beruf fühlt, den Ewigen anzurufen und zu ihm zu beten. Für die Abteilung der Woche haben wir die Mosaische Einrichtung beibehalten, nach sechs Arbeitstagen folgt ein Ruhetag. Sobald am Sonnabende die letzten Strahlen des Lichts hinter den blauen Gebirgen verschwinden, verläßt jeder sein Tagewerk und trägt sein Arbeitsgerät zu den Säulen des Tempels. Hier lehnt der Pflüger seine Pflugschar und das Joch seiner Stiere an, der Schnitter hängt hier seine Sichel auf, die Binderin ihren Rechen. Jeder kniet oder setzt sich auf die Stufen nieder und dankt dem Ewigen für seinen Beistand im stillen oder lauten Gebet, je nachdem er sich allein oder in Gesellschaft befindet. Der Feiertag wird mit Unterhaltungen und Spielen hingebracht; kein Geschäft wird vorgenommen, die Wartung des Viehs und die Beschickung des Herdes ausgenommen, wobei wir alle gemeinschaftlich helfen. Am Montage holt jeder, in aller Frühe, sein Gerät aus der Obhut des Tempels und fängt sein Wochenwerk mit dankbaren Gedanken an Gottes Schutz und Führung an. Kein[190] Priestertum soll je die lautere Quelle unserer Überzeugung trüben. – Du schüttelst mißtrauisch den Kopf, Adele! Oh, ich weiß wohl, man glaubt, die Lehre des Deismus könne in einer größern Gesellschaft nicht Anwendung finden, ein Wahn, welchen wir einst widerlegen werden. Warum besteht sie denn unter tatarischen Horden, bei einem geringen Grade von Bildung? Und das Priestertum? Die Pennsylvanier haben keines und sind so brav und gut, daß sie der Welt als Muster aufgestellt werden könnten. Von ihnen haben wir entlehnt oder sind mit ihnen zusammengetroffen; nur ihr finstrer Ernst findet bei uns keinen Eingang. Griechenlands kindlicher Frohsinn spielt um unsren Tempel;


»... schöne lichte Bilder

schweben selbst um die Notwendigkeit,

und das ernste Schicksal blicket milder

durch den Schleier sanfter Menschlichkeit.«


Der zweite Grundsatz unserer Verfassung ist völlige Freiheit und Gleichheit der vereinten Familien; nie soll darin ein Oberhaupt herrschen, und wäre ein solches einst, zu besonderem Zwecke, notwendig, so wird es gewählt, und dann erlischt seine Würde mit Erreichung des Zweckes. Alle Angelegenheiten werden durch Stimmenmehrheit entschieden. Die Verwaltung der Geschäfte der Kolonie wird verteilt, der Überfluß zu gemeinschaftlichen Zwecken verwendet. Am Genuß hat jeder gleichen Anteil und gleiches Recht. Der Gebrauch des Geldes ist im Umkreise des Staates untersagt, auch außer demselben hat niemand Eigentum, alles ist Gemeingut. Kein Mitglied darf, vor dem vollendeten zwanzigsten Lebensjahre, die Grenzen der Republik verlassen, die Kolonie aber nur bis zu einer bestimmten Anzahl von Einwohnern wachsen; übersteigt sie diese, so bilden die älteren Söhne eine neue in dem großem Umfange der Besitzungen. Es wird, zu diesem Endzweck, jährlich eine Anzahl Morgen von uns urbar gemacht; schon[191] jetzt haben wir mehr, als wir bestellen mögen, und es wird manches Ackerstück in Ruhe gelegt. Die Töchterkolonien führen eine eigene Ökonomie, sind aber im übrigen, durch gleiche Grundsätze und gleiche Vorteile, auf das engste mit der Muttergesellschaft verbunden; ihr etwaniger Überschuß fließt zur allgemeinen Kasse. Alle Menschen außer den Grenzen unserer Republik werden als unsere Brüder betrachtet. Ihre Lebensweise paßt nicht zu der unsrigen, sie haben aber dieselben Rechte, über die ihrige zu entscheiden als wir über die unsere, und kein Streit darf je deshalb zwischen ihnen und uns entstehen. Man wird unsere harmlose Friedlichkeit ehren, die Denkart der Nachbaren ist edel. Es ist kaum glaublich, daß unsre Männer jemals gezwungen werden sollten, unsern rechtmäßig erworbenen Boden, mit den Waffen in der Hand, zu verteidigen. Geschähe es aber, so würde der Sieg gewiß auf unserer, auf der Seite des stengsten Rechtes sein, und Mut und Geschicklichkeit unserer Männer würde ihn zu fesseln wissen. Wahrheit und Gerechtigkeit sind die Hauptgrundsätze unserer einfachen Moral; ihre Ausübung wird, durch unsere Lebensweise, unseren Kindern so notwendig sein als das Atemholen. Wahrheit und Gerechtigkeit, diese einzig sicheren Stützen des häuslichen und des gesellschaftlichen Glücks, können nur unter dem Schutze der Freiheit vollkommen gedeihen!


