Achtes Kapitel

Noch einmal: O Joseph!

[243] Joseph stand am Grabe, als seine Mutter versenkt ward. Seine Knie schwankten. Er wäre in die Grube getaumelt, wenn der stärkere Vater ihn nicht gehalten hätte. Nie hat ein Sohn inniger um seine Mutter getrauert. Es war sein erster Schmerz und der einzige, den er begriff. Alles[243] andere dünkte ihm gleichgültig. Er wußte nicht, was fortan mit dem Leben beginnen. Sollte er nach Leipzig zurückkehren, wo er so glücklich gewesen war? Fort aus den Räumen, die ihre Gegenwart geheiligt hatte, fort von ihrem Grabe? Zum ersten Male im Leben regte sich überdies in ihm ein Keim von dem Triebe, welcher das Lebensprinzip seines Vaters war, von dem Triebe einer Pflicht. Durfte er den Vater verlassen? Mußte er nicht versuchen, ihm ein Gefährte, ein Gehülfe zu werden? Aber wie das beginnen, wie sich sammeln zu gleichgültigem Tun nach dem ungeheuersten Schmerz?

Anders der Vater. Auch er trug Herzeleid; auch er fühlte, daß ein guter Geist aus seinem Hause gewichen sei, er weinte nachts in seiner Kammer und suchte im Gebet die Selige heim am Throne ihres Herrn. Aber das besonnene Tagewerk ward nicht durch seine Trauer gehemmt, nicht eine Stunde versagte ihm die äußere Fassung, welche dem Manne und Bürger bei schweren Lebensprüfungen ziemt. Den Sohn ließ er gewähren, wenn auch mit Sorgen; er sann nur immer wieder und wieder darüber nach, wie er das fremdartige Wesen lind und leise genug fassen sollte, um es Sophiens Liebe gleichzutun. Joseph war und blieb unzugänglich, antwortete auf alle Fragen mit einem dürren Ja oder Nein; saß versunken in der Mutter Zimmer, auf ihrem Lieblingsplatz im Garten, auf ihrem Grabe. Als die Jahreszeit vorrückte, schweifte er tagelang in der Gegend umher; aber immer allein, er floh allen Umgang; sein bloßer Blick rief dem Begegner zu: »Weiche von mir, störe nicht meinen Schmerz!« Der Vater wurde immer unruhiger einem Zustand gegenüber, der auch die körperliche Gesundheit des Jünglings sichtlich[244] erschütterte. Er gab das still Gewährenlassen auf, und es verging kein Tag, daß er ihm nicht eine Ansprache hielt über die Notwendigkeit, sich in Gottes unerforschlichen Ratschluß zu fügen, über die Pflicht, seine Erdenbestimmung zu erfüllen, und die Gewißheit eines ewigen Wiedersehns. Joseph, ach! schien verstockt gegen die gültigsten Wahrheiten.

Nach und nach wurde es dem Vater zur Überzeugung, daß nicht Gram allein, sondern mehr noch die träge, schlendernde Lebensweise des Jünglings Leib und Seele also zerrütte. Er überwand daher seine Scheu und mahnte ihn so glimpflich als möglich zu einem Einblick und Eingriff in die förderliche Tätigkeit seines Hauses. Joseph nahm einen Anlauf; er setzte sich an des Vaters Pult und klappte das große Buch mit dem Hallerschen Kredit und Debet auf. Unmöglich. Die Zahlen stimmten nicht; so trockene Schemata konnte auch ein Geringerer füllen; diese gleichlautenden Briefe allenfalls eine Maschine schreiben. Er suchte einen lebendigeren Verkehr, ging zu den Wollkämmern, zu den Spinnern und Webern. Aber zu welchem Ende diese geistige Tortur? War es ihm nicht mehr als gleichgültig, ja unterschied er es auch nur, ob das Material eine Probe weicher oder härter war, das Haar ein wenig länger oder kürzer gekämmt, ein wenig feiner oder gröber gesponnen der Faden, loser oder fester das Gewebe? Nein, so weit war er noch nicht geheilt, hätte nicht geheilt sein mögen, um über solchem Mechanismus eine Mutter zu vergessen.

An einem Sonntag, als die Glocken zum Frühdienst läuteten, sagte der Vater: »Du gehst niemals zur Kirche, mein Sohn. Gottes Wort würde dich stärken.«[245]

Joseph zuckte die Achseln und schwieg.

»Deine selige Mutter war so fromm und hielt ihres Gottes Haus so hoch in Ehren!«

»Meine Mutter!« rief Joseph, nahm seinen Hut und ging in die Kirche. Als er um die Mittagszeit nach Hause kam, fragte der Vater:

»Nicht wahr, mein Sohn, du fühlst dich getröstet?«

»Getröstet durch diese Salbaderei?« entgegnete Joseph verächtlich.

