Stiller Vertrag

[797] Der Hochmeister hatte die Stadt verlassen, der Krieg war aufs neue entbrannt und die gebietenden Herren zu Thorn erwarteten ungeduldig die Nachricht von der völligen Besiegung ihres Feindes. Aber es kam weit anders. Wie durch einen Zauber herangelockt, drang ein deutscher Heerhaufe nach dem andern an die Weichsel,[797] der junge Hans Sickingen führte eine Schar Reiter herzu, darunter wohlbekannte Herren des fränkischen Adels, viele Fähnlein Landsknechte wälzten sich mit ihrem Troß über das polnische Preußen, und der Hochmeister stand auf einmal an der Spitze eines Heeres, dem die Polen nicht gleiche Kraft entgegenzusetzen hatten; er eroberte Städte zurück, welche die Kastellane des Königs vorher eingenommen hatten, säuberte den größten Teil des Ordenslandes von den Fremden, und tüchtige Hauptleute seines Heeres schlugen und fingen einen polnischen Trupp nach dem andern. Aufs neue wurde das Land durch Brand und Raub verwüstet. Traf der Verlust auch beide Teile, im ganzen war durch mehrere Monate Herr Albrecht der stärkere; die deutsche Partei erhob mit frischem Vertrauen das Haupt, und die Mienen der Polenfreunde wurden sorgenvoll.

Das Herz des Marcus pochte in stolzer Freude. Zwar in der Trinkstube des Artushofes hütete er sorgfältig Miene und Rede, er wußte wohl, daß er unablässig beobachtet wurde. Auch dem Sohne verhüllte er sein Gemüt, denn er wollte den einzigen Erben von den Gefahren entfernt halten, unter denen er selbst einherging; nur gegen den vertrauten Gehilfen Bernd, der heimlich zum Orden hielt, offenbarte er etwas von der stürmischen Bewegung, die er empfand. Der Rat hatte ihm als Entgelt wegen Verpflegung des Hochmeisters zwei Feldschlangen für sein festes Haus bewilligt. Damit erhielt er das Vorrecht, zum Schutz und zur Bedienung des kostbaren Stadtgutes einen Büchsenmeister und einige Söldner zu unterhalten. Georg bat den Vater ehrerbietig, die Sorge um die Kriegsleute ihm anzuvertrauen, und er war gekränkt, als der Vater ihm das kurz abschlug, zumal er bei einem Ritt auf das Gut wahrnahm, daß Haus und Hof für eine große Besatzung vorbereitet wurden. Zwar kamen die Nachrichten vom Heere des Hochmeisters nur undeutlich in die Stadt, was für den Feind ungünstig war, wurde laut berichtet und seine Siege gern vom Rat verschwiegen, aber Bernd war mit dem Volke der Schiffer vertraut und hatte Kundschaft mit kleinen Bürgern in der Neustadt, und was er dort erfuhr, lautete oft weit anders, als was in der Halle des Artushofes verkündet wurde.

Als Georg einst am Abend durch das Hinterhaus heimkehrte, vernahm er in der Kammer, in welcher sonst Dobise schnürte und hämmerte, den Gesang einer fremden Stimme, welche zu bekannter Weise ein neues Landsknechtslied sang, und er verstand Worte, in denen die Danziger und Elbinger übel gescholten und die Taten des Hochmeisters und seiner Scharen mit stolzer Freude gerühmt wurden. Er blickte erstaunt durch das Fenster, in der Mitte des Raumes stand sein Vater, und diesem leuchtete das Antlitz vor freudiger Aufregung, und ein Lächeln schwebte um seinen Mund. Gegenüber dem Vater saß ein fremder Gesell mit narbigem Gesicht in der Tracht eines Landfahrers, der das lange Lied fröhlich absang und nach dem[798] Ende mancher Verse die Trinkkanne hob. Als der Sohn leise eintrat, zog sich die Miene des Vaters finster zusammen; er winkte ihm mit der Hand, sich still zu halten, und erst als das Lied beendet war, sagte er gemessen: »Es ist nützlich, neue Zeitungen auch so zu vernehmen, wie die Gegner sie berichten.« Er reichte dem Fremden etwas in der Hand und gebot dem Dobise, ihn in eine sichere Herberge zu führen. Und Georg erkannte aus der gezwungenen Haltung des Vaters, daß dieser ihm seine Gesinnung verbarg. – Aber nicht Marcus allein lauschte auf Kunde, welche dem Hochmeister günstig war, in der Neustadt saßen viele, welche den Polen nichts Gutes gönnten, entweder weil sie dem Regiment des Rates zürnten, oder weil sie daran dachten, daß ihre Vorfahren lieber zum Orden gehalten hatten als die Altstädter; und in den Trinkstuben der Neustadt bargen die Mißvergnügten ihre Freude nicht, wenn sie erfuhren, daß der polnischen Partei etwas mißlungen war. Dasselbe Lied, welchem Marcus zugehört hatte, war in der Schenke ›Zur blauen Marie‹ hergesungen und das Gemurr der Wohlgesinnten durch lauten Ruf der andern übertönt worden. Und als der Rat auf Anzeige nach dem Sänger suchte, war dieser verschwunden, obgleich keiner von allen Torwärtern einen Fremden seines Aussehens am Tore beachtet hatte. Solche Anzeigen machten dem Rat stille Sorge.

Aber als der Herbst kam und die gefüllten Erntewagen durch die Stadttore fuhren, und als die Schwalben ihre junge Brut über den geräumten Feldern den Kreistanz lehrten, da kam zu der alten Unruhe ganz allmählich noch eine neue in die Seelen der Thorner. Wenn angesehene Bürger auf der Straße einander begegneten, verweilten sie länger als sonst und sprachen leise miteinander, wenn an den Tischen der Stammgäste das Gespräch über die letzten kriegerischen Nachrichten aus dem Felde aufgehört hatte, vernahm man starke Worte gegen vornehme Geistliche, ja, was sonst jeder als Geheimnis bewahrt hatte, Gedanken über Kirchenlehre und Glauben, das lief ihm jetzt über die Zunge. Neben den alten Sprichwörtern, durch welche der Bürger seine Rede bestätigte, gebrauchten jetzt zuweilen auch Laien Sprüche aus der Heiligen Schrift, und Barthel Schneider geriet mit seinem Nachbar, dem Lohgerber, in heftigen Zwist, als er sich auf eine Aussage des Daniel berief, welche dem Lohgerber ungehörig erschien, weil der Jude Daniel Danziger ihn bei einer silbernen Kette betrogen hatte, Barthel aber nicht deutlich zu sagen vermochte, wer Daniel eigentlich gewesen sei. Wenn die Predigermönche zu zweien durch die Stadt gingen, lachten viele hinter ihnen her oder zuckten die Achseln und wandten sich ab wie von nichtsnutzigen Leuten. Und die Menschen wagten nicht nur, von anderem zu reden als seither, sie dachten sogar darauf, Neues zu fordern. Über das Regiment der Stadt wurde laut[799] gehandelt, oft erfuhr der Rat, daß Unfreundliches über ihn in den Schenken verlautete. Sonst hatte der Bürger, auch der Neustädter, mit kaltem Hochmut auf den Bauer herabgesehen und ihn als das Lasttier der Erde betrachtet, jetzt sprach der Bürger mit freundlicher Herablassung zu dem Bäuerlein, welches in den Laden kam, eine Sense oder eine Pelzmütze zu kaufen, und wenn der Landmann zutraulich über unerträgliche Lasten klagte, so nickte der Bürger im Einverständnis. Sogar im Artushofe, wo die Herren der Stadt in drei Bänke geteilt saßen, war zwischen der vornehmen Georgenbank und den Bänken der Kaufleute und Schiffer eine stille Fehde erkennbar, und ungern vernahmen es die Alten auf der Georgenbank, daß Hendrick, der Schiffer, seinen Krug erhob und laut rief: »Dies bringe ich einem guten Steuermann, der uns alle durch die Brandung fährt«, und auf diese Anspielung klang in der alten Halle hier und da Beifallsruf.

In diesen Wochen wurde Hannus ein vielgesuchter Mann. Es war ihm nach langer Unterbrechung seines Geschäftes gelungen, einen großen Bücherballen von Danzig heraufzuschaffen, er war jeden Tag beschäftigt, seine Ware vertraulich vorzulegen und kleine Silberstücke in seinem Beutel zu bergen. Und er mußte die Mehrzahl seiner Kunden auf eine neue Sendung vertrösten, nach der er geschrieben. Was die neue Aufregung in den Seelen bewirkte, waren wieder unscheinbare Büchlein, die er aus dem Reiche eingeführt hatte, jetzt in der Mehrzahl nicht lateinisch für die Gelehrten; in deutscher Sprache berichteten sie jedem, der zu lesen vermochte, von einem Kampfe zwischen tausendjähriger Herrenmacht und dem kühnen Mute weniger, welche ihre Überzeugung gegen die Gewaltigsten der ganzen Welt zu verfechten wußten. Noch nie war die deutsche Sprache durch den Druck so stark in die Seelen gedrungen, der Zorn und die Klage, welche hier verkündet wurden, lagen in jedermanns Herzen, die Besserung des christlichen Standes, welche sie forderten, war aller Vernünftigen Wunsch, und die Erlösung der Christenheit aus der babylonischen Gefangenschaft, in welcher fremde Priester zu Rom die Gewissen hielten, längst die geheime Sehnsucht der Besten. Um so unwiderstehlicher war die Wirkung der kühnen Worte, weil die Leser wußten, daß den Männern, welche vor allem Volk zu lehren wagten, was Jahrhunderte nur unterdrücktes Murmeln gewesen war, wegen ihres Mutes der Tod drohte in seiner furchtbarsten Gestalt, daß ihre Seelen verflucht werden sollten und die Asche ihres verbrannten Leibes in alle Winde gestreut.

Aber auch für den Bürger von Thorn wurde es gefährlich, sich um die neue Lehre zu kümmern, und über den Büchlein des Hannus zog sich ein Wetter zusammen. Denn der polnische König, welcher nahe der Stadt auf seinem Schlosse Dibow weilte, kam oft über die[800] Brücke und erhielt Kunde von allem, was die Deutschen aufregte. Als König Sigismund einst nach dem Rathause geritten war, und der Bürgermeister Hutfeld vor sein Angesicht trat, sah der König den Bürgermeister bei gnädigem Gruß mit seinen klugen Augen prüfend an und wandte sich wieder dem Markte zu, wo ein Haufe polnischer Reiter auf dem Durchzug rastete. Die müden Pferde ließen die Köpfe hängen, und die Polen schrien einander über den Futtersäcken zu oder lagen erschöpft auf ausgebreitetem Stroh. Da begann der König: »Aus dem Lande sind üble Nachrichten gekommen, wie Ihr wohl gehört habt, Bürgermeister; mein Vetter Albrecht spielt den Kriegsmann und ist ein Führer fremder Landsknechte geworden. Die deutschen Bremsen stechen übel im Lande. Briefe verkünden mir, daß im Reich unter dem Adel ein starkes Werben für den Hochmeister ist. Das Land aber liegt verwüstet, und die Polen sind ebenso säumig, ihre Haufen heranzuführen, als ihr Städter säumig seid, euer Geld in das Schatzhaus zu senden. Mein Neffe erweist größere Hartnäckigkeit, als ich ihm zugetraut, und ich sehe kein Ende des Raubes und Brandes. Auch unsere Freunde im Reich mahnen zur Nachgiebigkeit.« Da Hutfeld auf diese Rede nicht antwortete, fragte der König mit abgewandten Blicken: »Was ist Eure Meinung, Bürgermeister?«

Das behagliche Gesicht des Herrn Konrad rötete sich, als er antwortete: »Wie wir in Thorn wissen, sind es jetzt sechzig Jahre, da tat ein König von Polen einem Bürgermeister von Thorn dieselbe Frage, und der Enkel weiß Eurer königlichen Würde nur dieselbe Antwort zu geben. Wenn die Krone Polen dem Ordensmeister gestattet, eine freie Herrschaft zu behaupten, so opfert sie früher oder später das Weichselland, welches sich unter polnischen Schutz gestellt hat. Solcher Entschluß geht uns allen an die Hälse. Unsere Väter haben, um Städte und Land zu retten, der polnischen Treue vertraut. Schwere Verantwortung haben sie auf sich genommen und ein heißer Haß ist entbrannt, er glimmt noch heut unter der Asche. Wenn die Polen treulos gegen uns handeln, so bleibt uns nur übrig, um unser Leben zu kämpfen. Darum, entsagen die Polen dem Preußenlande, so werden wir sie als Meineidige vor aller Welt anklagen und überlegen, wie wir uns selbst bewahren vor der Rache unserer Feinde.«

Jetzt ruhte der Blick des Königs auf dem erregten Sprecher, er trat auf ihn zu, und ein Lächeln glitt über sein ernstes Gesicht. »Das war eine Sprache, die ich hören wollte; ich habe Euch nur durch Worte geprüft, zürnt mir darum nicht. Wisset, Herr, manche in meiner Nähe hegen Argwohn gegen euch Deutsche, weil ihr in vielem hartnäckig den Polen widerstrebt. Ich aber denke nicht daran, dem jungen Albrecht in seinem fadenscheinigen Ordensgewand zu schenken, was ich in meiner Hand halte, und Ihr mögt[801] mir glauben, Herr Bürgermeister, daß ich lieber neuen Krieg wage, als das Anrecht opfere, welches die Krone Polen an dem Preußenlande erstritten hat.« Und da Hutfeld betroffen schwieg, fügte er hinzu: »Seid nicht gekränkt über meine Rede, wir wissen jetzt beide, daß wir gute Freunde sind, und Eurer Stadt soll nicht zum Schaden gereichen, daß ich Euch vertraue. Doch nicht alle in Thorn denken wie Ihr. Wer ist das Haupt der Unzufriedenen?«

Hutfeld antwortete zögernd: »Es sind außer den Schreiern in den Schenken nur einzelne der ansehnlichen Bürgerschaft, niemand vom Rate, und diese Unzufriedenen bewahren vorsichtig ihre Gedanken.« Und da der König ihn, Weiteres erwartend, anblickte, fügte er hinzu: »Ich denke, daß ich Eurer königlichen Würde bürgen kann für die Treue der Stadt.«

»Wollt Ihr die Bürgschaft auf Euer Gut und Leben nehmen, so frage ich nicht weiter.«

»Ich will die Bürgschaft übernehmen«, versetzte Hutfeld, »wenn Ihr, gnädigster Herr, meiner Treue fest vertrauen wollt.«

Der König nickte und fuhr nach einer Weile fort: »Ihr seid zu nachsichtig gegen die deutschen Ketzereien, welche sich aus dem Reiche einschleichen, sie mehren den Zwist mit meinen polnischen Herren.«

»Sie trennen uns auch für immer von der Möncherei des deutschen Ordens; darum sieht der Rat aller Weichselstädte in der Stille nicht ungern, wenn die Bürger etwas von der neuen Lehre in ihre Herzen aufnehmen. Zudem wird die Tyrannei und Habsucht der Pfaffen oft unleidlich. Auch für Eure königliche Würde mag der neue Glaube, wie ihn die Leute nennen, eine gute Hilfe werden gegen den Hochmeister und seine Ordensleute.«

»So denkst du als Bürger von Thorn«, antwortete der König vertraulich in lateinischer Sprache, »der König aber hat andere Rücksichten zu nehmen auf den Eifer der Magnaten und Bischöfe und vor allem auf den Kaiser und den Heiligen Vater selbst, und es ist mir gerade jetzt notwendig, mich als treuen Sohn der Kirche zu erweisen. Dem Rat wird ein scharfes Mandat zugehen gegen die Verbreitung der Irrlehren durch Predigt und Bücher, und ich fordere von den Städten, daß sie mir darin nicht widerstreben.«

»Der Rat wird das Mandat des Königs gehorsam ausrufen und anschlagen«, versetzte Hutfeld ehrerbietig. »Doch möge Eure königliche Würde auch gnädig bedenken, daß die Thorner sich nicht gern die freie Rede verbieten lassen.«

»Wir verstehen uns«, schloß der König huldreich, »sorge nur, du Treuer, daß kein Lärmgeschrei der Pfaffen zu mir dringt.«

Wenige Tage darauf schlug Lischke ein großes Mandat an das Rathaus, er läutete mit der Glocke durch die Straßen, und der Ausrufer schrie die Worte des Befehls in die Lüfte. Am Abend[802] war in allen Schenken große Aufregung und manches heftige Wort gegen den Rat wurde laut, auch wurden einige junge Gesellen deshalb vorgefordert und streng vermahnt. Hannus raffte in dem ersten Schrecken alle verdächtigen Büchlein zusammen und versteckte sie unter seinem Bette, an den nächsten Markttagen fand man bei ihm außer den Kalendern und Wetterbüchern nur etwas von den Gegnern der neuen Lehre, von Dr. Eck und Cochläus, und wenn die Leute seinen Kram umstanden und neugierig fragten, so zuckte er abweisend mit den Achseln und wies nach dem Rathause. Als aber endlich die Bürger über seine Verzagtheit spotteten und er merkte, daß Lischke gar nicht nach seinem Tische hinsah, wurde er wieder mutiger und griff zuweilen, wenn ein sicherer Kunde kam, in die Tiefe seines Kastens, oder lud ein, ihn daheim zu besuchen, ob er vielleicht etwas Erwünschtes finden werde.

Niemand in Thorn war glücklicher über die neue Aufregung als der Magister. Zuerst hatte er vornehm auf den Streit der Mönche herabgesehen, dann hatte er dem Kampf eine wohlwollende Teilnahme gegönnt, jetzt aber umfing auch ihn die Macht des gewaltigen Geistes, welcher unablässig als Lehrer der Deutschen verkündete und mahnte. Er war der erste, welchem ein Einblick in die Sendungen des Buchführers vergönnt wurde, und seit die Traktätlein in deutscher Sprache durch die Länder flogen, wie die Bienen eines umgeworfenen Stockes durch den Garten, verlor er seinen lateinischen Stolz und trug ungelehrte deutsche Druckschriften in den Taschen umher. In der Schule zwar nahm er einige Rücksicht auf die Gewaltigen der Stadt. Anna aber war als sein einziges Kind auch die Vertraute seiner Gedanken, und es war für sie eine Herzensfreude, dem Herrn Vater zuzuhören, wenn er ihr des Abends vorlas; dann wurde er bei dem Streit der Theologen kriegerisch, er schlug auf den Tisch, sprang bei den Stellen, die ihm besonders gefielen, auf und pries mit gehobenen Händen den Schreiber und sein eigenes Glück, daß er solche Tapferkeit erlebe. Die Argumente der Gegner aber begleitete er mit verächtlichen Bemerkungen, warf ein Büchlein, das ihm mißfiel, in die Stubenecke und kämpfte gegen das liegende mit starken Gründen und seinem Stocke, bis er es endlich wieder aufhob, um weiterzulesen. Da war natürlich, daß Anna ebenso eifrig für die neue Lehre wurde. Und als ein redliches Weib mußte sie wünschen, daß auch andere von der verkündeten Wahrheit erfüllt wurden, mochten sie nun Schüler sein oder nicht. Bei den andern dachte sie zunächst an einen, für den sie in der Stille immer sorgte. Sie fürchtete, daß er sehr wenig um sein Seelenheil bekümmert sei und daß er sich aus den Streitbüchern der Gottesgelehrten und aus den Greueln des Papsttums gar nichts mache. Ihr schlug das Herz höher in dem Gedanken, daß sie ihm aufhelfen müsse. Aber wie durfte sie in sein Gemüt eindringen?[803]

Wenn sie einmal zufällig ihre Meinung offenbarte und Georg etwas davon vernahm, dann trug der gute Samen bei ihm üble Frucht. So war Matz Hutfeld spät zu dem Entschluß gekommen, auch seinerseits einmal dem Magister und seinen Schulgenossen eine Kollation auf dem nahen Zinsgut zu geben, welches sein Vater von der Stadt innehatte. Und zwar sollte alles großartiger sein als im letzten Jahre bei den Königen. Nachdem Matz den Vater um einen Wildbraten aus dem Stadtwald gebeten hatte und um ein Fäßlein rheinischen Weins, geleitete er dieselbe Gesellschaft, die früher zusammen gewesen war, durch die Felder nach dem Herrenhof. Diesmal fuhren sie nicht zu Wagen, sondern kleine Polenpferde warteten vor der Stadt auf die Frauen und den Magister, und einige Freireiter geleiteten den Zug; denn Matz hatte vorsichtig die unsichere Zeit und die fahrenden Strolche bedacht. Es war vieles prächtiger; aber das vornehme Wesen und die schwere Zeit bedrückten die Herzen, und als die Gäste gar in den Gutshof traten und dort hinter der Mauer zwei Feldschlangen aufgepflanzt sahen und einige Kriegsknechte zur Bewachung, da verstummte die Unterhaltung, obgleich Matz mit Stolz zu den Geschützen führte und den Ruhm erklärte, welchen sie dem Hausherrn gewährten. Als der Wildbraten bei der Kollation aufgestellt wurde, schlug nur Frau Lischke die Hände zusammen; Matz aber hielt zum Ruhme des Magisters eine lateinische Oration, die er sich ausgearbeitet hatte, ganz ohne Fehler, und wie er den Becher hob und die Gesundheit ausbrachte, lösten die Kriegsknechte im Hofe ein Geschütz zur Begrüßung der Gäste, was sonst nur bei großen Gastmahlen für Bürgermeister und Rat gebräuchlich war. Obgleich Matz am Pulver gespart hatte, damit in der Stadt kein Gerede entstehe, sprangen die Frauen doch erschrocken von ihren Sitzen, und Georg vernahm mit grimmigem Zorn, wie der öde Bürgermeistersohn Anna in unverschämter Vertraulichkeit tröstete: »Das geschah vor allen anderen Euch zu Ehren, liebe Jungfer.«

Nach der Kollation führte Matz die Gäste ebenfalls ins Freie, um ihnen das Gut zu weisen, und da es ein Sonnabend war, fanden sie die Arbeiter über der letzten Ernte beschäftigt. Die Gäste sahen zu, wie die Bauern im Frondienst mähten und wie der Vogt sie scheltend trieb. Der Magister sagte bedauernd: »Der arme Karsthans arbeitet in saurem Dienst, damit wir unser Brot haben.« Doch Matz Hutfeld antwortete kalt: »Es sind Deutsche, ein störriges und widerwilliges Volk, weil sie sich rühmen, von den Vätern her freie Leute zu sein.«

Ein alter Mann konnte wegen Gebrechlichkeit nicht die Reihe halten, so daß der Vogt auf ihn eindrang und seine Gerte über ihm schwang. Da vergaß sich die Anna ganz und gar und rief mit geröteten Wangen und blitzenden Augen: »Wie darf der Vogt[804] einen freien Mann schlagen, zumal dieser alt und gebrechlich ist?« Aber Matz lächelte, und der Magister kehrte dem Vogt den Rücken, um den Anblick zu meiden. Der Alte mochte etwas von dem Bedauern vernommen haben, denn er legte die Sense hin und wankte zur Seite in den Schatten des Gebüsches, bei welchem die Gäste eben gestanden hatten; da schrie der zornige Vogt: »Tut's die Gerte nicht, so soll dich die Peitsche lehren.« Er lief eine Wegstrecke zurück, wo sein Pferd angebunden war, um dort die Lederpeitsche zu holen. Der Magister, gekränkt durch die wilde Drohung, führte seine Begleiter mit starken Schritten von der Stelle weg. Anna aber wandte sich nach einer Weile um, denn Georg fehlte in der Gesellschaft. Sie sah den Weißkittel wieder tief gebückt mähen und wie der Vogt mit geschwungener Peitsche auf ihn losfuhr, aber im nächsten Augenblick stand der Mäher hoch aufgerichtet, sprang gegen den Vogt, riß ihm die Peitsche aus der Faust und hieb ihn mit seiner eigenen Waffe jämmerlich durch. Es war Georg in Mütze und Kittel des Bauern. »Du sollst fühlen, du wüster Tropf, daß Hiebe weh tun«, rief er, »nimm dies, weil du einen Freien geschlagen hast, und dies, weil du einen Alten geschlagen hast, und dies, weil du ein hartherziger Tyrann bist.« Der Vogt brüllte unter den Streichen, die Arbeiter standen still und sahen einander frohlockend an. Matz Hutfeld vergaß seine Ruhe und lief herzu. »Das sollst du büßen«, rief er seinen Mitschüler an.

»Halte dich zur Seite, junger Bürgermeister«, gebot Georg mit geröteter Wange, »verklage mich bei deinem Vater. Dir aber, Meister Vogt, rate ich, deine Rache an mir zu nehmen und nicht an dem Alten, denn wenn du ihm nur ein Haar auf seinem Haupte versehrst, so komme ich zum zweitenmal über dich und zahle dir, daß du das Aufstehen für immer vergißt.« Er warf dem alten Manne, der hinter einem Busche auf den Knien lag, Kittel und Mütze zu und schritt ohne Gruß nach dem Hofe. Gleich darauf sahen die Gäste ihn heimwärts reiten. – Das war ein klägliches Ende der Kollation. Matz enthielt sich nicht, mit bleichem Gesicht gegen den entfernten Georg loszuziehen, aber Lips Eske fand diesmal früher Worte als der Magister und sagte: »Hättest du dem Vogt seine Bosheit gewehrt, wie du wohl konntest, so wäre Jörge nicht in seinen Zorn verfallen.«

Verstört kehrte die Gesellschaft zurück und brach nach einigen höflichen Reden, welche die Bewegung verbergen sollten, zur Stadt auf. Georg aber dachte, als er heimritt: ihr schafft es kein Glück, mit mir über Land zu reisen. Sie sah erstaunt aus ihren großen Augen auf mich, ich habe sie gewiß wieder durch mein jähes Wesen erschreckt. Und doch kam mir ein, daß ihr ganz recht sein würde, wenn ich den Vogt abstrafte. Es ist möglich, daß ich wegen des Handels wieder vor den Rat komme, ungern bemühe ich die alten[805] Herren. Ob Matz jetzt noch einmal aus der Feldschlange schießen läßt? Aber: daß ich den Vogt gestrichen hab', das freuet mich von Herzen. Dieser Satz gefiel ihm sehr, und er sang ihn zuerst nach der Weise: Tannhäuser war ein Ritter gut, und darauf wie das Lied: Frisch auf, du schöne Sommerszeit, und endlich nach dem ›Schloß in Österreich‹.

Er kam zufriedener nach Hause, als er ausgeritten war, und beschloß, während er das Pferd in den Stall führte, seinem Vater keine Mitteilung zu machen. »Nur nicht voreilig«, sagte er mit klugem Bedacht.

Als der Magister das Museum betrat und das zurückgelassene Wachtel seine Brillengläser anbellte, brach er ein langes Schweigen mit den Worten: »Nicht du solltest Ajax heißen, sondern ein anderer. Ich bin in großer Sorge um den zornigen Georg«, und er vernahm mit Erstaunen, daß Anna heftig antwortete: »Auch ich hätte den Vogt gestraft, wenn ich ein Mann wäre.« Sie war den Abend schweigsam, beeilte den Gutenachtgruß und ging in ihre Kammer. Dort warf sie ihr Regentuch zur Seite, und die helle Freude flog über ihr Gesicht. »Wilder Georg«, sprach sie leise vor sich hin und wiederholte oft die Worte, sie öffnete das Fenster und sah hinaus nach der wüsten Stätte der Ordensburg. Da fiel ihr alles ein, die Lieder und die große Musika, welche dort in den ersten Wochen erklungen waren, die Geduld, mit welcher er seit der Zeit um ihre gute Meinung geworben hatte, und seine Freude, als er im vorigen Jahr mit ihr zusammen sang. Auch der dreiste Arm, den er damals um ihre Hüfte gelegt und den sie durch so lange Strenge gestraft hatte, tat ihr heut gar nicht weh; ja ihr war, als fühle sie seinen Arm wieder, und sie wandte sich mit freundlichem Blick zu der Seite, wo sie ihn dachte, sie lächelte nur und sagte vor sich hin: »Er ist ein wilder Knabe. Heut tat er es um meinetwillen, weil ich mich über den harten Treiber erzürnt hatte, denn er sah vorher auf mich, ach so warm und treu.« In dieser Art trieb sie es lange, auch als sie die Flechten gelöst und ihren Gürtel auf den Schemel gelegt hatte, wollte sie das Fenster noch nicht schließen. Sie hielt zuweilen inne und lauschte, um ein Lied aus der Ferne zu vernehmen. Es war draußen alles still, aber in ihr klang eine holde Weise nach der andern. Und als sie im Bette lag und die Decke um sich zog, flüsterte sie noch lächelnd: »Gute Nacht, wilder Junker, schlafet in Frieden.« – Gute Nacht auch der Jungfer Anna. Sie war ein feines und sittsames Kind, aus Kursachsen oder Meißen, und hatte einen Widerwillen gegen rohe Taten der Männer, und doch war es ihr Schicksal, daß die Liebe in ihr aufblühte, weil ihr behender Knabe einen andern mit der Faust bewältigt hatte.

In den Ratsherren von Thorn wollte eine ähnliche Wohlmeinung[806] nicht erblühen. Matz berichtete dem Vater gehässig gegen Georg. Am andern Tag kam jammernd der zerbleute Vogt, und die Geschichte wurde ruchbar. Da der Täter und der Herr des Gutes dem Artushofe angehörten, so ging der Handel vor das Gericht der Brüder, auf deren Bank Marcus König neben Hutfeld saß. Diesmal trat Georg keck unter die Augen seiner Richter, erzählte den Fall in seiner Weise, beschuldigte den Vogt und schloß: »Hochmögende Herren, Väter und Brüder, wenn ich wieder solches Unrecht sehe, werde ich wieder zuschlagen, was mir auch darum geschehe.«

Da furchte sich die Stirn Hutfelds, und der Burggraf Friedewald mußte dem Dreisten seine Rede verweisen. »Wenn der Vogt im Dienst seines Herrn allzu eifrig war, so stand nicht Euch die Strafe zu, mein Sohn, sondern dem Gutsherrn selbst.«

»Das bekenne ich, hochgebietender Herr«, versetzte Georg achtungsvoll, »vielleicht fühlte ich das Unrecht doppelt, da ich auf dem Gute meines Oheims und Paten war, und ich meinte nichts Übles zu tun, wenn ich als ein Mann aus der Freundschaft des Gutsherrn zur Stelle bewies, daß der Bürgermeister von Thorn seine Diener nicht gegen Recht und Gesetz an dem Leibe freier Arbeiter freveln läßt. Habe ich darin zuviel getan, so bitte ich um gnädige Strafe.«

Nach den kühnen Worten schwiegen alle, Hutfelds Gesicht rötete sich im Zorn, und er sah finster auf seinen Paten.

Darauf wurden die Zeugen gefordert. Von dem Magister sah man ab, da er kein Bankgenosse war, Lips Eske aber sagte genau aus wie Georg, und der Vogt konnte seine Hitze nicht leugnen, obgleich er viel über Widersetzlichkeit der Arbeiter zu klagen hatte, so daß die Herren mit düsteren Mienen zuhörten.

Als die Parteien abgetreten waren, bat zuerst Hutfeld um milde Strafe für seiner Schwester Sohn, was manchen wunderte, denn man wußte, daß er ungern verzieh. Doch der Burggraf fiel ihm bei. »Es würde dem Hofe in dieser Zeit verdacht werden, wenn er über solche Dreistigkeit strenger urteilte als die Bürger; die Leute sind jetzt durch neue Gedanken beunruhigt, und es wird uns wohl anstehen, zu zeigen, daß auch wir einer Bedrückung des gemeinen Mannes nicht gleichgültig zusehen.«

Darauf erhielt der Vogt einen scharfen Verweis und Georg als milde Strafe einige Tage Gefängnis in einer Kammer des Artushofes. Dort weilte er ohne Ungemach, denn Eske und andere gute Gesellen wußten zu ihm zu gelangen, er genoß fröhlich in ihrer Mitte allerlei Gutes, das sie ihm zutrugen, und der Hauswächter brachte ihm sogar einen Topf mit kunstvoll gebrautem Würzbiere, den die Stammgäste der blauen Marie in der Neustadt ihm wegen seiner Unerschrockenheit gestiftet hatten. Da merkte Georg, daß[807] die Bürger ihn wert hielten, sein Mut stieg hoch, und er wurde ganz sorglos. Nur als er aus der Klausur nach Hause kam und seinem Vater gegenüberstand, fühlte er sich bedrückt. Denn der Vater warnte ihn in seiner ruhigen Weise: »Du trägst deinen Krug allzuoft zum Wasser, er wird zerbrechen. Diesmal hast du alle Brüder gekränkt, welche als Herren auf Stadtgütern sitzen, und du hast dir auch in unserer Freundschaft Gegner gemacht, denn Bürgermeister Hutfeld und sein Sohn werden dir die Kränkung im geheimen nachtragen.«

»Verzeiht nur Ihr, Herr Vater, es soll sicher das letztemal sein, daß ich als unbändig gescholten werde.«

Denselben Tag stand Anna allein im Hausgarten. Durch das Laub des Fliederstrauchs warfen einzelne Sonnenstrahlen goldenen Schein auf ihre langen braunen Zöpfe und auf das feine Rot ihrer Wangen und malten ihr bunte Muster über das dunkle Hauskleid. Hoch aufgerichtet hielt sie die gebogenen Zweige mit der Hand und sah nach einem Vogelnest: »Die Kleinen sind ausgeflogen, und ich werde ihr Gezirp nicht mehr hören; hütet euch, ihr Flatterer, daß euch die Menschen nicht einfangen und in ihre Bauer stecken. – Wie ist es doch traurig, im Gefängnis zu sitzen, wenn die warme Sonne scheint und der würzige Geruch von Blumen und Kräutern in der Luft schwebt.«

Da lief das Hündlein und bellte, kam zu ihr und zog sie am Gewande. Sie wandte sich um, an der Außenseite des Zaunes lehnte Georg und sah bewundernd nach ihr hin. Beiden röteten sich die Wangen höher, als sie einander gegenüberstanden; weil aber Georg, hingerissen von dem Anblick der Geliebten, stumm blieb, begann sie endlich verlegen: »Der Vater wird gern vernehmen, daß Ihr aus dem Gefängnis befreit seid.«

Ihr Gruß löste ihm die Zunge. »Es war keine schwere Haft, doch war sie nicht so lustig als der Zaun, von dem Ihr umschlossen seid. Dort kam ich heraus, hier möchte ich hinein, wenn Ihr es vergönnt.«

»Bleibt doch draußen«, versetzte sie ängstlich, »gute Nachbarn tauschen ihren Gruß auch über den Zaun.«

»Ach, liebe Jungfer Anna, meine Freude wäre groß, wenn Ihr mich für einen guten Nachbarn hieltet; dem Nachbar reicht man auch wohl etwas Gutes über den Zaun.« Er schwenkte seinen Hut. »Ich würde fröhlicher meine Straße ziehen, wenn ich einen kleinen Strauß aus Eurem Garten auf dem Hut tragen dürfte zum Andenken an dieses Wiedersehen.«

»Tragt Ihr einen Strauß am Hute, so wissen alle Leute, daß eine Magd ihn Euch gebunden hat, und sie raten, was jedes Kraut und jede Blume für Euch bedeuten.«

»Vermag doch niemand zu erraten, wer mir den Strauß angebunden[808] hat, und jede Blume, die Ihr mir schenkt, bedeutet für mich Gutes.«

»Mich aber ängstigt, ob ich die rechten wähle«, antwortete sie befangen. »Dies hier wage ich Euch zu geben, nehmt das Eisenkraut, da Ihr doch ein stürmischer Junker seid«, und sie bot ihm den blühenden Stengel über den Zaun.

»Wie einen wilden Kriegsmann behandelt Ihr mich«, sprach Georg, den Stiel haltend. »Ich bitte herzlich, tut noch etwas Wohlriechendes hinzu, Salbei und Muskatkraut, damit ich Eure gute Meinung erkenne.«

Sie bückte sich zu den Beeten. »Nehmt auch noch die Sternblume, sie deutet auf die Sterne und daß die Geberin Gutes für Euch erfleht«, und sie wand ihm das Büschel mit einem Halm zusammen.

Er hob fröhlich den Hut. »Gesegnet sei der Garten, und gesegnet sei die Jungfrau darin, und mir sei es gute Vorbedeutung, daß ich Euch zuerst hier wiedersehe, allein, in freier Luft, wo die Vögel fliegen und die Sonne lacht.«

»Mit Recht lobt Ihr den Garten«, sagte Anna, um seine verklärten Augen von sich abzulenken, »denn ist der Raum auch nur klein, er birgt doch ein Wunder des Sommers, seht dorthin. Die Rosenzeit ist längst vorüber, und wenn ein König seine Boten aussenden wollte nach einem Rosenkranze, er würde weit umher suchen müssen, hier aber trägt ein Stock zum zweitenmal seine Blüte.« Sie wies nach der Seite.

»Ihr sagt es, daß die Rose blüht«, versetzte Georg bekümmert, »aber für einen, der draußen steht, ist sie vom Baumlaube verdeckt.«

Da rührte Annas Hand leise an der Gittertür, Georg sprang herein; sie trat zurück und wies nach der Blume. So standen sie im Garten, beiden bebte das Herz in Ahnung und freudigem Bangen, und beiden war der Blick wie mit einem Flor verhüllt und die Wange in freudigem Schreck verblichen. Sie traten zu der Rose, die am Gipfel des Strauches im Halbschatten leuchtete, und Georg begann leise: »Wo eine Rose einsam steht, da ist hier Brauch, daß man ihr Vertrauliches offenbart. Und wenn eines dem andern etwas zu sagen hat und die Scheu beim Anblick des andern die Lippen schließt, dann wenden sich beide voneinander ab und sprechen zu der Blume. So tue ich hier.«

Anna wandte sich ab und faltete die zitternden Hände.

»O liebe Rose Jungfer Anna, seit Jahr und Tag bin ich Euch gut und trage meine Sehnsucht still im Herzen. Einst war ich ein frecher Knabe gegen Euch, aber die Liebe hat meinen Sinn gewandelt; auch wenn Ihr streng gegen mich wart, seid Ihr mir immer lieber geworden, das Höchste seid Ihr mir, was ich auf der Erde habe, ich scheue Euch und ehre Euch und frage unablässig, was Ihr von mir denkt. Laßt's Euch gefallen, daß ich Euch im Herzen trage, seht[809] mich freundlich an mit Euren treuen Augen und sprecht auch milde Worte zu mir, denn ich lebe in Unglück und Verstörung, wenn ich denke, daß Ihr mir zürnt.« In tiefen Atemzügen bebte seine Stimme, und bei dem zitternden Klange pochte das Herz des Weibes; sie stand unbeweglich und als er schwieg, antwortete sie fast unhörbar mit bebenden Lippen: »Ich sah, wie die Knospe aufschoß, und ich sah, wie die roten Blätter aus der Hülle brachen, und jetzt, da die Rose blüht, muß ich sorgen, fallen die Blätter in der Nacht, oder wird sie morgen noch blühen?«

Da wandte sich Georg zu ihr und rief: »Die Rose kommt und welkt in wenigen Tagen, mir aber wurde die Jungfrau lieb für mein Leben, und wenn ich sie missen muß, will ich nimmer leben.«

Auch sie sah zu ihm auf, ihre Augen strahlten von Liebe und Zärtlichkeit, aber sie hob die Hand abwehrend gegen ihn und sprach tonlos: »Liebt Ihr mich und ehrt Ihr mich, so flehe ich, daß Ihr geht.«

Und der wilde Knabe ging.

Aber der liebste Gang war ihm fortan in die Nähe der alten Burg. Dort saß der Magister zuweilen nach der Lektion im Schulgarten, und da er bei Georg eine besondere Ehrfurcht vor diesem Aufenthalt erkannte, so lud er ihn eines Tages ein, im Garten gewissermaßen zwanglos lateinische Reden zu üben, und er freute sich, daß die Übungen ganz nach dem Herzen seines Schülers waren, denn Georg kam seitdem regelmäßig. Zuerst verlief die Stunde lateinisch, dann brachte Anna dem Vater sein Vesperbrot herab, und der Magister forderte seinen Schüler auf, mitzuessen. Glückselig saßen die drei zusammen; es war ein stiller, abgeschlossener Raum, der nicht durch die Augen der Nachbarn zerstochen wurde, und nur zuweilen verriet sich die Gesellschaft dem Volke der Gassen, wenn Georg nicht vermeiden konnte, zur Laute zu singen. Doch tat er das selten, denn Frau Lischke, die jetzt ganz auf seiner Seite war, warnte ihn verständig, damit dem Hause keine üble Nachrede entstehe.

Bald wurde er der Vertraute bei einem geheimen Vorsatz des Magisters. Denn an einem friedlichen Nachmittage begann dieser: »Da wir hier zu dreien versammelt sind, so will ich ein Kollegium eröffnen, du, Regulus, und du, Kind Anna, ihr sollt meine Berater sein. Nämlich der neuliche Ehrentag hat mich, obwohl er jämmerlich auslief, doch wieder an meine Pflicht erinnert wegen eines kleinen Gedichtes zur Weihnacht. Hannus ist willfährig, einen Bogen drucken zu lassen. Aber nur unter einer Bedingung, sagte er: Die ganze Welt ist jetzt nach deutschen Büchlein begierig, das Lateinische vermögen nur wenige zu lesen. Wenn ich einen Bogen Deutsches erhielte, so könnte ich mich für die Kosten daran erholen, und etwas Deutsches würde auch Euch, Herr Magister, den Thornern wert machen, vornehmlich,[810] wenn es einfältiger wäre und für die kleinen Leute. Er wies mir einen Holzstock, der ihm einmal zugekommen ist, darauf das Kind in der Krippe, Maria und Joseph, dabei Öchslein und Esel, Mond und Stern. Und er rühmte sich und mich, indem er sagte: Schreibt Ihr dazu etwas, so kann keiner widerstehen. Heut nun erinnerte ich mich an unsere Fahrt im vorigen Jahre zu dir, Regulus, welche vergnüglicher war, als die letzte, und ich bedachte, wie jämmerlich unkundig in der heiligen Geschichte das Volk hier dahinlebt. Darum will ich diesmal den Bürgern ganz schlicht aus Matthäus und Lukas die Kapitel von der Geburt des Herrn zusammenfügen und in gemeines Deutsch übertragen. Es ist keine vornehme Arbeit, und mancher wird es als Pfaffenwerk geringachten, jedoch es läuft unter anderem mit. Das ist meine Absicht; nun sagt ihr Kinder auch eure Meinung.«

Da fiel Georg sogleich mit warmen Worten bei, aber Anna schüttelte den Kopf. »Vater, wer kann wagen, die heiligen Worte in Deutsch zu verkünden, wenn er nicht geistlich und nicht in der Kirche angesehen ist. Die Pfaffen werden Euch jedes Wort aufmutzen, und ich fürchte, Herr Vater, Euch selber wird jedes Wort schwer auf dem Gewissen liegen, ob Ihr den Leuten alles richtig erklärt.«

Daran hatte der Magister nicht gedacht, und der Einwurf fiel ihm auf das Herz. »Es gibt jetzt andere, die noch Größeres wagen«, antwortete er endlich; »und die kleinen Bänkelsänger singen ja auch zuweilen ein Lied darüber, im Notfall kann ich meinen Namen weglassen, und obgleich ich's nicht gern tue, kann ich die Arbeit auch vorher unserm Pfarrer von St. Johann unterbreiten.« So beschloß er die kleine Übersetzung aus dem Griechischen, und Georg war sehr bereitwillig, ihm Bücher zu werben und heranzutragen.

Als der Nachtfrost das Grün des Gartens verdarb, wurde die gelehrte Unterhaltung in die Stube des Magisters verlegt. Hier war die Freude Georgs noch größer, wenn er zusah, wie sicher Anna in der Wirtschaft waltete, wenn sie sich im Gespräch vertraulich zu ihm wandte wie zu einem alten Freunde, und wenn er einmal wagte, einen Augenblick ihre Hand zu halten. Dann trieb auch er Possen wie ein kleiner Knabe, erzählte lustige Geschichten, und ein herzerfreuendes Lachen froher Menschen klang von den Wänden zurück. Nie hatte der Jüngling bis dahin das Glück empfunden, welches die Anmut einer Frau im Haushalt verbreitete, jetzt sah er die Geliebte an seiner Seite und fühlte den seligen Frieden in seinem Herzen. Und oft verstummte er plötzlich und saß in seinem Entzücken schweigsam mit heißen Wangen. Er half auch treulich bei der Übersetzung des Weihnachtsevangeliums, wenigstens als Zuhörer. Der Magister begann siegesgewiß, aber während der Arbeit wurde er immer unsicherer, er strich und änderte, klagte über die ungefüge[811] deutsche Sprache alter Übersetzungen, die ihm Georg aus den Büchern einiger Ratsherren verschafft hatte, und war, wie Anna vorhergesagt, in seinem Gewissen beschwert, ob er die Worte geschickt deute und auch den Geistlichen kein Ärgernis gebe. Als er endlich den Druck der wenigen Seiten austrug, fand er diesmal Widerspruch, die Bürger zwar kauften das Blatt, aber seine vornehmen Gönner sahen unzufrieden auf die geistliche Arbeit, welche nicht seines Amtes gewesen sei, und vollends die Mönche von St. Nikolaus wollten das Werk gar nicht loben und warnten ihre Getreuen davor. Da war in seinem Ärger Georg der beste Trost, denn diesem gefiel jedes Wort, weil Anna mit ihrer klaren Stimme das ganze Büchlein an dem Abende, wo es dem Magister zukam, vorgelesen hatte.

Und da Georg bedachte, daß die Verhandlung Annas mit Dorfkindern auf dem väterlichen Gute die ersten Gedanken zu der Arbeit gegeben hatte, so bat er um den Bogen, aus welchem die Jungfrau vorgelesen hatte, faltete ihn eng zusammen und barg ihn mit den trockenen Blüten ihres Straußes an seiner Brust.

So kam und schied der Winter. In der Kammer des Vaters sah Georg jetzt gefurchte Stirnen, Marcus saß oft in finsterm Nachdenken, und auch der schweigsame Gehilfe konnte stillen Kummer nicht verbergen, Handwerker aus der Neustadt erschienen im Hause, mit denen der Vater sonst nicht verkehrt hatte; sogar der Stadtschreiber Seifried, der wegen seiner bösen Zunge im Artushofe nicht gut beleumdet war, kam zu geheimer Unterredung, und Georg merkte, daß der plumpe Gesell einmal einen großen Beutel Geld unter seinem Mantel hinaustrug. Ihm galt das wenig; auch was von den Weltläuften erzählt wurde, vernahm er ohne Sorge; daß der König und der Hochmeister nicht mehr Krieg zu führen vermochten und doch Frieden nicht schließen wollten, daß ein Waffenstillstand im Werke sei und daß für die nächsten Jahre alles bleiben solle, wie es vor dem Kriege gewesen. Als diese Nachricht zuerst im Artushofe verkündet wurde, sah er, daß sein Vater finster lächelte, und wunderte sich, daß der Alte zum Aufbruch ihn an seine Seite rief und sich beim Heimgange auf seinen Arm stützte, was er vorher nie getan hatte. Einen Augenblick ängstigte ihn das, aber er schlug sich's gern aus dem Sinn, denn sein junges Leben stand zum erstenmal unter der Herrschaft einer großen Leidenschaft, und alle seine Gedanken flogen der einen zu, von der er jetzt wußte, daß sie auch ihn im Herzen trug.[812]

Quelle:
Gustav Freytag: Die Ahnen. München 1953, S. 797-813.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Ahnen
Die Ahnen
Die Ahnen: Iugo & Ingraben.-V.2.Das Nest Der Zaunkönige.-V.3.Die Brüder Vom Deutschen Hause.-V.4.Marcus König.-V.5.Die Geschwister.-V.6.Aus Eine Kleine Stadt (German Edition)

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon