Zweite Szene.


[536] Garten. Im Hintergrund Gartenmauer mit einer offnen Tür, welche auf die Straße führt. An der Tür eine Glocke. Links zur Seite der Eingang zum Wohnhause. Abendlicht.

Frau Box, Gertrud kommen aus dem Hause.


FRAU BOX. Heut habe ich ihn wieder gesehen. Ein großer Mann mit einem Schnurrbart, so lang, – er schlich sich auf den Hans zu, der vor der Tür spielte. Hier stand der Hans und[536] spielte, und so schlich sich der fremde Mann zu ihm heran und lockte den Hans, wie man eine Henne lockt: putt, putt, und hielt ihm eine Brezel hin.

GERTRUD lachend. Was Sie sagen! Vielleicht gefiel ihm der Hans, und es war nur Freundlichkeit.

FRAU BOX. I Gott bewahre! Freundlich sah er nicht aus, und er hatte auch einen Mantel um, recht wie ein Ausländer. Es war ein Gauner, liebe Gertrud, und Sie mögen den Hans in acht nehmen, das habe ich gesagt, und ich kenne die Welt.

GERTRUD. Ich danke Ihnen, Frau Box, ich will den Hans hüten, so sehr ich kann. Aber wer könnte auch etwas von unserm Knaben wollen?

FRAU BOX. Ach! Die Welt ist arg, und es geschehen ungeheure Verbrechen gegen die unschuldigen Kin der. Nun, gute Nacht, es ist Feierabend, die Arbeiter gehen nach Hause. Gottes Segen über jeden, der eine Heimat hat und ein Obdach zur Nacht! Und wem's daran fehlt, dem möge der Herr beides bescheren. Gute Nacht!

GERTRUD. Gute Nacht, Frau Box, vergessen Sie Ihre Nachbarin nicht! Frau Box ab, Gertrud bleibt an der offnen Tür stehen.


Rosa geht vorbei.


ROSA an der Tür stehen bleibend. Guten Abend, Gertrud!

GERTRUD. Willkommen, Röschen, wo kommst du her?

ROSA. Habe Milch geholt zum Abend. – Morgen ist Refourcentanz im Löwen, kommst du hin?

GERTRUD. Nein, lieber Schatz, du weißt, ich tanze nicht, aber meine kleine Rosa wird dort sein.

ROSA froh. Ja, Gertrud, der Wilhelm Schwarz kommt auch hin.

GERTRUD. Ah so, der Wilhelm! – Höre, Rotbäckchen, dann wirst du dich wohl aufs beste putzen; wenn du Blumen brauchst, weißt du, wo welche zu haben sind. – Aber jetzt sage guten Abend, sonst schilt deine Mutter. – Rosa ab.


[537] Arbeiter Bose geht vorüber.


Guten Abend, Bose! Wie geht's Euch, lieber Mann?

BOSE herantretend. Na, so so, Mamsell Gertrud. Seit meine Selige tot ist, will's nicht recht gehen. Man plagt sich den ganzen Tag, wie ein Lasttier, und wenn man abends nach Hause kommt, ist die Stube finster und der Herd kalt, und die Kinder verwildern bei dem Leben.

GERTRUD. Ja, es war ein großes Unglück für Euch! Aber Klagen hilft nicht, seht nach vorwärts, Mann, Ihr müßt wieder heiraten.

BOSE. Ja, wenn sich nur jemand fände.

GERTRUD. Ei, Mädchen gibt's genug, und Ihr seid ein ordentlicher Mann. Ihr müßt nur etwas auf Euch halten. Seht her, hier ist ein großes Loch in der Jacke. Immer hübsch akkurat im Anzug, das haben wir Mädchen gern, und ein ordentlicher Rock gibt dem Menschen Freude an sich selbst und Freude am Leben.

BOSE lächelnd. Sie haben immer recht, liebe Mamsell, und mit dem Heiraten, das will ich mir bedenken.

GERTRUD. Gute Nacht, Bose. Hört, Nachbar, morgen ist Sonntag, da schickt Eure Kinder zu mir, wir wollen sie über den Abend behalten.