Sieh, meine Adele, so denken, so leben wir. Ihr werdet wohl etwas mitleidig lächeln, wenn Ihr in Gedanken das einfache Gewand unserer Republikanerinnen mit Euren Modekleidern vergleichet, aber wir tauschen nicht; unser Klima fordert nicht mehr, und mit welchem geringen Aufwand und mit wie wenig Mühe sind wir gekleidet. Die kunstreiche Nadel ruhet darum nicht ganz, wir verzieren mit ihrer Hülfe zuweilen den Saum der Gewänder, doch in der Hauptsache darf nichts geändert werden; wir wollen nur keine Kunstfertigkeit untergehen lassen, so wie unsere Männer darauf bedacht sind, jede Wissenschaft zu pflegen.[192] Wir haben uns einmal vorgesetzt, die große Aufgabe zu lösen, Kultur mit Sitteneinfalt auf das engste zu verbinden; wie und ob wir das große Ziel erreichen werden, darüber wird ein künftiges Jahrhundert entscheiden. Fest richten wir den Blick auf das Wohlsein künftiger Geschlechter, säen mutig den Samen dazu in den Schoß der Zeit, und Gott sieht gewiß wohlgefällig auf unsern redlichen Willen, auf unsern heiligen Eifer herab.


Die Reiseanstalten sind vollendet, ich muß diese Blätter schließen. So lebe denn wohl, meine traute Adele! Der Himmel überschütte Dich mit soviel Glückseligkeit, als Dein gärendes Europa, Dein mit sich selbst zerfallenes Frankreich Dir nur bieten kann. Gedenke meiner oft, Du Gute! Du kannst es ohne Sorgen um mein Geschick. Freundlich lächelt mir die lange Zukunft entgegen, wie mich jede Morgensonne freundlich begrüßt. Nur in Kentuckys Hainen säuselt ewiger Friede, nur am Schawanoe herrscht süße Ruhe. Oh, lebte mein hochherziger Vater, lebte mein guter Emil mit uns unter diesen Palmen, kein Seufzer würde jemals meinen Busen heben! Doch sie wandeln unter den himmlischen Palmen und harren freundlich auf uns. Mucius, mein teurer Mucius, ist mir Ersatz für alles! Er grüßt Dich tausendmal, der herrliche Mensch. O könnte ich ihn Dir so ganz schildern, wie er ist! so groß und hehr, so lieb und gut. Er trägt das Schicksal einer Welt in seiner Brust und ist doch nur Gatte, nur Freund; an Geist vielleicht der Erste unter unseren Gefährten, ist er der Bescheidenste, von allen geliebt. Und dieser seltene Mensch ist mein! Fühle die Seligkeit, welche in dem Gedanken liegt. Ich muß nur schnell siegeln, damit Mucius diese Worte nicht liest; er ist dem Stolze so feind, daß es ihn schmerzen würde, der Gegenstand des meinigen zu sein. Lebe wohl, Adele! Tausendmal lebe wohl! Übers Jahr erhältst Du wieder frohe Botschaft von Deiner

Virginia.
[193]