»Versündige dich nicht, Joseph!« rief der Vater mit Entsetzen.

»Abgedroschene Gemeinplätze und dieser näselnde Singsang! Die Geduldsprobe war zu stark. Mitten in der Litanei lief ich fort!«

Mein Urgroßvater besaß ein robustes Nervensystem; aber bei dieser Lästerung wurde er blaß und jählings purpurrot. Es kochte in ihm und drohte überzuwallen. Dennoch faßte er sich auch diesmal und sagte nach einer Pause mit Ruhe: »Mein Sohn, der fromme Mensch trägt allezeit mehr aus seines Gottes Hause, als er hineingetragen hat; er vernimmt das unvergängliche Wort auch aus gebrechlichen Lauten.«

Joseph schwieg, aber zur Kirche ging er nicht wieder; den vorwurfsvollen Blick des Vaters, sooft die Glocken läuteten, schien er nicht zu verstehen.

So schlichen die Tage hin ohne Plan, ohne Arbeit, ohne Freude für den jungen Mann; selber musizieren mochte er nicht mehr; es fehlte ihm ein Echo in einem Menschenherzen; es war eine klägliche Existenz.

Der Sommer verging; Herbstregen und Stürme schnitten die Streifereien im Freien ab, unter Seufzen und Brüten[246] kam Martini heran, das Fest der Schulkinder, ein Sporn den Kleinen, die es werden sollten; kaum minder ersehnt als der Heilige Christ.

Seit Tagesgrauen wogte ein fröhliches Treiben in Häusern und Straßen; das Wetter war abscheulich; drei Wochen hatte es fast ohne Unterlaß geregnet, und auch heute ging es, wie man so sagt, naß nieder. Die Füßchen blieben oftmals stecken im schwarzen Morast der großenteils ungepflasterten Straßen: ein Anlaß mehr zu Lust und Jubel für das kleine Volk. Im besten Sonntagsstaat sammelte es sich auf dem Markt; die Mädchen, die guter Leute Kind waren, trugen sogar weiße Kleider und Kränze auf dem Kopf; den Jungen war das Haar in nagelneue Beutelchen gebunden. Nach den Klassen geordnet, die Kurrende voran, das hohe Lutherlied singend, ging nun der Zug durch alle Hauptstraßen nach dem Schulhaus hinter der Kirche. Körbe voll Äpfel und Nüsse wurden in den Händen getragen, auch Weinflaschen und gebackene Martinshörner auf grün verzierten Brettern. An bunten Spießen prangten gelbe Zitronen, Fahnen wehten; inmitten jeder Klasse schnatterte die fette Martinsgans, in einem Deckelkorb von den vier Stämmigsten befördert; voran aber schritten Oberster oder Oberstin, die auf blankem Zinnteller, in einen Stettiner Apfel geklemmt, eine klingende Spende trugen. Sie war durch Sammeln batzenweise aufgebracht und jedes Stücklein blank geputzt worden, um heute nebst den eßbaren Gaben in feierlicher Rede dem hochzuverehrenden Hirten von seiner untertänigen Herde in pflichtschuldiger Dankbarkeit gewidmet zu werden. Der hochverehrte Hirt dankte mit nicht minder wohlgesetzten Worten und lud seine ihm von Gott anvertraute Herde ein, am[247] Nachmittag das hohe Freudenfest mit ihrem getreuen Hirten zu begehen.

Es war ein saurer Tag, saurer selbst als der des Examens in der Woche vor Ostern, ja der sauerste im ganzen Jahre, dieser Tag Martini für die alten, würdigen Herren. Denn sie alle hatten graue Haare: der Rektor, der Kantor, die beiden Mädchenlehrer; nur der Bakkalaureus, der eine Karriere erst erhoffte, stand noch in den Vierzigen. Denn welcher Vater von damals hätte seiner Tochter zumuten mögen, vor einem bartlosen Jüngling, kaum dem Seminar entlassen, Respekt zu hegen? Oder solch einem Jüngling gestatten, seinen Jungen braun und blau zu schlagen? Respekt und Stock bedürfen der Jahre. Heutzutage, wo ersterer der Sitte nach, letzterer wenigstens dem Gesetz nach aus der Mode gekommen ist, da können freilich Seminaristen und selber Seminaristinnen das Lehren betreiben, wie ein leichtes Spiel; zu meines Urgroßvaters Zeiten war auch das Spiel ein schweres Arbeitsstück.

Ja, wer euch sah, euch graue, gebückte Männer in schwarzem Manschester; sah am kurzen, trüben Novembernachmittag in der niedern, heißen Klasse hinter der Kirche, zwischen einer undurchdringlichen Wolke von Qualm und Staub; wer euch sah: drehen, springen, tanzen, klettern, Kaffee einschenken, Lichte schneuzen, Spiele angeben, Frieden stiften und den Stock applizieren; wer euch hörte: singen, pfeifen, Ruhe gebieten, klatschen, drohen, schreien, die Geige spielen, fluchen und zu guter Letzt noch beten; ja, wer euch also hörte und sah, der konnte nicht ein menschliches Herz im Busen tragen, oder er mußte gestehen, daß kein Mensch saurer sein Brot im Schweiße seines Angesichts[248] verdiene als ein Lehrer überhaupt und ein Lehrer am Martinstag insbesondere; und verachten, wie mein Urgroßvater es tat, mußte er jene neuernden Schreier und Neidhammel in der Gemeinde, welche schon dazumal anfingen, die Martinigaben eine erbärmliche Bettelei zu schelten und auf die Abschaffung dieses einem lutherischen Herzen teueren Zolls zu dringen.

Joseph stand neben seinem Vater am offenen Fenster der Ladenstube, als die fröhliche Prozession sich auf dem Marktplatze entwickelte. David hatte seinen herzlichen Spaß an dem bunten Gewimmel; er rief und nickte den Kleinen zu, lachte hellauf über das Patschen und Waten und Steckenbleiben und Auf-die-Nase-fallen in dem handhohen, schwarzen Moraste; er fühlte sich selber wieder zum Kinde werden mit den Kindern; hätte er doch so gern eine eigne Kinderschar besessen und statt des Einzigen ein Dutzend, wie einst die Geschwister, zu versorgen gehabt.

Wie anders Joseph! Der Anblick der glücklichen Kleinen, die harmlos und ahnungslos einem dunklen Leben entgegengingen, machte ihm das Herz weich und schwer. »Wie bald wirst du weinen, du lachendes Kind!« sagte er zu sich selbst; »wie manches von euch wird bald ein anderes weißes Kleid, als das euch heute schmückt, umhüllen; wie manches wird tief und still gebettet werden, um auszuruhen von seiner Martinsfreude!«

Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Eine feste Burg ist unser Gott!« schallte es von unten herauf; der Vater, fromm die Hände faltend, stimmte ein. Joseph dachte an seine Kindheit, wie er am Vorabend des Festes sich vor Schlafengehen ein kleines Martinshorn aus Brot geknetet, ein Glas Wasser daneben gestellt und gebetet hatte: »Marteine,[249] Marteine, mache Wasser zu Weine!« Und wenn er beim Erwachen ein rosinengespicktes Martinshorn und ein Glas Wein an der Stelle gefunden, wie ihm dann niemals ein Zweifel gekommen war, daß der große Mann Gottes die Macht habe, fromme Kinder mit einem artigen Wunder zu erfreuen.

Seine Erinnerungen weilten noch bei der, welche die Seele seiner kindlichen Freuden gewesen war, als eine jache Verwirrung, ein schallendes Jauchzen und Lachen seine Blicke auf die Szene vor dem Hause zurücklenkte. »Ein Hochzeitbitter! Ein Hochzeitbitter!« jubelten die Sänger des Lutherliedes; der Zug löste sich auf, alt wie jung umringte die lustige Person, die hoch zu Roß sich Bahn durch die Menge brach. Ein mächtiger Flitterstrauß prangte an jedem Arm, ein dritter am dreikrempigen Hute; Dutzende von Tüchern und Bändern an Mann wie Gaul befestigt, flatterten beim Reiten gleich Flügeln in die Höhe. In Faxenschneiden und Possenreißen wurde dem Dorfgenie Ehre gemacht, endlich unter dem Juchhei des Chors vor dem Hallerschen Hause Posto gefaßt und in lustigen Reimen Meister David Haller und sein Mosjö Sohn für den Sonntag früh nach Bielitz eingeladen zu Mieke Bullens Hochzeit mit ihrem Schatz. Beifallklatschen und endloses Gelächter lohnte das wohlgelungene Redestück.

»Wir sollten die Einladung annehmen, mein Sohn,« sagte David Haller. »Kein Stand darf gering geschätzt werden, und Herablassung ziemt dem angesehenen Manne. Überdies ist Bulle der reichste Bauer der Umgegend; seine Grundstücke grenzen an die unseren; ich kaufe seine Wolle, seine Knechte und Mägde spinnen im Winter für unser Geschäft. Ich für meine Person werde zur Trauung mindestens[250] jedenfalls hinunterfahren. Begleite mich, mein Sohn.«

Halb gedankenlos willigte Joseph ein. Die Hausmagd brachte mit einem Glas Wein den zusagenden Empfehl und heftete noch ein Seidentuch mehr an des bunten lustigen Reiters Rock. Mit einem Vivat hoch! auf Meister Haller setzte derselbe noch bunter und lustiger seinen Umritt fort, der Zug ordnete sich von neuem, und »Eine feste Burg ist unser Gott« schallte es zum grauen Novemberhimmel hinauf.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 243-251.
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