BOSE. Ich danke, liebe Mamsell. Ab.


Hans Hacke und Korb tragend, hinter ihm Hiller von der Seite.


HANS wirft Hacke und Korb weg, läuft auf Gertrud zu. Tante Gertrud!

GERTRUD sich zu ihm niederbeugend. Mein Johannes, jetzt gehörst du mir ganz!

HILLER. Du Wildfang, wer wird das Gerät in den Weg werfen! Guten Abend, meine Tochter! – Der Maulwurf stößt auf, es wird Regen geben; alle Kreatur sehnt sich danach, die Pflanzen dürsten. – Geh', Hans, suche Birnen in den Korb. Hans ab.

GERTRUD. Bist du müde?[538]

HILLER. Das Alter drückt, nicht die Arbeit. – Es soll mich wundern, ob die Noisettes morgen aufblühen, meinst du nicht auch?

GERTRUD. Was, Vater?

HILLER. Du hörst mich nicht, du bist in Gedanken.

GERTRUD. Ich dachte an den Hans, und daß er jetzt uns allein gehört.

HILLER. Und ich an unsere Rosen. Man wird haushälterisch mit seinen Gedanken, wenn man alt wird. Laß uns jeden Tag für das Kleine sorgen, was gerade not tut, dann kommt uns das Größere von selbst. Der Hans gedeiht, der Kohl gerät, und dem Maulwurf stell' ich morgen seine Falle. So ist alles in Ordnung.

GERTRUD. Ich habe heut einen andern Menschen gesehen der war so verschieden von uns. Er lacht, wo wir weinen, er verspottet, was uns heilig ist, das tut mir weh.

HILLER. Hinweg mit den traurigen Gedanken! Du weißt, ich ärgere mich nicht gern, und vollends am Feierabend nicht. Darum sei fröhlich, Gertrud, tue deine Pflicht und gib mir mein Abendbrot.

GERTRUD. Du hast recht, Vater. Beide ab. Es wird dunkel.


Waldemar.


WALDEMAR. Hier wohnt sie – und sie selbst erzieht den Knaben! Ist das ein seiner Anschlag auf meine Börse? – Nein, das ist es nicht. Sie stand vor mir so stolz und mit einem Anstrich von Begeisterung, wie eine Seherin aus der Zeit, wo man es liebte, Eicheln zu essen; mir war, als hörte ich einen Eichwald hinter ihr rauschen; sie ist keine Betrügerin. Doch was kann sie sein? Eine Schwärmerin – bürgerliche Religiosität, frommes Pflichtgefühl, das ist es, – um so unbequemer für mich. – Du lockst mich, schönes Rätsel, und ich will dich lösen, so wahr ich ein unbußfertiger Sünder bin! – – Und die Fürstin, wie kommt sie gerade auf dieses Kind?[539]

HANS von der Seite anmarschierend, legt seinen Stock auf ihn an. Halt! wer da?

WALDEMAR. Memento mori! Das ist der laufende Wechsel, den ich akzeptieren soll.

HANS. Steh' still, oder ich schieße!

WALDEMAR. Nein, du steh' und nenne deinen Namen, mein junger Held.

HANS den Stock wegwerfend. Ich heiße Hans Waldemar.

WALDEMAR. Da haben wir's. – Nun, ich brauche mich seiner nicht zu schämen.


Sie betrachten einander.


HANS ihm gegenüberstehend, die Hände in den Höschen. Was siehst du mich denn so an?

WALDEMAR. Die Stimme der Natur in meiner Brust schweigt recht verstockt – aber es ist ein frischer Gesell. – Du gefällst mir, kleiner Mann.

HANS. O du gefällst mir auch. Holt einen leichten Gartenstuhl. Hier setze dich und warte, bis die Tante kommt. Es dauert nicht lange.

WALDEMAR sich setzend. Der alte und der junge Meerkater aus der Hexenküche. Hans, du sollst mich unterhalten.

HANS. Willst du einen Apfel haben? Nimm, ich schenk' ihn dir.