Eldorado in Kentucky. Im Julius 1817


Sei mir gegrüßt, Freundin meines Herzens! Du, in deren Busen ich ehemals meine Klagen ergoß, nimm jetzt das Überströmen meines Entzückens mit gleicher Teilnahme auf. Der Glückliche bedarf des Ohres eines Freundes mehr als der Unglückliche, denn wohl läßt sich der Schmerz unterdrücken, die Freude nicht. So vernimm denn die Wiederholung alles dessen, was mich in dem Zeitraume dieses Jahres beseligte. Im ganzen ist mein Leben eine fortlaufende Kette von glücklichen Tagen, nur wenige darunter zeichnen sich durch ein wichtiges Ereignis aus. Unter diesen sind wohl die denkwürdigsten diejenigen, wo unserer Republik junge Bürger geboren wurden. Ja, meine Adele, ich wiege einen lieblichen Knaben auf meinem Schoße, Mucius' Ebenbild, welcher mit diesem Kinde zum Kinde wird. Aus meinen Armen geht es in die seinigen; er forscht in dem kleinen Gesichte nach Ähnlichkeiten von mir, ich will, es soll ihm ähneln, und dies gibt die einzige Veranlassung zu kleinen, freundlichen Streitigkeiten zwischen uns. Außer unserm Knaben sind noch achtzehn Kinder im Laufe des Maimonats geboren, nämlich vier von den Negern, sechs in dem deutschen Dorfe, acht bei uns, soviel Knaben als Mädchen, unsere Hausmütterchen erwarten in einigen Monaten ihre zweite Niederkunft. Das wird ein Leben werden in der kleinen Republik! Schon jetzt verführen die Väter einen Lärm mit den jungen Mitbürgern, besonders Pinelli, daß wir alle lachen müssen, und die Wiegenlieder der Mütter bilden ein ordentliches Konzert.

Vom Klima begünstigt, sind wir alle leicht und wohlgemut entbunden worden. Schon am zehnten Tage, so wollte es Salvito, ging jede der Mütter, ihren Säugling im Arme, zum Tempel. Hier war der Altar mit Blumen bedeckt, die Mutter legte das Kind auf die Blumen nieder, dankte dem Ewigen kniend für das teure Geschenk und bat um Erhaltung des zarten Lebens. Der Vater trat hinzu, segnete das Kind, nahm es auf, nannte, es der Versammlung[194] zeigend, laut den Namen desselben und gab es der Mutter zurück. Wir haben unsern Kleinen, zum Andenken an seinen Großvater, Leo genannt, möchte er ihm ähnlich werden!

Seit dieser Zeit wird oft die Erziehung der Kleinen erwogen. Im ganzen wird sie, der allgemeinen Meinung nach, sehr einfach sein. Liebe und Beispiel sollen, statt aller Strafen und Ermahnungen, hinreichen; spielend die Kräfte der Kinder, sowohl leiblich als geistig, ausgebildet und beide Geschlechter, bis zum zwölften Jahre, ganz gleich beschäftigt und unterrichtet werden; auch ihre Kleidung wird dieselbe sein, ein farbiger Überwurf, nur bis zur Wade reichend. Sie werden klettern, ringen, fechten, wettlaufen, tanzen, schwimmen und an den Arbeiten, nach ihren Kräften, teilnehmen. Lesen, Schreiben, Rechnen lernen sie dabei, als gesellschaftliche Vergnügungen, in den Stunden der Muße unter den schattenden Platanen oder am flammenden Kamin; Musik und Zeichnen sollen ebenso behandelt werden. Die Naturbeschreibung wird in Erzählungen vorgetragen oder auf Spaziergängen, welche besonders der leidenschaftliche Botaniker Stauffach dazu benutzen wird. An diese wird sich die Erdbeschreibung, jedoch erst später, anschließen, Geschichte am spätesten gelehrt werden. Mucius wird zu dem Ende eine kleine Weltgeschichte ausarbeiten und in Philadelphia drucken lassen. Sie wird treu, aber aus einem anderen Gesichtspunkte aufgefaßt, mehr die Geschichte der Völker als ihrer Führer sein. Den Helden werden ihre Lorbeerkränze nicht entzogen werden, aber der Eichenkranz des Bürgers, der friedliche Ölzweig werden eine höhere Bedeutung erhalten; der Hauch der Freiheit wird durch das ganze Werk hinwehen und darin auch angegeben werden, wodurch das Menschengeschlecht diese Himmelstochter von seinen Fluren scheuchte, mit ihr das Paradies verlor.

Mit dem zwölften Jahre werden die Mädchen zur Haushaltung und zu künstlichen Arbeiten mit der Nadel und[195] auf dem Webestuhl angeführt, die Knaben lernen die höheren Wissenschaften und die toten Sprachen; die lebenden sich zu eigen zu machen, dazu haben sie täglich, von der frühesten Jugend an, Gelegenheit, denn Französisch, Italienisch, Deutsch und Englisch werden abwechselnd bei uns gesprochen. Französisch ist die allgemeine Sprache, Englisch wird bei dem Mahle und am Teetisch geredet, aus Liebe für Ellison, Lucia und Fanny, Italienisch lassen Rosalva, Antonio und Pinelli nicht aussterben, sie haben den beiden Knaben Franks und Vanhusens schon eine Menge liebkosender Worte stammeln gelehrt; mit ihren Spielgefährten, einem halben Dutzend deutscher Kinder, reden sie Deutsch. Von den höheren Wissenschaften und den gelehrten Sprachen lernt jeder dann nur, wozu seine Neigung ihn treibt oder wozu man entschiedene Fähigkeiten in ihm entdeckt, notwendig sind sie keinem. Lehrer ist jeder der Männer in seinem Lieblingsfache. So unterrichtet man jetzt schon spielend die deutschen Knaben und ein paar muntere Negerbuben; künftig werden auch diese mit den unsrigen gleich erzogen. Wie lächerlich wird einst unsern Jünglingen der Kastengeist erscheinen, mit welchem der größte Teil des Erdkreises zu kämpfen hat!

Die körperliche Erziehung der Knaben wird mit ihren zunehmenden Jahren immer sorgfältiger fortgesetzt und nichts versäumt werden, sie abzuhärten. Sie werden alle Fähigkeiten eines kriegerischen Volkes erlangen, ohne es zu wissen; besonnenen Mut, Ausdauer und Verachtung der Gefahren werden sie auf den Bären- und Wolfsjagden in den Grenzwaldungen lernen, ihre Spiele werden kriegerisch sein, ohne daß sie jemals das Wort Krieg hören, und die Regeln der besten Taktik ihnen als Regeln eines Spiels geläufig werden. Sollte jener Dämon jemals bis durch diese Wälder dringen, dann wird er ein waffenfähiges Volk finden, welches den Frieden wie die ganze Welt liebt, aber jedes Unrecht abzuwehren wissen wird; selbst unsere starken Mädchen würden den Webestuhl verlassen und mit den[196] Waffen, dem Spielgerät ihrer Kindheit, ihre Freiheit und ihre Ehre verteidigen. Doch dahin wird es nicht kommen, der Genius der Menschheit wird diese stillen Täler schützen.


Unser Leben, unser Treiben ist noch ganz dasselbe, wie ich es Dir im vorigen Jahre schilderte. Noch haben wir nirgends eine Lücke bemerkt, und ich hoffe, als ein altes Mütterchen werde ich dir nichts anders zu sagen haben als: »Wir sind glücklich.«

In diesem Frühjahre machten wir unsere erste Zuckerernte in den Ahornwäldern, alles legte Hand an, selbst die Kinder. Der Ertrag ist so reichlich gewesen, daß, auch bei verschwenderischem Verbrauch, unser Bedarf auf drei Jahre gesichert sein würde. Wir schicken die Hälfte nach Louisville, auch Tabak und Farbekräuter, mit deren Erzeugung Stauffach sich emsig beschäftigt; er hat uns schon die schönsten Garne und Gewebe gefärbt. Frank erwirbt sich um das Maschinenwesen unsterbliche Verdienste, Antonio hat einen Speicher im rein antiken Stil erbaut, Vanhusen und seine Gehülfen haben uns die seltensten Früchte und Blumen gezogen, die herrlichsten Gruppen von Bäumen auf Bergen und am Rande der Savannen gepflanzt, auch mancherlei Heilkräuter, nach Salvitos Anweisung, angebauet. Dieser Schutzgott unserer Nachbarn hat seine versprochene Reise den Schawanoe hinauf gemacht, und das von ihm, durch Rat und Tat, gestiftete Gute ist nicht zu berechnen. Seine chemischen Kenntnisse kommen uns überall zustatten, besonders bei der Kelter. Unser Wein verspricht ganz vorzüglich zu werden, selbst der Palmensekt und das Birkwasser sind ziemlich haltbar.

Die Feldbauer, nebst ihren weißen und schwarzen Gehülfen, haben Überfluß erzeugt, Maria und Lucia bleichen das schönste Gespinst im Sonnenstrahl und im Schimmer des Mondes, und die Seidenwürmer haben mit uns um die Wette gesponnen; auch von ihrer Arbeit werden Proben nach Louisville gehen. Das Vieh gedeihet herrlich.[197] Mein Milchgewölbe hat Überfluß, ungeachtet mehr als die Hälfte des Mutterviehes die Kälber großgesäugt hat. So im Schoße des Überflusses, liebend und geliebt, frei und im Frieden mit der ganzen Welt, ruhig in die Vergangenheit, heiter in die Zukunft blickend, gibt es eine beneidenswertere Lage als die unsere? Oh, ich möchte der ganzen gepreßten Welt zurufen: Flüchtet euch in die Wildnisse von Amerika! Nur am Mississippi, am Missouri, in den Wäldern von Louisiana wohnt der Friede, lächelt das Glück. Aber das Gemüt dafür muß man mitbringen, Kenntnisse und Tätigkeit, dann findet man sein Eden hier oder nirgends.


Wir haben erfahren, daß ein großer Teil unserer Landsleute nach diesem Weltteil sich gewendet hat und daß Joseph Napoleon willens ist, nahe bei Baltimore eine Stadt zu gründen. Ja, ja, die Trojaner flohen aus ihren brennenden Mauern nach mehreren Gegenden hin, aber nur Äneas rettete die Heiligtümer aus den prasselnden Flammen und barg sie in Silvius' dunklen, nächtlichen Hain. Laß mir den kühnen Gedanken: Mucius und seine Freunde sind jener Äneas mit seinen Gefährten, das Schicksal gefällt sich in solcher Wiederholung. Hierher, in die Wälder von Kentucky retteten wir unsere Götterbilder; werden sie einst, wie Trojas Götter, ein großes, freies und hochherziges Volk verbinden? Oh, du Ewiger über den Sternen, wir hoffen es! Josephs Stadt wird nie ein Rom werden; man wird darin Schauspielhäuser und Kirchen bauen, Kaffeehäuser und Tanzsäle errichten, kokettieren, kabalieren, scheinen, schmeicheln und repräsentieren, wie ehemals! Die großen Lehren der Zeit gehen an diesem Geschlechte verloren; fern von uns jede Gemeinschaft mit demselben! Selbst Napoleon, der bewundernswerte, würde in unserm Freistaate sehr unwillkommen sein; einmal vom Taumelkelche der Herrschaft berauscht, taugt schwerlich jemals ein Mensch auf dem Platze des harmlosen Bürgers. Er, der Feuergeist, war dazu geschaffen, ein in wilde Parteien[198] zerspaltenes Volk zu vereinen und zu halten, ja die Erde unter eine Alleinherrschaft zu bringen; in einen wahren Freistaat paßt er nicht. Vielleicht hätte er einst den Frieden der Welt und die Vereinigung der Völker, auf einem andern Wege, herbeigeführt. Lange glaubte ich, diesen Plan des Schicksals in dem Laufe der Dinge zu sehen, doch plötzlich verwandelt sich das Welttheater, und noch läßt sich nichts Bestimmtes über den Inhalt des nächsten Akts sagen, der Knoten ist von neuem geschürzt und die Entwickelung weiter hinausgeschoben. Aber meine Wünsche, unsere Wünsche, sind dieselben geblieben, Friede und Freiheit der Welt, Wahrheit und Gerechtigkeit herrschend und das physische Dasein auch dem Letzten der Sterblichen, ohne harte Sorgen und Not, gesichert. Wir mußten diesen Wünschen, diesen Hoffnungen einen andern Stützpunkt geben, um nicht mit hinabgezogen zu werden in dem allgemeinen Untergang. Wir fanden ihn, verzeihe dem kühnen Gedanken, wir suchten ihn wenigstens in der Kolonie von Kentucky. Kultur, mit Sitteneinfalt im Bunde, sollten hier, in der Verborgenheit, ein Geschlecht großziehen, welches vielleicht einst den Völkern zum Vorbilde und Vereinigungspunkte dienen könnte. Das mächtige Troja fiel unter den vereinten Kräften der Griechen, aber Äneas rettete die Schutzgötter des Reichs, er und seine jungen Gefährten gründeten Alba und bargen die Heiligtümer in seinen dichtverwachsenen Hainen. Das schwache Häuflein wuchs, seine Urenkel erbauten die Siebenhügelstadt, und heilbringend zogen die Götter ihrer Ahnen bei ihnen ein. Solange ihr Dienst noch unentweiht bestand, war Rom glücklich und groß.

Wehe, auch das große, auch das glückliche Rom versank! Woran mahnt mich diese Erinnerung des ewigen Wechsels! Wird denn die Entwicklung des Menschengeschlechts ewig den Kreislauf gehen, sein Zustand niemals Dauer erhalten? Werden die Blätter der Geschichte ewig vergebens für uns geschrieben sein? Verzweifeln[199] würde ich, müßte ich dies als unwandelbares Gesetz anerkennen, ich kann, ich will es nicht denken. Eine köstliche Frucht bedarf lange Zeit zu ihrer Reife. Rauhe Stürme streiften ihre Blüten ab, lange liegt sie in harter Schale verborgen, mitten in den Ungewittern, sie hat die Fröste der Nacht und den sengenden Strahl des Mittags überdauert, aber an der milden Sonne des Herbstes wird sie die Schale öffnen, und der süße Kern dringt gezeitigt hervor. Möge er lange dauern, der Herbst!


Wir haben gestern ein freundliches Fest gefeiert, Humphrys Hochzeit mit einem sanften deutschen Mädchen. Wir führten, in feierlichem Aufzuge, das mit Myrten und Rosen gekränzte Brautpaar zum Tempel. Sie wechselten am Altar die Ringe und sprachen laut den Schwur der ewigen Treue; die Eltern der Braut segneten sie, und wir alle beteten für ihr Glück. Ein frohes Mahl unter den Platanen vereinte die ganze Kolonie; der Becher ging fleißig umher, und mancher herzliche Trinkspruch wurde ausgebracht. Wir haben dabei des Heils unsrer europäischen Brüder nicht vergessen; auch auf Deine Gesundheit wurde der Becher geleert. Der Tanz, welchen unsre Neger besonders leidenschaftlich lieben, dauerte bis spät in die Nacht, und erst gegen Morgen wurden die Neuvermählten, trotz Mondenlicht und Frührotsschimmer, mit Fackeln zu ihrer neuen Wohnung geführt. Es gewährte einen eigenen, schönen Anblick, wie der Zug, bei dem hellen Fackelschein, durch das lange Tal wallte und wie das Licht die Baumgruppen erhellte und dann neue Schatten warf. Es ist wieder ein schöner Vorwurf für Pinellis Kunst, welche er fleißig übt. Humphrys Wohnung liegt im deutschen Dorfe, eine Viertelstunde von hier. Sobald die Vermählten die Kammer betraten, wurden die Fackeln an der Schwelle des Hauses gelöscht, man rief »Hymen! Hymenäus!«, und der ganze Zug ging zu seinen Häusern zurück.[200]

Kindliche Nachahmungen altgriechischer Sitten, wie schmeicheln sie die Phantasie in jenes schöne Zeitalter hinüber, wo das Menschliche mit dem Göttlichen noch verschwistert war, wo der dünkelvolle Erdensohn sich noch nicht losgerissen hatte von dem leitenden Bande seiner Mutter Natur! Uns, vor allem Mucius und mich, Dupont und Zephyrinen, ziehen die griechischen Lebensformen mächtig an; es waren die Sitten unserer Ahnen, Abkömmlinge jener Messenier, welche Marseille gründeten; wie jeder Provenzale es mit geheimem Stolze rühmt, hat jede Erinnerung an sie einen namenlosen Reiz für uns. Es ist unsere Lieblingsunterhaltung, die älteren griechischen Dichter und Prosaisten zu lesen, welche Mucius meisterhaft und aus dem Stegreif übersetzt; mit ihnen haben wir die kurze Zeit des leichten Winters sehr angenehm ausgefüllt. Selten kam mein Ossian an die Reihe, obschon die meisten der übrigen ihn besonders lieben, weil sie ihn ohne Auslegung verstehen. Auch bei mir steht er noch in hohem Werte, wenngleich meine Stimmung mich seltener zu ihm hinzieht. Ossian ist der Sänger der Schwermut, und rings um mich her herrscht heitere Lebensfreude. In die Lethe versenkt sind die Bilder der düstern Vergangenheit, eine neue Sonne, ein neues Dasein ist für uns alle aufgegangen. Mag Europa nun schnitzeln und künsteln an seinen Formen, wir haben sie von uns geworfen, mit einem mutigen Wurf; und wie auch die Verwirrung herrsche, uns berührt sie nicht. Arme Adele, könnte ich doch Dich hierher retten! aber auch nur Dich allein. Ich fürchte immer, auch Du wirst ein Opfer tyrannischer Willkür. Wärst Du nicht in Europa, ich würde selten dahin denken, denn ich denke ungern an das dortige Getreibe. Alles, was ich wieder von dort vernommen habe, ist nicht beruhigend; der große Streit ist noch nicht abgeschlossen, lange, lange noch nicht, er kann noch Menschenalter überdauern. Furchtbare Krämpfe erschütterten die kreißende Welt, aber es erfolgte eine unzeitige Geburt; das wirkliche Götterkind liegt noch tief verborgen im[201] Schoße der Mutter, neue stärkere Wehen werden es einst an das Tageslicht fördern. Wann? das steht im Buche des mächtigen Schicksals. Wehe dem armen Geschlechte, welches als Geburtshelfer um die Kreißende steht! aber auch Heil dem, welches um die Wiege des Neugeborenen tanzt! Junges, kräftiges Leben entwickelt sich aus Zerstörung und Tod, das ist der Trostgedanke für das untergehende Geschlecht; der Blick in die Zukunft kann allein den sinkenden Mut erheben. Ach, nicht jeder vermag über die Spanne seiner Zeit und seines Raums hinwegzublicken, und der Sohn des Staubes zerstäubt mit ihm; nur der Geist, welcher sich eins fühlt mit dem Unendlichen, wird ewig sein mit dem Ewigen, er sieht im Heute schon das Morgen, und die kleinlichen Sorgen der Gegenwart berühren nur sein irdisches Teil, hinüber schwingt er sich unter die Palmen des ewigen Friedens!


Uns Lieblingen des Schicksals säuseln schon hienieden jene friedlichen Palmen, uns säuselt der delphische Lorbeerhain. Oh, meine Adele, könnte ich Dich einführen unter ihren erquickenden Schatten! Deinen Namen tragen die glatten Stämme der weißen Birken und Buchen und des blühenden Tulpenbaumes, am Ohio, am Kentucky und am Schawanoe; Deinen teuren Namen ruft mir stündlich mein zahmer Papagei zu und lehrt ihn seinen wilden Brüdern, wenn er mit mir durch die Haine hüpft; Deinen Namen wird mein Leo stammeln, sobald er »Vater« rufen kann. Oh, könntest Du meine freundlichen Haine sehen und meinen Knaben segnen! Tue es in der Ferne, meine Adele, so wie wir Dich segnen, mein Mucius und ich. Zephyrine und Philippine grüßen Dich, erstere als Landsmännin, letztere, weil ich sie oft mit Dir verglich, Ellison grüßt Dich vor allen. Er hat den Vorteil, Dich zu kennen, und stimmt oft in meinen Wunsch ein, Du möchtest eine der Unsern werden; Du seist vor allen wert, sagt er, unser wiedergefundenes Eden zu schmücken, doch, wo Du auch[202] lebst, Du trägst es in Deiner Brust. Laß es Dir nimmer rauben, nimmer Dein besseres Gefühl ertöten vom Pesthauche der Selbstsucht und der kleinlichen Eitelkeit. Dein Wahlspruch sei Wahrheit und Gerechtigkeit, so bist Du der Kolonie von Kentucky verbündet.

Lebe wohl im Geräusch Deiner Welt! Vergiß nicht die Sorge für die armen Bewohner von Chaumerive. Noch einmal empfehle ich sie dem Herzen Deiner guten Mutter. Laß die Blumen um das Grab der Meinigen nicht ganz ersterben. Oh, daß mein Vater, daß Emil nicht auch dort unter begrünten Hügeln ruhen! Auch ihnen lege, jeden Sommer, Kränze der Erinnerung auf der Mutter Grab; vielleicht, daß Dir dort mein Geist einmal freundlich begegnet.

Dort wuchs ich auf unter den Heldenbildern der Griechenwelt, hier am Kentucky schließe ich einst lächelnd mein Auge, von den Lebensbildern jener Unschuldswelt umflattert. Lebe wohl! Lebe wohl, meine Adele! Friede mit Dir! Friede mit der ganzen Welt!


Deine Virginia.[203]

Quelle:
Henriette Frölich: Virginia oder Die Kolonie in Kentucky. Berlin 1963, S. 139-204.
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