Fünfzehntes Kapitel

Lukas am Fünfzehnten und Schlußkapitel

[302] Zehn Jahre waren seit Sophiens Tode verflossen, als mein Urgroßvater eines Morgens einen Brief erhielt. Wäre die Frau Postmeisterin nicht zur ewigen Ruhe eingegangen, die würdige Dame würde Unerträgliches erduldet haben, denn die Adresse war in lateinischer Sprache abgefaßt, der Stempel der eines nie geahneten Orts, der weit hinten im Zigeunerlande liegen sollte, und unser sprachkundiger Herr Rektor konnte den Inhalt nur mit Mühe[302] entziffern und bewahrte standhaft das Schweigen, das er seinem Freunde Haller gelobt hatte.

Im Laufe dieses Tages übergab mein Urgroßvater sein Testament, packte drei mächtige Seehundskoffer und viele Kober mit Betten, Wäsche, Kleidern und Vorräten aller Art, bestellte Extrapost und betraute seine Frauenzimmer mit der Verwaltung von Haus und Geschäft während seiner Entfernung in einer wichtigen Angelegenheit. Am anderen Morgen reiste er ab. Die beiden Frauen waren betreten und betrübt. Als aber nach Ablauf mehrerer Wochen wiederholentlich Briefe von dem Vater einliefen, zwar aus Ortschaften, von deren Lage sie sich keine Vorstellung machten, aber mit der Kunde seines Wohlbefindens und Wohlgelingens, da beruhigten sie sich und taten mit froher Lust, was sie vermochten, den fehlenden Herrn im Hause zu ersetzen.

Nach Monaten des Alleinseins erbrachen sie endlich einen letzten Brief, gezeichnet aus Leipzig, und Lenchen las ihrer Mutter die folgenden Worte vor:

»Wenn ihr diese Zeilen erhaltet, so nehmt die Heilige Schrift in eure Hand und lest in Andacht das fünfzehnte Kapitel des Lukas vom eilften Verse ab. Ihr werdet dann wissen, was ihr zu tun habt, wenn ich morgen abend heimkehre und einen mit mir bringe, der verloren war, aber wiedergefunden, der tot war, aber lebendig worden ist.«

Und am anderen Abend hielt ein Reisewagen vor der Tür, und der kräftige Vater trug auf seinen Armen den verlorenen Wiedergefundenen, den toten Lebendiggewordenen, seinen schwachen, kranken, unglücklichen Sohn zurück in das Vaterhaus. Mutter und Schwester hielten sich verborgen, aber das Haus stand geschmückt und erhellt wie[303] zu einem Fest, Blumen dufteten in Sophiens Zimmer, geöffnet und reingestimmt war das alte Klavier und bekränzt der Schattenriß, der darüber hing. Die Diener trugen ihre Sonntagskleider und weinten helle Freudentränen.

Der Vater legte den Sohn auf der Mutter einstiges Ruhebett und sprach: »Du bist in deinem Hause, mein Kind, Gott lasse es dir zur Heimat werden.«

Joseph aber sprang vom Lager auf, warf sich zu Boden, umklammerte seines Vaters Knie, drückte die Stirn in seinen Schoß und weinte bitterlich. –

Und nun tröpfelte die Zeit ihren Balsam. Joseph genas körperlich unter der beiden Frauen heiterer Pflege und auch sein Gemüt muß sich ja wohl aufgerichtet haben, denn es wird dem Leser ja längst kein Geheimnis mehr sein, daß das treue Lenchen am Ende doch noch meine Großmutter geworden ist und nach ihrem eignen Dafürhalten eine glückliche Frau. Zum rechten Mannesfrieden hat es Joseph nach den Stürmen der Jugend aber dennoch nicht gebracht; sein innerstes Mark war gebrochen mit einer, deren Lebensschiff auf hoher Flut gewogt hatte und im Sumpfe versank. Niemals hat Joseph ihren Namen vor heimischen Ohren genannt; aber eine goldene Locke von ihrem Haupte lag mit dem Schattenriß der Mutter auf seinem Herzen bis in sein frühes Grab.

Der Vater überließ den Kindern das in jener Unglückswoche erworbene Gut; dort spannen sich ihre Tage ab zwischen Lust und Leid; dort erwuchs jene zweite, schönere Sophie, welche David Hallers Augen- und Herzenstrost im Alter und meine Mutter geworden ist.

Für ihn, David Haller, kam die Drangsal der Franzosenkriege, schwere Verluste an Hab und Gut, der Wechsel[304] der Landesherrschaft, zuletzt der Tod von Sohn und Frau; aber keine Gebrechen und Lasten des Alters, weder an Seele noch Leib, kein Irren und Fehlen auf seiner langen Bahn. Ebenmäßig, wie ich es in der Einleitung angedeutet habe, wickelte sein Dasein sich ab bis zur letzten schönen Stunde.

Es war der Abend vor dem ersten Advent, an welchem er gewohnt war mit den Seinen das heilige Mahl zu genießen. Meine Mutter hatte ihm den Abendsegen gelesen und er mit ganz besonderer Rührung ihr gute Nacht gesagt. Zu rechter Stunde klopfte die Großmutter am andern Morgen an seine Tür, ihn für die fromme Feier zu wecken; da er nicht antwortete, öffnete sie leise und trat in die Kammer. Die Nachtlampe vor seinem Bette flackerte im Verlöschen und beleuchtete ein Bild heiligen Friedens. Die Bibel, in welcher der Greis vor dem Entschlummern gelesen, lag offen auf seiner Brust, die Hände waren sanft darüber gefaltet, die Züge ruhig und der Kopf geneigt wie die eines Schlummernden. Aber das Herz stand still; inmitten der tiefsten Andacht hatte es aufgehört zu schlagen.

Und drei Tage nach diesem weinten viele mit uns an seinem Grabe und sagten Amen zu dem Spruche seines geistlichen Freundes:

»Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatze seines Herzens.«

Und dir, mein Leser, und mir und allen Menschen wünsche ich, daß dieser Spruch mit gleichem Rechte uns nachgerufen werde.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 302-305.
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