WALDEMAR. Das ist mein Sohn. – Ich danke dir.

HANS. Willst du nicht, so ess' ich ihn selber. Die Kerne samml' ich mir. Wenn ich einen Haufen habe, so gebe ich sie dem Großvater, der steckt sie in die Erde, da werden Bäume draus, so groß. Für einen Haufen Kerne schenkt mir der Großvater zwei Pfennige, die tu' ich in die Sparbüchse.

WALDEMAR. Er spart – das ist meine Junge nicht.

HANS eifrig. O ich kann schon lesen, Tante Gertrud lehrt mich's. Hinten im Buch ist ein Hahn, der kann krähen; wenn ich die Woche fleißig gelernt habe, kräht er mir Sonntags einen[540] Pfennig aus. – Schelmisch mit der Hand drohend. O ich weiß, der Hahn kräht nicht, den Pfennig legt mir Tante Gertrud in das Buch.

WALDEMAR. So? – Du fängst sehr früh an, dir die süßen Täuschungen des Lebens zu zerstören. Darin wenigstens erkenne ich eine Verwandtschaft mit mir. Du hast volles Haar, mögen deine Locken sich länger kräuseln als die deines – Gastes. – Auch reinlich sieht er aus, er macht seinen Pflegeeltern keine Schande. Hans drängt sich an ihn. Hör', Hans, grüße den Hahn in deinem Bilderbuch, und leg ihm den Pfennig in den Schnabel Gibt ihm einen Dukaten.


Gertrud ist während der letzten Rede aus dem Hause gekommen.


GERTRUD erschüttert. Was seh' ich!

HANS das Geld betrachtend. Ein gelber Pfennig. – Tante Gertrud, sieh, was ich hier habe.

GERTRUD sich zu ihm beugend. Einen Dukaten. Gib dem Herrn das Geld zurück, sage ihm, du hast, was du brauchst.

HANS. Da, Mann, nimm zurück, ich habe, was ich brauche, ich schenke dir's wieder.

GERTRUD. Geh' in die Stube, Hans, zum Großvater.

HANS. Ich gehe. Gute Nacht, Mann Ihm die Hand reichend. ich habe, was ich brauche, gute Nacht. Hans ab.

WALDEMAR ohne Empfindlichkeit. Warum bestreiten Sie mir das Recht, den Kleinen zu beschenken, da Sie mir doch heut früh größere Rechte über ihn einräumen wollten?

GERTRUD. Noch weiß ich nicht, ob der Herr Graf den Willen hat, diese Rechte anzuerkennen. – Und doch, Sie sind hier, welcher andere Grund kann Sie zu uns geführt haben?

WALDEMAR. Wohl, ich bin geneigt, den Teil dieses jungen Lebens, welcher etwa mir angehört, in Anspruch zu nehmen.

GERTRUD. O dann Gottes Segen über Sie und diese Stunde!

WALDEMAR. Und so habe ich in meiner Weise bereits über das Kind verfügt.[541]

GERTRUD schmerzlich. Verfügt? – Herr Graf, als ich nach langem Zögern den Entschluß faßte, Ihnen auszusprechen, daß Sie Pflichten gegen unsern Johannes hätten, sagte ich mir auch, daß Sie dadurch das Recht erhielten, über das Schicksal des Kindes zu entscheiden. Es wurde mir sehr schwer, auch darein mich zu fügen, aber es ist Ihr Recht, sprechen Sie, ich bin bereit zu gehorchen.

WALDEMAR. Es freut mich, schöne Gertrud, daß Sie so empfinden, das Verständnis wird uns jetzt leicht werden. – Eine Freundin von mir, die Fürstin Udaschkin, sucht einen Knaben; sie hat das Kind schon gesehen und wünscht es zu besitzen. Ich habe die Absicht, ihr den Kleinen zu übergeben, und bitte um ihre Zustimmung.

GERTRUD. Eine Fürstin? eine Fremde? – O mein Gott, was wird sie aus dem Hans machen? Alle Stauden, die wir blühend und gesund in die großen Säle leihen, nach wenig Stunden sind sie in der heißen Stubenluft verwelkt und siechen dahin. O mein Knabe, mein armer Knabe!

WALDEMAR. Dieser Schmerz dauert mich, mein Fräulein, er macht Ihrem Herzen Ehre.

GERTRUD. Nicht auf mich kommt es an, und was ich fühle. Der Knabe, Ihr Sohn, sein Glück ist es, um das ich sorge. Ist die Fürstin eine gute Frau?

WALDEMAR. Sie ist gütig, wo sie liebt.

GERTRUD. Wird sie den Kleinen lieben, für sein Gedeihen sorgen, ihn lehren selbst, was Recht und Unrecht ist?

WALDEMAR. Ich hoffe, sie wird es.

GERTRUD. Aber seine Zukunft? Es ist ein Unglück für verlassene Kinder, von reichen Leuten erzogen zu werden. Sie lernen viel gebrauchen und viel für sich fordern, und wenn ein Zufall ihnen die künstlichen Stützen nimmt, so stehen sie schwach und kränklich, und jeder Windstoß zerbricht sie. – Will die gnädige Frau das Kind als ihr eignes annehmen und[542] dafür sorgen, daß seine spätere Zukunft so prächtig wird, wie seine Erziehung?

WALDEMAR. Das, mein Fräulein, weiß ich nicht.

GERTRUD. O dann erbarmen Sie sich des Kindes, erbarmen Sie sich meiner, und verschenken Sie den Hans nicht. Sehen Sie ihn an, er ist gesund an Leib und Seele, er ist gewiß noch sehr unwissend, aber er hat ein gutes Gefühl für alles, was brav und schön ist. Lassen Sie den Knaben mir; wenn er so fortwächst, Sie können aus ihm machen was Sie wollen, er wird keinem Stand Unehre bringen, er wird fröhlich, er wird arbeitsam sein, er wird sich mit wenigem begnügen, o lassen Sie den Knaben mir! – Ich will ihn noch sorgsamer pflegen, seine Lehrstunden will ich verdoppeln, damit er schneller vorwärts kommt, denn es ist wahr, im Schreiben ist er noch zurück, aber er rechnet schon gut. – Ich will ihn auch recht sauber und zierlich kleiden, wenn Ihnen das Freude macht, aber ich beschwöre Sie bei allem, was Ihnen lieb ist, lassen Sie den Knaben mir.

WALDEMAR. Sie vergessen, Fräulein, daß ich jetzt die Pflicht habe, nach meiner Einsicht über den Knaben zu bestimmen.

GERTRUD sich abwendend. Ja, Sie sind sein Vater, und ich – bin seine Mutter nicht.

WALDEMAR. Wenn ich hier störrig bleibe, so verfluchen mich alle Geschöpfe, die jemals Vater- und Muttergefühl verspürt haben. In allen Ammenmärchen werde ich als Oger, als Ungeheuer eingeführt, die Sperlinge auf der Straße hacken in mich herein, und die Katzen ringen unter den Backöfen weinend die Pfoten über meine Ruchlosigkeit. – Ich muß ihr den Knaben lassen, das ist klar. – – Mein Fräulein, Sie empfinden sehr warm für das Kind fremden Leichtsinns.

GERTRUD. Es ist mir nicht fremd, es ist verwachsen mit meinem Leben. – Finster. Wann sollen wir Ihren Sohn der Dame übergeben?[543]

WALDEMAR. Nein, bei Gott, Sie sollen ihn behalten. Ich wäre das, wofür Sie mich in diesem Augenblick halten, ein herzloser Bösewicht, wenn ich darauf bestünde, ihn aus einer solchen Heimat zu reißen.

GERTRUD. Wie? Sie nehmen uns den Hans nicht? Sie lassen ihn in meiner Pflege? O das ist gut, das ist edel, ich danke Ihnen, Herr Graf. Will ihm die Hand küssen.

WALDEMAR. Nicht so, um Gottes willen, das wäre eine Demütigung für mich. – Hören Sie mich an, Gertrud. Ich habe durch meinen Sekretär die nötigen polizeilichen Notizen gesammelt und in meinem Gedächtnis das Wenige, was sich darin vorfindet, zusammengesucht. Ich habe die Ansicht gewonnen, daß Ihr Pflegesohn allerdings einige Rechte an mich haben mag. In Ihre Hände leg' ich diese Rechte nieder, mit Ihrem Vater will ich das etwa Nötige besprechen, Ihrem Rat, Ihrer Leitung vertraue ich die Zukunft des Knaben, ich werde mich in allem durch Ihr Urteil bestimmen lassen.

GERTRUD. So ist es rechte; das ist wohlwollend und ehrlich, und ich bitte Sie herzlich, mir zu verzeihen, daß ich Sie lange Zeit ungerecht beurteilt habe.

WALDEMAR beiseite. Gutes Mädchen, sie bittet mich um Verzeihung. – Noch eine Frage. Die Fürstin interessiert sich für dies Kind, glauben Sie, daß irgend ein Gerücht über meine Stellung zu dem Knaben ihr Ohr erreicht hat?

GERTRUD. Das glaube ich nicht. Nie hat mein Vater, nie habe ich ein Wort gegen die Nachbarn geäußert; ich weiß nur, daß sich vor einigen Jahren ein häßliches Geschwätz verbreitet hatte, aber es verschwand wieder.

WALDEMAR. Und was war das?

GERTRUD. Es war nichts, es traf nicht Sie, nur mich ging es an. Es war eine Verleumdung, die mir damals Tränen gekostet hat. Aber ich konnte mich rechtfertigen; es wohnen noch Leute hier, welche die Mutter des Kindes gekannt haben.[544]

WALDEMAR. Von dieser ein andermal. Ich mühe mich vergebens, ihre Person, ihr Wesen mir lebhaft vorzustellen, aber das Bild der Armen verschwimmt mir auf seltsame Weise mit dem Gesicht und Wesen einer andern Dame, mit der ich befreundet bin. – Doch es wird spät, und mich ruft ein Versprechen ab. Ich kam her mit kalter Gleichgültigkeit gegen die neue Beziehung meines Lebens, und ich scheide voll Bewunderung von dem, was ich hier gefunden. Gertrud, es ist meinem Stolz peinlich, Ihnen gegenüber klein und herzlos dazustehen. Ich möchte gegen Sie, die Ehrliche, wenigstens das Selbstgefühl der Aufrichtigkeit behaupten, und deshalb gestehe ich Ihnen, daß ich noch jetzt für den Knaben wenig Pflichtgefühl in mir trage; was ich tue, geschieht, weil ich für Sie Hochachtung empfinde und Ihnen gefallen will.

GERTRUD. Wie können Sie dem Hans gut sein? Sie sind ihm ja fremd. O Sie werden ihn einst lieben!

WALDEMAR lächelnd. Ich will mich mühen, da es Ihnen Freude macht. Deshalb aber möchte ich den Knaben von Zeit zu Zeit sehen. Wird mir seine holde Pflegerin erlauben, zuweilen in die stille Häuslichkeit dieses Raumes einzudringen, um ihren Liebling und sie selbst zu finden? Gertrud steht nachdenklich. Sie schweigen? Sie müssen mir den Wunsch versagen? Wohl sehe ich ein, daß ich noch kein großes Recht habe, diese Bitte zu tun.

GERTRUD. Sie haben das Recht, Ihren Sohn zu sehen, so oft Sie wollen, das Recht muß über jede Rücksicht gehen. So oft Sie deshalb kommen, werden Sie meinem Vater und mir willkommen sein.

WALDEMAR. Ich freue mich auch dieser zögernden Erlaubnis. Ich bitte Sie, mir die Hand zu reichen, als ein Zeichen der Versöhnung zwischen uns.

GERTRUD. Hier ist sie, Herr Graf; ich danke Ihnen für den Johannes und dafür, daß Sie so gütig zu mir gesprochen.[545]

WALDEMAR. Ich möchte etwas tun, mir Ihre Freundschaft zu erringen.

GERTRUD die Hand wegziehend, freundlich. Lieben Sie den Knaben! Ab in das Haus.

WALDEMAR allein. Da hätten wir so ein kleines liebenswürdiges Stück Erdenleben ganz in der Nähe. Alle Freuden, Sorgen und Pflichten sauber und ordentlich zurechtgelegt, wie Kleider in einer Truhe, ein recht weißgewaschenes Gewissen oben darauf, und das Ganze mit Lavendel und Weinlaub bestreut. – Was ist dabei so Großes? Es ist die notwendige Beschränkung eines kleinen Lebens. Was die Leute an dem Knaben taten, ist gar nicht Besonderes, das kommt oft vor; was ist darüber zu staunen? – Und doch – mein lieber Waldemar, fühle ich eine leise Röte auf deinen Wangen; ich will hoffen, daß sie nicht etwa Scham ist, Scham vor dir selbst. Hinweg mit dem Spott! hier hilft er mir nichts. Bei allen Göttern, sie hat ein großes Herz, und ich stehe klein vor ihr. Sie erzieht meinen Sohn, den ich verleugnete, sie weiht ihr Leben einer großen Pflicht, die jedenfalls mir näher liegt, als ihr, sie hat Verleumdung erduldet, Opfer gebracht, und ich, ich will meine väterliche Autorität gebrauchen, dasselbe Kind wegzuschenken als einen Spielball seltsamer Frauenlaune. – Pfui über dich, mein Herr Graf, das muß geändert werden. – Als irgend ein blöder Narr sie wegen des Kindes verleumdete, da hat sie geweint. Das freut mich, denn das wenigstens war eine Schwäche von ihr. – Entweder wird mir das Mädchen noch sehr lästig, oder einiges an mir selbst wird mir zuwider. – Jetzt aber hinweg mit der Würde des Familienvaters, und ihr, schelmische Geister des Leichtsinns und fröhlicher Trunkenheit, geleitet mich in die weißen Arme der Freundin! Trällert: une robe legère etc., ab. Es ist finster geworden.


Gertrud. Hiller.


HILLER von der eiligen Gertrud herausgezogen. Was hast du, meine Tochter, wen soll ich sehen?[546]

GERTRUD. Er ist fort. – Vater, er war hier.

HILLER. Wer?

GERTRUD. Er, der Vater unseres Johannes.

HILLER. Und was wollte er?

GERTRUD. Er will uns den Hans lassen, er will für das Kind tun, was wir ihm raten, er will manchmal zusehen, wie es dem Kleinen geht. Beim Abschied bot er mir die Hand und dankte.

HILLER. Siehst du, so ist alles gekommen, wie wir dachten, und ohne große Mühe. Ich habe dir immer gesagt, er ist nicht böse, er ist gewiß ein so braver Mann wie andere, er ist nur reich und vornehm, und deshalb müssen wir einige Nachsicht mit ihm haben.

GERTRUD. Nachsicht, Vater?

HILLER. Freilich, denn genau genommen, sind alle die vornehmen und reichen Leute nur unsertwegen da. – Wer würde uns die Kamelien abkaufen, oder unsern feinen Savoyerkohl, oder die Frühschoten, wenn es keine Reichen gäbe? Wir haben den Vorteil davon, ein gesundes, kräftiges Leben, sie leiden darunter, denn sie essen sich Leib und Seele krank. Deshalb tun sie mir leid, sieh und deshalb halte ich ihnen vieles zu Gute.

GERTRUD. Ebensogut kann das Rehkalb sagen, daß der Mond nur deshalb am Himmel hängt, ihm den Weg zum Saatfeld zu erleuchten.

HILLER. Und das Reh hat auch recht. Jeder ist da für alle andere, und der eine Die Mütze lüftend. in uns allen. Gute Nacht, Gertrud, schließe die Tür – und, mein Kind, denke heut nicht mehr an den Grafen. Ab.

GERTRUD allein, schließt die Tür an der Gartenmauer. Das war ein wichtiger Tag für uns alle, fing mit Regen an und endete mit Sonnenschein. Nun, der Hans kann sich freuen, er hat einen stattlichen Vater gefunden. Und böse ist er auch nicht,[547] er läßt sich bedeuten; man kann doch ein Wort mit ihm reden und ihm Vorstellungen machen; so lieb' ich's. – Wo er jetzt schwärmen mag? Für Seinesgleichen fängt das Leben erst recht an, wenn die Sterne am Himmel stehen; da stecken sie in vergoldeten Stuben hundert Lichter an und schwirren wie die Motten herum; unterdes schlüpfen wir Tagvögel in das Nest und schlafen aus. – Umkehrend. Möge sein Schlaf erquickend sein, denn er hat heut ein gutes Werk getan. Ab.


Pause. Es läutet an der Gartentür.

Waldemar, dann der Wächter von außen.


WALDEMAR gepreßt. Gertrud! Läutet.

STIMME DES WÄCHTERS herbeikommend. Was wollt Ihr an dem Hause? Hier wohnen ruhige Leute.

WALDEMAR. Einen Strauß will ich holen für meine Jungfer Braut.

WÄCHTER. Ihr könnt ja nicht gerade stehen, Mann, geht nach Hause.

WALDEMAR. Würdiger Nachtwächter – ich komme von einem lustigen Schmause – ich will mir einen Kranz kaufen. – Ich bitt' Euch, nehmt dies Geld und geht zum Teufel.

WÄCHTER. Sie sind nicht in der rechten Verfassung, lieber Herr.

WALDEMAR. Gute Nacht – geh' zum Teufel! Wächter entfernt sich, Waldemar läutet.


Gertrud mit Leuchte.


GERTRUD. Wer läutet so ungestüm? Wer will herein?

WALDEMAR. Der Vater des Knaben.

GERTRUD zurückfahrend. Ha, er!

WALDEMAR. Öffnen Sie, Gertrud!

GERTRUD. Nein!

WALDEMAR. Gut, so bleibe ich draußen liegen, bis mich morgen früh die Leute finden. – Es ist keine Poesie mehr im Volke.[548]

GERTRUD steht unentschlossen, endlich öffnet sie rasch, Waldemar tritt wankend ein, Gertrud ihm die Leuchte entgegenhaltend. – Gerechter Gott, wie sehen Sie aus!

WALDEMAR. Wie Wilhelm, als er Leonoren heimführte. Auch ich habe einige Anwartschaft auf den Kirchhof. – Führen Sie mich zur Bank, Gertrud.

GERTRUD. Entsetzlich, Sie bluten!

WALDEMAR. Bah, ein ganz kleiner Stich, eine Wespe sticht herzhafter. Ruhig, Mädchen, schließen Sie die Tür. Kommen Sie näher, ich bin in der Stimmung, leise zu sprechen. Ich wurde von Schurken überfallen – nein, es waren keine ehrlichen Straßenräuber, es war ein guter Freund darunter – ich habe ihn erkannt, obgleich er sich herausgeputzt hatte, wie eine Nachteule. – Ich rang mich los und ich glaube, ich wäre ihrer Meister geworden, da erhielt ich zum Abschied einen Stich in Arm und Seite. Es ist nichts Großes; der mich stach, war gar zu feig.

GERTRUD ihn haltend. Bleiben Sie still, das Sprechen greift Sie an. Ich hole Hilfe.

WALDEMAR. Warte noch. – Nach meiner Wohnung ist weit, meine Leute dürfen mich so nicht sehen – ich muß den Skandal vermeiden. – Ich dachte an Sie, Gertrud, mir war, als gehörte ich hierher – rufen Sie Ihren Vater, sonst niemand. – Es schmerzt nicht, es kitzelt nur, wie ein Blutegel. – Auch ist Profit dabei, es erspart einen Aderlaß. – Mich dürstet – Wasser – bah! das tut mir noch nichts. Wasser her – hier will ich bleiben. Fällt um.

GERTRUD. Unseliger Mann! – Vater, Vater, zu Hilfe, er stirbt!

Quelle:
Gustav Freytag: Gesammelte Werke. Serie 1, Band 6, Leipzig/ Berlin [o.J.], S. 536-549.
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