Erste Szene.


[567] Einfache Bürgerstube. Eine Uhr, eine Bank, zwei Tische mit Holzstühlen. Es brennt Licht.

Gertrud am Tische links, das Haupt auf die Hand gestützt. Hiller rechts schnitzelnd, von Zeit zu Zeit sie betrachtend. Pause.


HILLER. Nun, meine Tochter? woran denkst du?

GERTRUD. Sagtest du was, Vater?

HILLER. Ja, mein Kind. Ich frug nur, ob die Kränze abgeholt sind.

GERTRUD. Schon vor Abend, Vater.

HILLER. So? das ist mir lieb, das ist mir recht lieb. – Hast du heut vielleicht Nachbars Röschen gesprochen?

GERTRUD. Nein, Vater, du weißt, Röschen kommt nicht mehr zu uns.

HILLER. So? dann läßt sie's bleiben. – Aber woran ich dachte, Gertrud. Unser Haus wird baufällig, es hat wieder eingeregnet, die Balken sind schadhaft, das ist gewiß – und dann dachte ich an den Garten, er ist doch sehr klein, Gertrud.

GERTRUD. Wir waren sehr glücklich hier.

HILLER. Hm! – Der Garten ist doch zu klein, und du weißt, hinten an der Grenze ist er naß und die Pflanzen verderben.

GERTRUD aufstehend. Vater, warum sprichst du nicht aus, woran du denkst? Du willst fort von hier.

HILLER. Jetzt ist's heraus, ich hatte nicht den Mut, dir's zu sagen.

GERTRUD. O, daß es so weit kommen mußte! Du suchst eine fremde Stätte für dein ehrwürdiges Haupt. Vater, du bist sehr festgewurzelt in diesem Garten, lösest du dich los von hier, so reißest du an deinem Leben.[567]

HILLER. Vieles steht dort draußen, woran mein Herz hängt; hier aber steht eine Blüte, die mir mehr wert ist, als alles, und ich fürchte, die wird mir nur genesen in fremder Luft.

GERTRUD. Vater! laß uns überlegen, ob es nötig ist. Sollen wir unsere Heimat aufgeben, weil man uns verleumdet und alte Freunde unsere Tür meiden? Sieh, Vater, ich trage mein Haupt so hoch, wie jemals, und wenn wir fliehen, sind wir feige.

HILLER. Und doch ist deine Wange verblichen, und ich habe gehört, du, Gertrud, mein starkes, mutiges Kind, du hast geweint in deiner Kammer.

GERTRUD. Und habe ich's getan, so habe ich getrauert über mich selbst und über die Stunde, wo ich einem fluchte, der aus unserer Tür schritt. Das war ein großes Unrecht, Vater, und das liegt schwer auf meiner Seele.

HILLER. O gebe Gott, daß seine Rechnung dereinst nicht schlechter stehe, als die deine!

GERTRUD. Wir hören nichts von ihm, wie es ihm gehen mag, er war noch nicht genesen, als ich ihn forttrieb.

HILLER. Denke nicht an ihn; wie ein dunkler Schatten ist er durch diese Stube gegangen. Es hängt seit dem Tage über uns, wie ein Gewitter, und mir ist bange und schwül zu Mut.

GERTRUD. Ich will von jetzt an heiter sein, Vater; auch du hilf dazu, dich zu zerstreuen.

HILLER. Der Schreiner drüben hat mir ein Gebot getan für Haus und Garten; noch ist er wach, ich spreche noch heut bei ihm vor.

GERTRUD. Du eilest sehr, Vater.

HILLER. Nun, ich gehe nur darüber schwatzen, das bindet noch nicht. – Und du fragst, warum ich eile, da ich doch sonst so bedenklich bin! – Weil wir hier sind wie drei müde Vögel über der großen See, wir haben in keinem Menschenherzen so viel Land, daß wir uns darauf ausruhen können und bergen[568] vor dem Ungewitter. Hüte das Haus, Gertrud, bald bin ich zurück. Ab.

GERTRUD allein. Du guter Vater! Mir verbirgt er, wie viel ihn der Entschluß kostet. Ja, er hat recht, es hängt über uns, wie eine verderbliche Wolke. Nicht weiß ich, was uns droht, aber meine Seele ahnet Schlimmes und Trauriges. Es möge kommen, mich findet es ergeben.


Georgine in Kapuchon und Hülle.


GERTRUD. Eine Fremde!

GEORGINE bis in die Mitte des Zimmers tretend. Gertrud Hiller, kennst du mich?

GERTRUD. Nein.

GEORGINE. Sieh mir ins Gesicht, du hast diesen Mund geküßt, und deine Hand lag auf meiner Stirn, da sie heißer war als jetzt.

GERTRUD. Das Antlitz ist mir fremd, ich kenne Sie nicht.

GEORGINE den Kapuchon von dem bürgerlich gescheitelten Haare zurückwerfend. Die Zeit hat mich verändert, Gertrud Hiller, und sieben Jahre sind eine lange Zeit für Mädchenfreundschaft; – kennst du mich jetzt?

GERTRUD schreiend. Luise!

GEORGINE. Luise Peters, jetzt nennen sie mich Fürstin Udaschkin.

GERTRUD. Ha!

GEORGINE. Du stehst erschrocken, Mund und Hand weigern mir den Gruß. – Du hast noch nicht lügen gelernt, Gertrud!

GERTRUD. Luise! – Ws höhnst du mich, daß ich dich nicht begrüße? Stehst doch auch du unbeweglich vor mir, bleich und kalt, und aus deinem Auge starrt der Schrecken wie aus meinem.

GEORGINE. So feiern wir das Wiedersehen, wir entsetzen uns voreinander, wie zwei unselige Geister, verdammt, um ein verlorenes Leben zu trauern.[569]

GERTRUD. So ist es nicht, Frau Fürstin, ich war erschrocken, weil Ihr Name mich an vieles erinnerte, Gutes und Böses, was an ihm hängt. Ich dachte an unsere Jugend, – ich dachte an Ihren Sohn. Hier nebenan ist sein Lager, wir haben ihn gehalten wie das Vermächtnis einer Gestorbenen. Bewegung, die Tür zu öffnen.

GEORGINE leidenschaftlich. Mein Sohn! – Zurücktretend. Schweig von dem Knaben, ich will ihn nicht sehen, jetzt nicht. Er kennt dich, nicht mich, du hast den ganzen Schatz seiner kindlichen Liebe für dich genommen, ich bin ihm nichts als eine Fremde.

GERTRUD. Und wenn es so ist, Sie haben es so gewollt.

GEORGINE. Ich habe es so gewollt. Und doch hat es schon damals Stunden gegeben, Mädchen, wo ich dich gehaßt habe, tief, tödlich, weil du meinen Sohn an dein Herz drücktest; ja ich habe gebetet und geflucht, daß er lieber scheiden möge von dieser Erde, als an dem Hals einer Fremden hängen.

GERTRUD. Schweig, Unselige!

GEORGINE. O, ich weiß, es war Unrecht, und fußfällig habe ich dir's wieder abgebeten. Denn ich liebte dich, Gertrud, und wenn ich mit den Erinnerungen aus einer elenden und schmachvollen Vergangenheit rang, so war es dein Bild, das mir hell, friedlich, versöhnend durch das nächtliche Grauen glänzte; du allein hattest mir kein Leid angetan, nur Gutes; als mich alle verrieten und flohen, da saßest du, fast noch ein Kind, an meinem Strohlager, du küßtest meine Stirn, und wenn ich verzweifelnd die Hände ballte gegen mein Schicksal, du drücktest mir die Finger ineinander und verwandeltest den Fluch auf meiner Zunge in eine leise Bitte.

GERTRUD die Hand nach ihr ausstreckend. Luise, arme Luise! –

GEORGINE sie umarmend. Seit sieben Jahren der erste Ton, der mir zwei Quellen öffnet, die versiegt waren in der Sandwüste meines Lebens. – O streiche mir die Haare, wie du sonst tatest,[570] schmeichle mir mit den alten Liebesnamen, laß mich vergessen, was ich bin und was ich war, alles, alles vergessen außer dir.

GERTRUD sie liebkosend. Liebe Luise, du wilder Kanarienvogel, du bist geblieben, wie du warst, und deine Laune wechselt noch immer so schnell wie die Farbe der Wolken. – Doch nein, ganz so bist du nicht, größer, schöner, voller bist du geworden.

GEORGINE. Meinst du? – Sieh, das kleine Mal hier am Ohr hab' ich noch, das hat sich erhalten, und auch die Narbe an den Schläfen, jetzt sieht man sie nicht, denn ich trage sonst Locken. – Ach, hier ist alles unverändert, die Uhr, der Stuhl, die Bücher liegen noch auf demselben Tisch, und die Brille des guten alten Herrn. – Komm, Gertrud, auf dieser Bank, wo wir als Mädchen zusammen saßen im Mondenschein, hier laß uns sitzen und plaudern wie ehemals. – Düster. Nein, nicht wie sonst, denn diese Stunde ist finster und trägt auf ihrem Flügel ein Verhängnis für uns beide. – – Wild. Und doch sollst du bei mir sitzen, Gertrud, und ich werde dir etwas in dein Ohr raunen. – Und was ich zu sagen habe, braucht kein Licht, der Mond scheint hell genug zu meinen Worten; wenn meine Wangen erglühen, du sollst es nicht sehen. Verlösch' das Licht!

GERTRUD. Ich setze den Schirm vor, jetzt erzähle.

GEORGINE traurig lächelnd. Auch du bist geblieben, wie du warst. – Rücke näher zu mir, ich erzähle mein Leben. – Weit, weit von hier am Strand eines kalten Meeres bin ich geboren, meine Mutter kam mit dem fünfzehnjährigen Mädchen hierher und starb, ich sang damals lustige Lieder und hatte nichts zu essen. Da brachte mich ein Musiker zur Oper – an einem Abend stand ich mit rotgemalten Wangen unter dreißig andern Mädchen – da sah er mich an, und ich gefiel ihm – zuckst du zusammen? halte aus, Täubchen. – Was darauf folgte, weißt du.

GERTRUD. Ich weiß es.

GEORGINE. Ich wurde euch zur Last; meine Stimme hatte[571] ich verloren, was verstand ich von eurer Arbeit? Ich dachte daran, mich zu ersäufen und das Kind mit, dort unten im Strom, wo sie die jungen Katzen hinauswerfen. – Da fand mich ein alter Herr, ein fremder Fürst, und nahm mich mit sich nach Paris. Das Kind ließ ich euch. – In der Fremde lernte ich vieles, auch Liebe heucheln; der Fürst war ein alter Herr und ich war spröde. Nachdem ich ihn fünf Jahre gequält hatte, zwang ich ihn, mich zu heiraten. – Er starb an der Gicht, und ich war reich, man nannte mich Erlaucht. – Ist das nicht eine wunderliche Geschichte?

GERTRUD aufstehend. Mir ist, als säße ich neben einer Natter.

GEORGINE. Ziere dich nicht, du schöne Tugend, noch bin ich nicht zu Ende, und du, du sollst auch an die Reihe kommen. – Und überall, immer, immer dachte ich an ihn, den einen, den wir beide kennen; sobald ich frei wurde, zog es mich hierher zurück, in seine Nähe. War es Haß, war es Liebe, ich weiß es nicht, aber mein Wille stand fest, er muß mein werden, er muß sühnen, was er an mir verbrochen hat, er muß, er muß, und sollte ich ihn dabei erwürgen mit meinen Händen.

GERTRUD. Rasende Törin!

GEORGINE. Bin ich eine Törin? Ich war doch klug genug. Ich kam hierher zurück, und er kannte mich nicht. Auch er kannte die Lippen nicht wieder, die er geküßt hatte. Ich lockte ihn an mich, ich wurde seine Freundin. Und da, Gertrud Hiller, als er in meine Arme eilen wollte, da hast du, du hast ihn mir gestohlen.

GERTRUD. Ha!

GEORGINE. Er hätte mich geliebt, jetzt liebt er dich. –

GERTRUD. Er liebt mich.

GEORGINE. Und ich fühle, ich weiß, du fromme Gärtnerstochter, du liebst ihn wieder.

GERTRUD wendet sich ab.[572]

GEORGINE drohend. Gertrud!! – Höre mich. Mit Gewalt quäle ich den Zorn, der heiß durch meine Adern rinnt, zurück zum Herzen, ich will mich bändigen, ich will dir ruhig sagen, was ich muß. – Ihn muß ich besitzen, und du stehst mir im Wege, du mußt fort aus meinem Wege, so oder so.

GERTRUD. Willst du mich töten?

GEORGINE. Nein, aber ich will dich quälen. – Ist es wahr, Mädchen, du liebst das Kind, das ich dir gegeben?

GERTRUD. Wozu fragst du so? Ich lebe für den Knaben.

GEORGINE. Wohlan, Gertrud, so nimm den Knaben und gehe fort von hier; ich bin reich, ich will dir geben, mehr als du brauchen kannst für dich, das Kind, deinen Vater, aber geh, geh, spurlos mußt du verschwinden.

GERTRUD. Ich gehe nicht.

GEORGINE. Gertrud, erbarme dich meiner! Ich will dich in Seide und Gold hüllen, ich will tun für dich, was deine Seele verlangt, ich will zu dir beten, wie zu einer Heiligen, aber weiche von meinem Wege, nimm den Knaben und geh. – Gertrud schweigt, Georgine umfaßt ihr Knie. Sieh, demütigen will ich mich zu jeder Bitte, so flehe ich zu dir, ehre meine Rechte auf jenen Mann. Bedenke, meine Rechte sind älter, sie sind größer als die deinen, denn sie sind durch Tränen und Sünde erkauft. Laß mir den Vater, ich schenke dir den Knaben.

GERTRUD. Steh' auf, dein Bitten rührt mich nicht. Wohl hattest du Rechte auf den Mann und seine Liebe, die höchsten, heiligsten. Ob du sie noch hast, unnatürliche Mutter, ich weiß es nicht, ich vermag es nicht zu erkennen in dieser Stunde. Das aber fühle ich klar, wenn ich dir gehorche und mit dem Knaben entfliehe aus dem Angesicht seines Vaters, so fliehe ich aus Furcht und um Geld gegen meinen Willen und den Ruf meiner Seele. Und deshalb gehe ich nicht.

GEORGINE. Gehst du nicht, so höre meine Rache. Das Kind ist mein, und kein Gesetz auf Erden kann der Mutter[573] ihr Kind verweigern. Und gehst du nicht, so fordere ich mein Kind von dir; dann gehe ich und nehme mein Kind mit mir. Und dann, Gertrud, schwöre ich dir zu, dann werde ich vergessen, daß das Kind unter meinen Herzen gelegen hat, ich werde nur wissen, daß es sein Sohn, meines Todfeindes Sohn ist, und daß du das Kind vergötterst, du, die mich elend gemacht hat. Dann siehe zu, was ich aus eurem Liebling mache.

GERTRUD. Teufel!

GEORGINE. Werde ich das, wer hat mich so weit gebracht? – Und jetzt, Gertrud Hiller, jetzt wähle. Bleibst du hier, so verlierst du das Kind, und hast du erst den Knaben geopfert, dann steh zu, wie lange dein Buhle dir bleibt.

GERTRUD. Es ist genug, Unglückliche, höre du auch mich. Ich trotze dir und deinem Drohen. Das Kind, das du geboren, das hast du leichtsinnig, ruchlos verlassen, du hast kein Recht mehr darauf, und ich werde es verteidigen auch gegen dich, wie die Bärin ihr Junges, das sie selbst gesäugt. Meine Zukunft aber lege ich nicht in deine Hand, frei will ich bleiben von jedem Zwange, und keinem Arm will ich gestatten, mich fortzustoßen von dem Wege, den ich mir selbst finde. Dich aber und deine Feindschaft fürchte ich, doch ich weiche ihr nie und nirgend, tue du gegen mich, was du wagst, ich werde tun, was ich darf.

GEORGINE. Du hast gewählt. Nicht lange, und es wird entschieden sein. Und so sei Krieg zwischen uns und tödliche Feindschaft für das Leben! – Gertrud Hiller, bald wirst du von mir hören. Ab.

GERTRUD allein. Das war der Wetterschlag, den du, Vater, vorhersahst. – Sie huschte fort, und mich ergreift die Angst mit eisernen Krallen. Den Knaben nehmen, als ein Opferlamm ihres Zornes nehmen, o schändlich, abscheulich! – Knabe, Johannes, erwache, sie wollen dir an das Leben, hinweg von hier, ich muß dich retten! Ab in die Kammer.


Quelle:
Gustav Freytag: Gesammelte Werke. Serie 1, Band 6, Leipzig/ Berlin [o.J.], S. 567-574.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon