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[469] Im Hause des Kaufmanns floß das Leben der Hausgenossen wieder in ebener Strömung dahin. Die kleinen Wirbel, welche der heimkehrende Anton aufgeregt hatte, waren allmählich zerronnen. Die unerhörten Prachtstücke aus dem Nußbaumschrank hatten andern Nummern das Feld geräumt, welche zwar ebenfalls ausgezeichnet, aber für die Tante noch begreiflich waren. Auch darin hatte die Tante recht prophezeit, daß Anton von diesem heimlichen Sieg des ruhigen Verstandes über leidenschaftliche Dankbarkeit gar nichts bemerkte. Nur eine Veränderung war geblieben, die größte, glorreichste: Der Bewohner des Hinterhauses behielt einen bevorzugten Platz in dem Herzen der jungen Herrin, und seine stattliche Gestalt erschien jetzt oft unter den Bildern, welche Sabine am Arbeitskorb und in der Schatzkammer um sich versammelte.

Heut schritt Sabine vor dem Mittagstisch unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Die Tante, welche alles erfuhr, hatte ihr soeben erzählt, daß ein Mädchen aus Ehrenthals Hause in das Comtoir gelaufen war, um Bernhards Tod dem Freunde zu melden. »Wie wird er die Nachricht ertragen«, dachte Sabine. Und bei dem Namen Ehrenthal mußte sie an die Vergangenheit denken, an einen andern, der jetzt in weiter Ferne lebte, und an die Stunde, wo das Schwanken ihrer Seele durch einen Brief aus dem Hause des Toten zu schnellem Ende gebracht worden war. Und Anton wußte um dies bekämpfte Gefühl, o wie oft hatte sie dies Wissen aus seinem besorgten Blick, aus seiner schonenden Rede erkannt! Wie rücksichtsvoll war seine Haltung ihr gegenüber gewesen, wie ritterlich die stille Hilfe, die er ihr in der Unterhaltung gebracht. Ob er auch eine Ahnung hatte von dem tapfern Sieg, den sie nach und nach über eine Jugendtorheit erkämpft hatte? Sie schüttelte ihr Haupt. »Nein, er weiß nichts davon, noch immer sieht er in mir das Mädchen, das der Schwäche ihrer kindischen Neigung erlag.« Sie blieb vor ihrem Blumentisch stehn. »An dieser Stelle verriet ihm der Zufall, wie ich damals empfand. Noch heut steht die Vergangenheit als eine dunkle Wolke zwischen ihm und mir. Überall fühle ich den Schatten des Geschiedenen an meiner Seite, wenn ich am Abend neben Wohlfart sitze,[469] wenn er mich grüßt und zu mir spricht. Immer sagt sein Ton und seine Haltung: Sie ist nicht allein, er ist bei ihr.« Sie zuckte zusammen und fuhr mit der Hand leise über das lustige Laub, um den Gedanken wegzuwischen, der sie quälte. Sie konnte ihm nicht sagen, daß sie jetzt frei war von dem lange verhohlenen Leid. Aber heut, wo er einen Freund verloren hatte, der ihm so lieb war, mußte sie ihm zeigen, daß er noch andere Herzen besaß, die an ihm hingen. Und wieder ging sie sinnend auf und ab und suchte einen Weg, ihn allein zu sprechen.

Der Diener rief zur Tafel. Anton kam mit den andern Herren und setzte sich sogleich an seinen Platz. Es war keine Gelegenheit, vor Tische mit ihm zu reden. Aber er sah sie mit einem Blick voll Trauer an, daß sie sich nicht enthalten konnte, ihm herzlich zuzunicken. »Er ißt heut nichts«, flüsterte ihr die Tante zu, »auch keinen Braten«, wiederholte sie vorwurfsvoll. Sabine wurde sehr unruhig und besorgt. Jetzt mußten die Herren die Stühle rücken, dann ging er mit ihnen aus dem Saal, und sie sah ihn den ganzen Tag nicht wieder. Schon erhob sich Herr Jordan, da rief sie zu Anton herüber: »Die große Calla ist aufgeblüht, Sie haben sich neulich über die Knospe gefreut, verweilen Sie noch einen Augenblick, ich möchte sie Ihnen zeigen.« Anton verneigte sich und blieb. Noch einige peinliche Minuten, da stand auch der Bruder auf, sie eilte zu Anton und führte ihn in ihr Zimmer vor den Blumentisch.

»Sie haben heut eine schmerzliche Nachricht erhalten«, begann sie leise.

»Die Botschaft selbst hat mich nicht überrascht«, erwiderte Anton bewegt, »der Arzt gab keine Hoffnung. Aber ich verliere viel mit ihm.«

»Ich habe ihn nie gesehn«, sagte Sabine, »nur aus Ihrem Munde weiß ich, daß sein Leben einsam war, arm an Freuden und Liebe.«

Sie rückte Anton einen Sessel hin und ließ ihn von dem Freund erzählen. Mit warmem Anteil lauschte sie auf jedes Wort, liebevoll wußte sie zu fragen und zu trösten. Für Anton war es ein Bedürfnis, von dem Freunde zu sprechen, und beredt schilderte er ihr sein stilles Treiben, seine Gelehrsamkeit und sein enthusiastisches Gefühl. Da nach einer Pause sah ihm Sabine herzlich in[470] die Augen und frug: »Haben Sie Nachricht von Herrn von Fink?«

Es war das erste Mal, daß sie gegen Anton den Namen über die Lippen brachte. Er fühlte das Rührende des Vertrauens, daß sie gerade in dieser Stunde nach dem Geliebten ihrer Seele frug. In seiner Bewegung faßte er ihre Hand, die vor ihm auf dem Tische lag. Langsam zog sie die Hand zurück und schlug die Augen nieder. Nur einen Augenblick, dann sah sie ihm wieder freundlich ins Gesicht.

»Er fühlt sich in dem neuen Leben nicht glücklich«, sagte Anton ernst. »In seinem letzten Brief war eine grimmige Laune, und ich schließe daraus noch mehr als aus seinen Worten, daß dort vieles nicht so ist, wie er es erwartet hat. Die Geschäfte, in welche er durch den Tod seines Onkels hineingeworfen wurde, gefallen ihm nicht. «

»Sie sind unwürdig«, rief Sabine schnell.

»Wenigstens nicht, was in diesem Hause ehrenhaft heißt«, erwiderte Anton. »Fink denkt zu groß und hat zu lange in der Nähe Ihres Bruders gelebt, als daß ihn die wüsten Spekulationen erfreuen könnten, welche dort drüben nur zu gewöhnlich sind. Seine Geschäftsfreunde sind zum großen Teil gewissenlose Menschen, und seine Seele empört sich gegen ihre Genossenschaft.«

»Und kann Herr von Fink ein solches Verhältnis auch nur einen Tag ertragen?« frug Sabine.

»Es ist ein merkwürdiges Schicksal«, antwortete Anton, »daß er, der seinen eigenen Willen gegen andere so souverän geltend macht, gerade er, der so wenig geneigt ist, äußerem Zwang zu gehorchen, doch in seiner gegenwärtigen Tätigkeit überall mit gebundenen Händen arbeitet. Der ganze Mechanismus dieser Spekulationen ist in Amerika so fest organisiert, daß ein einzelner Teilhaber wenig daran ändern kann. Und so ist die Lage Finks jetzt, wo er seine Wünsche erreicht hat, große Kapitalien, Dispositionen über viele Quadratmeilen Landes, zweifelhafter als je in seinem Leben. Er war immer in Gefahr, gering von andern Menschen zu denken, jetzt ängstigt mich die herbe Verachtung, mit welcher er von seinem eigenen Leben spricht. Sein letzter Brief schilderte eine unerträgliche Lage und ließ irgendeinen gewaltsamen Entschluß ahnen.«[471]

»Es gibt für ihn nur einen Entschluß«, rief Sabine. »Darf ich fragen, was Sie ihm geantwortet haben?«

»Ich habe von ihm gefordert, sich auf der Stelle unter jeder Bedingung von diesen Geschäften zu lösen. Seinem ernsten Willen wird ein Weg dazu sich bieten, auch wenn der Ausweg, den ich ihm vorschlug, unmöglich sein sollte. Und ich habe ihn gebeten, entweder seinen alten Plan auszuführen und ein wirklicher Gutsbesitzer in Amerika zu werden, oder zu uns zurückzukehren.«

»Ich wußte, daß Sie so schreiben würden«, sagte Sabine, tief aufatmend. »Ja, er soll zurückkehren, Wohlfart«, wiederholte sie leiser, »aber nicht zu uns soll er kommen.« – Anton schwieg.

»Und glauben Sie, daß Herr von Fink Ihrem Rat folgen wird?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Anton langsam, »mein Rat war wenig amerikanisch.«

»Aber er war, wie Sie ihn geben mußten«, sagte Sabine mit freudigem Stolz.

»Ein Offizier wünscht Herrn Wohlfart zu sprechen«, unterbrach sie der eintretende Diener. – Anton sprang auf, Sabine trat zu ihren Blumen und beugte sich traurig über die grünen Blätter. Noch schwebte der Schatten des andern zwischen ihr und ihm.

Die hastigen Worte des Meldenden erfüllten Anton mit einer unbestimmten Angst, er eilte in das Vorzimmer, Dort stand Eugen von Rothsattel. Anton wollte ihm mit warmem Gruß entgegeneilen, da sah er das verstörte Gesicht und trat erschrocken zurück. Eugen aber flüsterte ängstlich wie mit bösem Gewissen: »Meine Mutter wünscht Sie zu sprechen, es ist etwas Schreckliches bei uns vorgefallen.« Anton griff nach seinem Hut und sprang nach dem Comtoir, wo er schnell Baumann bat, ihn beim Prinzipal zu entschuldigen; dann begleitete er den Leutnant nach der Wohnung des Freiherrn. Vernichtet ging Eugen an Antons Seite, er hatte alle Fassung verloren. Unzusammenhängend und für Anton nicht ganz verständlich war, was er sagte: »Mein Vater hat sich gestern abend aus Versehen durch einen Schuß verwundet, – ein reitender Bote hat mich aus der Garnison nach der Hauptstadt gerufen – als ich ankam, fand ich die Mutter in Ohnmacht. Wohl eine Stunde hat sie darin gelegen. Ich und die Schwester wissen uns keinen Rat. Lenore hat die Mutter auf den[472] Knien gebeten, zu Ihnen zu schicken. Sie sind der einzige Mensch, zu dem wir in unserer Not Vertrauen haben. Ich verstehe nichts von Geschäften, aber es muß mit dem Vater sehr schlecht stehen. Die Mutter ist ganz außer sich. Alles im Haus ist in der größten Unordnung.«

Aus dem, was er sagte und was er zu verschweigen suchte, aus seinen abgerissenen Reden und seinem angstvollen Blick ahnte Anton einiges von den Schrecken des letzten Abends. In dem Wohnzimmer der Baronin traf er Lenore verweint, erschöpft wankte sie ihm entgegen. »Lieber Wohlfart«, rief sie, seine Hand fassend; von neuem begann sie zu schluchzen, und kraftlos sank ihr Haupt an seine Schulter. Unterdes ging Eugen mit gerungenen Händen in der Stube auf und ab, setzte sich endlich in eine Sofaecke und weinte still vor sich hin.

»Es ist gräßlich, Herr Wohlfart«, klagte Lenore sich aufrichtend. »Niemand darf zum Vater, nicht Eugen, nicht ich, die Mutter allein und der alte Johann sind um ihn. Und heut früh war der Kaufmann Ehrenthal hier, er wollte durchaus mit dem Vater sprechen, er schrie laut gegen die Mama, er schalt den Vater einen Betrüger, so daß die Mutter zu Boden sank. Als ich in das Zimmer stürzte, ging der schreckliche Mensch fort und drohte noch mit der Faust nach uns.«

Anton führte Lenore in einen Sessel und wartete, bis sie sich erholt hatte. Hier zu trösten war unmöglich, ihn selbst erschütterte der Jammer im tiefsten Herzen. »Ruf die Mutter, Eugen«, sagte Lenore endlich. Der Bruder eilte hinaus. »Verlassen Sie uns nicht«, bat Lenore mit gerungenen Händen. »Es ist zum Äußersten mit uns gekommen, auch Ihre Hilfe vermochte nicht, das Unglück abzuwenden.«

»Er ist tot, der es vielleicht gekonnt hätte«, erwiderte Anton traurig. »Ob ich Ihnen nützen kann, weiß ich nicht, daß ich den guten Willen habe, daran werden Sie nicht zweifeln.«

»Nein«, rief Lenore, »auch Eugen dachte sogleich an Sie.«

Die Baronin trat herein. Sie ging mühsam auf Anton zu und stützte sich mit der Hand an einen Stuhl, aber sie begrüßte ihn mit Haltung. »Wir sind in eine Lage gekommen, in der uns ein Freund nötig ist, welcher mit Geschäften mehr Bescheid weiß, als wir drei. Ein unglücklicher Zufall verhindert den Freiherrn,[473] wahrscheinlich für längere Zeit, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern, und so wenig ich davon verstehe, so sehe ich doch, daß schnelle Tätigkeit in unserm Interesse notwendig wird. Meine Kinder haben mir Ihren Namen genannt, ich mute Ihnen viel zu, wenn ich Sie bitte, unsern Wünschen Ihre Zeit zu opfern.« Sie setzte sich, winkte Anton, Platz zu nehmen, und sagte zu den Kindern: »Verlaßt uns, ich werde Herrn Wohlfart das wenige, das ich weiß, leichter sagen, wenn ich Euern Schmerz nicht sehe.«

Als sie allein waren, winkte sie Anton näher an sich heran und versuchte zu sprechen, aber ihre Lippe zuckte, und sie verbarg ihr Gesicht hinter dem Taschentuch.

Anton sah gerührt auf den Kampf, den ihr die Mitteilung kostete: »Bevor ich zugeben kann, daß Sie, gnädige Frau, mir ein so ehrenvolles Vertrauen schenken, muß ich Sie in Ihrem Interesse fragen: hat nicht Ihr Herr Gemahl einen Verwandten oder nahen Freund, dem Sie eine diskrete Mitteilung leichter machen würden? Ich bitte Sie, daran zu denken, daß meine eigene Geschäftserfahrung nicht groß, und meine Stellung nicht von der Art ist, daß ich für einen geeigneten Ratgeber des Herrn Barons gelten könnte. «

»Ich weiß niemanden«, sagte die Baronin trostlos und starrte vor sich hin. »Es wird mir leichter, Ihnen zu sagen, was ich nicht verschweigen darf, als einem von den Bekannten unsers Hauses. Betrachten Sie sich als einen Arzt, der zu Kranken gerufen wird. – Der Freiherr hat mir heute früh einige Mitteilungen über seine Vermögensverhältnisse gemacht.« –

Und jetzt erzählte sie ihm, was sie von den Verwickelungen ihres Gemahls verstanden hatte, von der Gefahr, in welcher das Familiengut schwebte, von dem Kapital, dessen er bedurfte, um die polnische Herrschaft zu übernehmen. Es war unvollständig, was sie zu sagen wußte, aber es reichte hin, Anton mit banger Sorge um die Zukunft der Familie zu erfüllen.

»Mein Mann hat mir den Schlüssel zu seinem Sekretär übergeben; er wünscht, daß Eugen mit einem Sachverständigen unsere Angelegenheiten ruhiger, als der Freiherr selbst, berate. An Sie habe ich die Bitte, daß Sie mit meinem Sohn diese Prüfung vornehmen. Wo Sie Auskunft brauchen, werde ich Ihnen diese von[474] dem Freiherrn zu verschaffen suchen. Es fragt sich nun, ob Sie geneigt sind, für uns, die wir Ihnen doch Fremde sind, diese Mühe zu übernehmen.«

»Gern bin ich dazu bereit«, erwiderte Anton ernst, »und ich hoffe durch die Güte meines Chefs die dazu nötige Zeit zu erhalten; wenn Sie es nicht für zweckmäßiger finden, dem erfahrenen Anwalt Ihres Gemahls diese Tätigkeit zu überweisen.«

»Es wird ja wohl später Gelegenheit sein, diesen Herrn um seinen Rat zu fragen«, sagte die Baronin abwehrend.

Anton erhob sich. »Wann befehlen Sie, daß wir anfangen?«

»Sogleich«, erwiderte die Dame, »ich fürchte, es ist kein Tag zu verlieren. Ich werde mir Mühe geben, Ihnen bei Durchsicht der Papiere zu helfen.« Sie führte Anton in das Nebenzimmer, rief Eugen herzu und steckte den Schlüssel in das Bureau des Freiherrn. Als sich der Schrank öffnete, verlor auch sie auf einen Augenblick die Selbstbeherrschung, und ihrem Mund entglitten die Worte: »Die Hinterlassenschaft eines Toten!« Sie wankte an das Fenster, und die zitternde Bewegung der Gardine verriet den Kampf, in dem ihr Körper erbebte.

Die traurige Arbeit begann, Stunde auf Stunde verlief, Eugen war nicht imstande, die Durchsicht zu ertragen, aber die Mutter reichte Anton die Briefe und Dokumente zu, welche sie für nützlich hielt, und so oft sie auch ihre Tätigkeit unterbrechen mußte, sie hielt aus. Anton ordnete das Vorhandene und suchte bei flüchtiger Durchsicht einzelner Schreiben wenigstens zu einem oberflächlichen Verständnis zu kommen.

Es war Abend geworden, da öffnete der alte Diener erschrocken die Tür und rief in das Zimmer: »Er ist wieder da.« Die Baronin stieß einen leisen Schrei aus und machte mit der Hand eine abweisende Bewegung.

»Ich habe ihm gesagt, daß niemand zu Hause ist, er aber läßt sich nicht fortschicken, er lärmt auf der Treppe, ich kann nicht mit ihm fertig werden.«

»Es ist mein Tod, wenn ich ihn wieder höre«, murmelte die Baronin.

»Wenn der Mann Ehrenthal ist«, sagte Anton aufstehend, »so will ich versuchen, ihn fortzuschaffen. Das Nötigste ist hier geschehen, haben Sie die Güte, diese Papiere zu bewahren und mir[475] zu erlauben, daß ich morgen wiederkomme.« Die Baronin winkte stumm eine Bejahung und sank in den Stuhl zurück. Anton ergriff seinen Hut und eilte in das Vorzimmer, wo er schon von weitem die lärmende Stimme Ehrenthals vernahm.

Er erschrak über das Aussehen des Händlers. Den Hut weit nach dem Nacken zurück gesetzt, das bleiche Gesicht wie vom Trunk aufgedunsen, die gläsernen Augen gerötet, stand Ehrenthal vor ihm und rief in abgebrochenen Sätzen nach dem Freiherrn, klagte und fluchte. »Er soll kommen«, schrie er, »auf der Stelle soll er kommen, der schlechte Mann. Ein Edelmann will er sein, ein Lump ist er, gegen den ich werde holen die Polizei, Wo ist mein Geld, wo ist meine Hypothek? Ich will wiederhaben meine Sicherheit von diesem Mann, welcher nicht ist zu Hause.«

Anton trat dicht an ihn heran und sagte mit fester Stimme: »Kennen Sie mich, Herr Ehrenthal?« Ehrenthal richtete seine verglasten Augen auf ihn, allmählich erkannte er den Freund des verstorbenen Sohnes.

»Er hat Sie liebgehabt«, rief er kläglich, »er hat mit Ihnen gesprochen mehr als mit seinem Vater. Sie sind gewesen sein einziger Freund, den er gehabt hat auf Erden. – Haben Sie gehört, was geschehen ist im Hause bei Ehrenthal?« fuhr er flüsternd fort. – »Als sie gestohlen haben die Papiere, ist er gestorben. Er ist gestorben mit einer solchen Hand.« Er ballte die Faust und schlug sich vor die Stirn. »O mein Sohn, mein Sohn, was hast du nicht verziehen deinem Vater!«

»Wir gehen zu Ihrem Sohn«, sprach Anton und ergriff den Arm des Händlers. Ehrenthal leistete keinen Widerstand und ließ sich von ihm die Treppe hinunter nach seinem Hause führen.

Von da eilte Anton zur Wohnung des Justizrat Horn und hatte mit diesem eine lange Unterredung.

Leidenschaftlich bewegt kam er am späten Abend nach Hause. In der Sorge um die Menschen, deren sicheres Glück ihm seit Jahren die Phantasie erfüllt hatte, erbebte sein Herz, das Vertrauen, mit dem sie ihn in ihr Unglück eingeweiht hatten, erfüllte ihn mit Stolz. Er brannte vor Begierde, ihnen zu helfen; er hoffte, daß dem treuen Diensteifer gelingen werde, die Wege zur Rettung zu finden. Noch sah er sie nicht. Als er im Mondenschein das große Haus der Handlung vor sich erblickte, die Fenster des untern[476] Stocks vergittert, Gewölbe und Keller mit eisernen Türen verschlossen, so sicher und fest im Schlummer der Nacht, da wurde ihm klar: Wenn ein Mann helfen konnte, so war es sein Prinzipal. Sein Scharfblick wußte in alle dunklen Geheimnisse, denen der Freiherr verfallen war, einzudringen, seiner eisernen Kraft mußten die Schurken erliegen, welche den Gutsbesitzer festhielten. Ja und er hatte ein großes Herz, er fand das Rechte mühelos, ohne Kampf. Anton sah zu dem ersten Stock auf. Die ganze Hausfronte war finster, nur in der Eckstube brannte noch ein Licht. Dort war das Arbeitszimmer seines Chefs.

Mit schnellem Entschluß suchte Anton den Bedienten auf und ließ sich zu Herrn Schröter führen. Verwundert sah dieser auf den eintretenden Anton. »Was bringen Sie, Wohlfart? Ist etwas vorgefallen?«

»Ich bitte um Ihren Rat, ich bitte um Ihre Hilfe«, rief Anton.

»Für sich oder für andere?« frug der Kaufmann.

»Für eine Familie, mit welcher ich durch Zufall in Verbindung gekommen bin. Sie geht unter, wenn nicht eine starke Freundeshand das Unheil abwehrt.« Darauf berichtete Anton in fliegender Eile, was er an diesem Nachmittag erlebt hatte, faßte in seiner Bewegung die Hand des Kaufmanns und rief: »Was ich gesehen habe, war schrecklich für mich. Haben Sie Erbarmen mit den unglücklichen Frauen und helfen Sie.«

»Helfen?« frug der Kaufmann ernst – »Wie kann ich das? Haben Sie einen Auftrag, mich dazu in Anspruch zu nehmen; oder ist es nur Ihre warme Empfindung, welche diese Forderung an mich richtet?«

»Ich habe keinen Auftrag«, sagte Anton, »nur der Anteil, den ich an dem Schicksal des Freiherrn nehme, treibt mich zu Ihnen.«

»Und welches Recht haben Sie, mir diese Mitteilung zu machen, die Ihnen selbst doch nur im engen Vertrauen von der Frau des Gutsbesitzers gemacht sein kann?« frug der Kaufmann zurückhaltend.

»Ich begehe keine Indiskretion, wenn ich Ihnen sage, was in wenigen Tagen auch für Fremde kein Geheimnis sein wird.«

»Sie sind jetzt in einer ungewöhnlichen Aufregung, sonst würden Sie nicht vergessen, daß unter allen Umständen der Kaufmann,[477] der erste Korrespondent meines Comtoirs, solche Mitteilungen nur mit besonderer Erlaubnis der Beteiligten wagt. Es versteht sich von selbst, daß ich keinen Mißbrauch von dem machen werde, was Sie mir gesagt haben, aber es war doch wenig geschäftsmäßig, Wohlfart, daß Sie so offen gegen mich waren.«

Anton schwieg betroffen. Er erkannte, daß sein Prinzipal recht hatte, aber es schien ihm hart, daß dieser in solcher Stunde den Vertrauenden tadelte. Auch der Kaufmann ging schweigend im Zimmer auf und ab; endlich blieb er vor Anton stehen. »Ich frage Sie jetzt nicht, wie Sie dazu kommen, so warmen Anteil an dem Schicksal dieser Familie zu nehmen; ich fürchte, es ist eine Bekanntschaft, die Sie Fink verdanken.«

»Sie sollen alles erfahren«, warf Anton ein.

»Noch nicht«, erwiderte der Prinzipal abwehrend. »Jetzt will ich Ihnen nur wiederholen, daß für mich keine Möglichkeit vorhanden ist, ohne direkte Aufforderung der Beteiligten in fremde Angelegenheiten einzugreifen. Ich füge hinzu, daß ich diese Aufforderung nicht wünsche. Ich verberge Ihnen nicht, daß ich wahrscheinlich auch dann ablehnen würde, etwas für den Freiherrn von Rothsattel zu tun.«

Antons Gefühl wallte auf. »Es gilt, einen ehrlichen Mann, liebenswürdige Frauen aus den Händen von Gaunern zu retten, welche sie umgarnt haben. Dies scheint mir Pflicht eines jeden Mannes, und vollends ich halte es für eine teure Verpflichtung, der ich mich nicht entziehen darf. Ohne Ihre Unterstützung aber vermag ich nichts.«

»Wie also denken Sie, daß dem verschuldeten Gutsbesitzer geholfen werden kann?« frug der Kaufmann sich niedersetzend.

Mit etwas mehr Ruhe erwiderte Anton: »Zunächst nur dadurch, daß ein erfahrener Geschäftsmann wie Sie die Verwicklungen zu durchschauen sucht. Es muß einen Punkt geben, wo die Schurken zu fassen sind. Ihr Rat, Ihre Einsicht würden ihn finden. «

»Beides besitzt jeder Rechtsanwalt in höherem Grade als ich«, entgegnete der Kaufmann, »ohne Schwierigkeit wird der Baron gescheite und ehrliche Juristen gewinnen. Wenn die Gegner des Freiherrn dem Gesetz irgendeine Blöße gegeben haben, so wird das Spürauge eines Sachwalters diese am ersten entdecken.«[478]

»Leider gibt der Anwalt des Freiherrn wenig Hoffnung«, erwiderte Anton.

»Dann, lieber Wohlfart, wird auch für andere schwerlich etwas zu machen sein. Zeigen Sie mir einen Mann, der in Verlegenheit ist und Kraft hat, sich an einer dargebotenen Hand aufzuhelfen, und sagen Sie zu mir: ›Hilf ihm!‹ so werde ich, weil ich Ihr Freund und Ihnen zu großem Dank verpflichtet bin, meine Hand dem Gefährdeten nicht verweigern. Ich denke, Sie sind davon überzeugt.«

»Ich bin es«, versetzte Anton kleinlaut.

»So aber steht es nach allem, was ich höre, mit dem Freiherrn nicht. Soweit ich aus Ihrer Erzählung und dem, was man in der Stadt über ihn erzählt, seine Verhältnisse verstehe, konnte er nur deshalb in die Hände der Wucherer fallen, weil ihm das fehlte, was dem Leben jedes Menschen erst Wert gibt, ein besonnenes Urteil und eine stetige Arbeitskraft.«

Anton mußte dies mit einem Seufzer zugeben.

»Einem solchen Mann zu helfen«, fuhr der Kaufmann unerbittlich fort, »ist eine mißliche Aufgabe, bei welcher der Verstand wohl das Recht hat, zu widersprechen. Man soll vor keinem Menschen die Hoffnung aufgeben, daß er sich ändern kann, aber gerade der Mangel an Kraft wird am allerschwersten gebessert. Unsere Fähigkeit, für andere zu arbeiten, ist beschränkt, und bevor man einem Schwächling seine Zeit opfert, soll man fragen, ob man sich dadurch nicht selbst der Fähigkeit beraubt, einem bessern Mann zu helfen.«

Anton rief unruhig: »Verdient er nicht einige Rücksicht? Er ist in Ansprüchen an das Leben erzogen, er hat nicht wie wir gelernt, durch eigene Anstrengung sich heraufzuarbeiten.«

Der Kaufmann legte die Hand auf die Schulter des jungen Mannes. »Grade darum. Glauben Sie mir, einem großen Teil dieser Herren, welche an ihren alten Familienerinnerungen leiden, ist nicht zu helfen. Ich bin der letzte, zu verkennen, wie groß die Anzahl tüchtiger Männer auch in dieser Menschenklasse ist. Und wo ein bedeutendes Talent oder eine edle Persönlichkeit unter ihnen aufschießt, mag sie sich grade in ihrer geschützten Stellung vortrefflich entfalten; aber für den großen Mittelschlag der Menschen ist diese Lage nicht günstig. Wer von Haus aus den Anspruch[479] an das Leben macht, zu genießen und seiner Vorfahren wegen eine bevorzugte Stellung einzunehmen, der wird sehr häufig nicht die volle Kraft behalten, sich eine solche Stellung zu verdienen. Sehr viele unserer alten angesessenen Familien sind dem Untergange verfallen, und es wird kein Unglück für den Staat sein, wenn sie untergehen. Ihre Familienerinnerungen machen sie hochmütig ohne Berechtigung, beschränken ihren Gesichtskreis, verwirren ihr Urteil.«

»Und wenn das alles wahr ist«, rief Anton, »so darf es uns doch nicht abhalten, dem einzelnen als unserm Mitbruder zu helfen, wo unser Mitgefühl angeregt wird.«

»Nein«, sagte der Prinzipal, »wo es angeregt wird. Aber es glüht im Alter nicht mehr so schnell auf, als in der Jugend. – Der Freiherr soll dahin gearbeitet haben, sein Eigentum aus der großen Flut der Kapitalien und Menschenkraft dadurch zu isolieren, daß er es auf ewige Zeit seiner Familie verschrieb. Auf ewige Zeit! Sie als Kaufmann wissen, was von solchem Streben zu halten ist. Wohl muß jeder vernünftige Mann wünschen, daß der adlige Schacher mit Grundbesitz in unserm Lande aufhört, jedermann wird es für vorteilhaft halten, wenn die Kultur desselben Bodens vom Vater auf den Sohn übergeht, weil so die Kräfte des Ackers am ersten liebevoll und planmäßig gesteigert werden. Wir schätzen ein Möbel, das unsre Vorfahren benutzt haben, und Sabine wird Ihnen mit Stolz jeden Raum dieses Hauses aufschließen, zu dem schon ihre Urgroßmutter die Schlüssel getragen hat. So ist es auch natürlich, wenn im Gemüt des Landwirts der Wunsch entsteht, das Stück Natur, welches ihn umgibt, die Quelle seiner Kraft und seines Wohlstandes, den Menschen zu erhalten, welche ihm die liebsten sind. Aber dafür gibt es nur ein Mittel, und dies Mittel heißt, seine Lieben tüchtig machen zur Behauptung und zur Vermehrung ihres Erbes. Wo die Kraft aufhört in der Familie oder im einzelnen, da soll auch das Vermögen aufhören, das Geld soll frei dahinrollen in andere Hände, und die Pflugschar soll übergehn in eine andere Hand, welche sie besser zu führen weiß. Und die Familie, welche im Genusse erschlafft, soll wieder heruntersinken auf den Grund des Volkslebens, um frisch aufsteigender Kraft Raum zu machen. Jeden, der auf Kosten der freien Bewegung anderer für sich und seine Nachkommen ein ewiges[480] Privilegium sucht, betrachte ich als einen Gegner der gesunden Entwicklung unseres Staats. Und wenn ein solcher Mann in diesem Bestreben sich zugrunde richtet, so werde ich ihm ohne Schadenfreude zusehn, aber ich werde sagen, daß ihm sein Recht geschehen, weil er gegen einen großen Grundsatz unsers Lebens gesündigt hat. Und für ein doppeltes Unrecht werde ich eine Unterstützung dieses Mannes halten, solange ich befürchten muß, daß meine Hilfe dazu verwandt wird, eine ungesunde Familienpolitik zu unterstützen.«

Anton sah traurig vor sich nieder; er hatte Teilnahme, ein warmes Eingehen in seine Wünsche erwartet, und fand bei dem Mann, der ihm so viel galt, eine Kälte, die er zu überwinden verzweifelte. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen«, sagte er endlich, »aber ich kann in diesem Falle nicht so denken wie Sie. Ich habe den ungeheuern Schmerz in der Familie des Freiherrn mit angesehen, und meine ganze Seele ist voll von Wehmut und Teilnahme und von dem Wunsch, irgend etwas für die Menschen zu tun, welche mir ihr Herz geöffnet haben. Nach dem, was Sie mir gesagt haben, wage ich nicht mehr, Sie selbst zu bitten, daß Sie sich um diese Angelegenheit kümmern. Aber ich habe der Baronin versprochen, ihr, so weit ich mit meiner geringen Kraft vermag und so weit Ihre Güte mir dies erlaubt, beim Ordnen ihrer Verhältnisse behilflich zu sein. Ich ersuche Sie um die Erlaubnis dazu. Ich werde mich bemühen, meine Comtoirstunden regelmäßig einzuhalten, aber wenn ich in den nächsten Wochen zuweilen eine Stunde versäume, so bitte ich Sie, mir dies nachzusehen.«

Wieder ging der Kaufmann schweigend im Zimmer auf und ab, endlich blieb er vor Anton stehen, sah ihm mit tiefem Ernst in das aufgeregte Gesicht, und es war etwas wie Trauer in seinen Zügen, als er mit Überwindung erwiderte: »Denken Sie auch daran, Wohlfart, daß jede Tätigkeit, bei welcher das Gemüt aufgeregt wird, leicht eine Macht über den Menschen gewinnt, die sein Leben ebensowohl stören als fördern kann. Dieser Grund ist es, welcher mir die Gewährung Ihres Wunsches nicht leichtmacht.«

»Auch ich habe vor Wochen dasselbe wie eine Ahnung gefühlt«, sagte Anton leise. »Jetzt kann ich nicht anders.«[481]

»Wohl, so tun Sie, was Sie müssen«, schloß der Kaufmann finster, »ich werde Ihnen keine Hindernisse in den Weg legen. Und ich wünsche, daß Sie nach einigen Wochen die ganze Angelegenheit ruhiger betrachten mögen.« Anton verließ mit mehr Haltung das Zimmer. Der Kaufmann sah lange mit gefurchter Stirn auf die Stelle, an welcher sein Kommis gestanden hatte.

In seinem Innern aber war Anton nicht ruhiger geworden. Die kühle, ja mißfällige Aufnahme seiner Bitte verletzte ihn tief. »So herb, so unerbittlich«, rief er aus, als er sich ermüdet in seinem Zimmer niedersetzte. Aus einem Winkel seiner Seele stieg ihm der Verdacht auf, daß sein Chef doch mehr Egoismus und weniger Gemüt habe, als er ihm zugetraut. Manche Äußerung Finks fiel ihm wieder ein, jener Abend fiel ihm ein, wo der junge Rothsattel in knabenhaftem Übermut gegen den Kaufmann seinen Kamm gesträubt hatte. »Ist es möglich, daß diese Unart von ihm unvergessen ist?« frug er sich zweifelnd. Und hinter den hellen Gestalten der Edelfrauen verblich das scharf gefurchte Gesicht seines Chefs. »Ich tue nicht unrecht«, rief er sich selbst zu; »was er sagen mag, ich habe Rechte auch gegen ihn. Und mein Los wird sein, von heute ab für mich allein den Weg zu suchen, auf dem ich gehen muß.« So saß er lange im Finstern, und düster wie der Raum waren seine Gedanken. Er trat an das Fenster und blickte in den dunkeln Hof hinunter. Da schimmerte in dem matten Schein, der aus den Wolken in sein Zimmer fiel, ein riesiger weißer Kelch neben ihm geisterhaft in der Luft. Erstaunt faßte er danach. Er machte Licht und sah die prächtige Blüte der Calla von Sabinens Blumentisch. An dem geknickten Stengel hing sie traurig herab. Sabine hatte ihm die Blume heimlich hereingestellt. Wie ein trauriges Vorzeichen erschien ihm der kleine Unfall. Er löste die Blüte und legte sie vor sich auf den Tisch, und lange saß er schweigend und starrte auf das zusammengerollte Blütenblatt.

Sabine trat, die Kerze in der Hand, in das Zimmer des Bruders. »Gute Nacht, Traugott«, nickte sie ihm zu – »Wohlfart war den Abend bei dir, so spät hat er dich verlassen.«

»Er wird uns verlassen«, erwiderte der Kaufmann finster. Sabine erschrak, der Leuchter klirrte auf den Tisch. »Um Gottes willen, was ist geschehen? Hat Wohlfart gesagt, daß er von uns will?«[482]

»Noch weiß er es selbst nicht; ich aber sehe es kommen Schritt vor Schritt. Und nicht ich und noch weniger du können etwas tun, um ihn zurückzuhalten. Als er hier vor mir stand und mit glühenden Wangen und bebender Stimme Hilfe für einen ruinierten Mann erbat, sah ich, was ihn forttreibt.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Sabine und sah den Bruder groß an.

»Er hat Lust, der Vertraute eines heruntergekommenen Gutsbesitzers zu werden. Ein Paar Mädchenaugen ziehen ihn ab von uns, es erscheint ihm als ein würdiges Ziel seines Ehrgeizes, Geschäftsführer der Rothsattel zu werden. Er heißt im Comtoir Finks Erbe. Diese Verbindung mit dem adeligen Gutsbesitzer ist die Erbschaft, die ihm Fink hinterlassen hat.« »Und du hast ihm deine Hilfe verweigert?« frug Sabine leise.

»Die Toten sollen ihre Toten begraben«, sagte der Kaufmann rauh und wandte sich ab zu seinem Schreibtisch. Schweigend entfernte sich Sabine. Der Leuchter zitterte in ihrer Hand, als sie durch die lange Zimmerreihe schritt. Ängstlich horchte sie auf ihren eigenen Fußtritt, und ein Schauer überlief sie, ihr war, als glitte eine fremde Gestalt unsichtbar an ihrer Seite hin. Das war die Rache des andern. Der Schatten, welcher aus der Vergangenheit auf ihr schuldloses Leben fiel, er scheuchte jetzt auch den Freund aus ihrem Kreise. An einer andern hing Antons sehnendes Herz, sie selbst war ihm eine Fremde geblieben, die einen Entfernten geliebt und verschmäht hatte und jetzt im Witwenschleier auf das verglühende Gefühl ihrer Jugend zurücksah.

Die nächsten Wochen vergingen Anton in einer aufreibenden Tätigkeit. Er war peinlich bemüht, in den Comtoirstunden seine Pflicht zu tun. Die Abende, jede Freistunde brachte er an dem Aktentisch in Konferenzen mit dem Rechtsanwalt und mit der Baronin zu. Unterdes nahm das Unglück des Freiherrn seinen Verlauf. Er hatte die Zinsen der Kapitalien, welche auf seinem Familiengut lasteten, am letzten Termine nicht gezahlt, eine ganze Reihe von Hypotheken wurden ihm an einem Tage gekündigt, das Familiengut kam unter die Verwaltung der Landschaft. Verwickelte Prozesse erhoben sich. Ehrenthal klagte und forderte die erste Hypothek von zwanzigtausend Talern, und forderte die neue Ausfertigung; er war aber auch geneigt, Ansprüche[483] an die letzte Hypothek zu machen, welche ihm der Freiherr in der unheilvollen Stunde angeboten hatte. Löbel Pinkus forderte ebenfalls die erste Hypothek für sich und behauptete die volle Summe von zwanzigtausend Talern gezahlt zu haben. Ehrenthal hatte keine Beweise und führte seinen Prozeß unordentlich, er war jetzt wochenlang außerstande sich um seine Geschäfte zu kümmern, Pinkus dagegen focht mit allen Ränken, die ein hartgesottener Sünder ausfindig machen konnte, und der Vertrag, welchen der Freiherr mit ihm abgeschlossen hatte, war ein so vortreffliches Meisterstück des schlauen Advokaten, daß der Anwalt des Freiherrn gleich am Anfange des Prozesses wenig Hoffnung gab. Nebenbei bemerkt, Pinkus gewann den Prozeß, die Hypothek wurde ihm zugesprochen und neu für ihn ausgefertigt.

Anton hatte nach und nach Einsicht in die Verhältnisse des Freiherrn gewonnen. Nur den doppelten Verkauf der ersten Hypothek verbarg der Freiherr sorgfältig vor seiner Gemahlin. Er nannte die Ansprüche Ehrenthals unbegründet und äußerte den Verdacht, daß Ehrenthal selbst den Diebstahl in seinem Comtoir begangen habe. Das letztere war in der Tat seine Meinung geworden. So wurde der Name Itzigs Anton gegenüber gar nicht genannt, und der Verdacht gegen Ehrenthal, den auch der Anwalt teilte, verhinderte Anton, bei diesem Aufklärung zu suchen.

Zwischen Anton und dem Kaufmann war eine Spannung eingetreten, welche das ganze Comtoir mit Erstaunen wahrnahm. Finster sah der Kaufmann auf Antons leeren Sitz, wenn dieser einmal in den Arbeitsstunden abwesend war, und gleichgültig auf das Gesicht seines Comtoiristen, welches in Gemütsbewegungen und Nachtarbeit erblich. Wie einst für die Unregelmäßigkeiten Finks, so hatte er auch jetzt für Antons neue Tätigkeit kein Wort, er schien sie nicht zu bemerken. Selbst der Schwester gegenüber beobachtete er ein hartnäckiges Stillschweigen, Sabines Versuche, das Gespräch auf Wohlfart zu bringen, wies er mit kurzem Ernst ab. Antons Herz empörte sich gegen diese Kälte. Nach seiner Rückkehr behandelt wie ein Kind vom Hause, gerühmt, gepflegt, gehätschelt, und jetzt wieder gemißhandelt wie ein Lohnarbeiter, der das Brot nicht verdient, welches man ihm hinwirft. Ein Spielzeug unbegreiflicher Launen! Das wenigstens hatte er nicht verdient![484]

So saß er verschlossen neben der Familie, wortkarg vor seinem Pult, aber des Abends, in der Einsamkeit seines Zimmers, fuhr ihm oft der Gegensatz zwischen einst und jetzt so schneidend durch das Haupt, daß er heftig aufsprang und mit dem Fuß auf den Boden stampfte.

Nur ein Trost blieb ihm: Sabine zürnte ihm nicht. Er sah sie jetzt wenig. Auch sie war bei Tische schweigsam und vermied Anton anzureden; aber er wußte doch, daß sie ihm recht gab. Wenige Tage nach jener Unterredung mit dem Kaufmann stand Anton allein an der großen Waage, während die Hausknechte vor der Tür um einen Frachtwagen beschäftigt waren. Da kam Sabine die Treppe herab, sie ging so nahe bei ihm vorbei, daß ihr Kleid ihn berührte. Anton trat zurück und machte eine förmliche Verbeugung. »Mir dürfen Sie nicht fremd werden, Wohlfart«, sagte sie leise und sah ihn bittend an. Es war nur ein Augenblick, ein kurzer Gruß, aber in dem Gesicht beider glänzte eine frohe Rührung.

So kam die Zeit heran, in welcher Herr Jordan die Handlung verlassen sollte. Der Prinzipal rief Anton wieder in das kleine Comtoir. Ohne Härte, aber auch ohne eine Spur der Herzlichkeit, die er ihm sonst gezeigt hatte, begann er: »Ich habe Ihnen meine Absicht ausgesprochen, Sie an Jordans Stelle zu setzen, um Ihnen die Prokura zu übergeben. Ihre Zeit war in den letzten Wochen durch andere Geschäfte mehr in Anspruch genommen, als für meinen Stellvertreter wünschenswert ist – deshalb frage ich Sie selbst, sind Sie imstande, von jetzt ab die Tätigkeit Jordans zu übernehmen?«

»Nein«, erwiderte Anton.

»Können Sie mir eine – nicht zu entfernte – Zeit angeben, in welcher Sie frei von Ihren gegenwärtigen Arbeiten sein werden?« frug der Kaufmann. »Ich würde in diesem Fall für die nächste Zeit eine Auskunft zu treffen suchen.«

Anton erwiderte traurig: »Noch kann ich nicht bestimmen, wann ich wieder Herr meiner ganzen Zeit sein werde; ich fühle, daß ich durch manche Unregelmäßigkeit Ihre Nachsicht ohnedies sehr in Anspruch nehme. Deshalb bitte ich Sie, Herr Schröter, bei Besetzung der Stelle auf mich keine Rücksicht zu nehmen.« Die Stirn des Kaufmanns zog sich in Falten, und stumm neigte er sein[485] Haupt gegen Anton. Als Anton die Tür des Zimmers hinter sich schloß, fühlte auch er, daß dieser Augenblick den Bruch zwischen ihm und dem Kaufmann vollendet hatte. Er setzte sich auf seinen Platz und stützte den heißen Kopf mit der Hand. Gleich darauf wurde Baumann zum Prinzipal beschieden, er erhielt die Stelle Jordans. Als er in das vordere Comtoir zurückkehrte, trat er zu Anton und sagte leise: »Ich habe mich geweigert, die Stelle zu übernehmen, aber Herr Schröter bestand darauf. Ich begehe ein Unrecht gegen Sie.« – Und am Abend las Herr Baumann in seiner Stube aus dem ersten Buch Samuelis die Kapitel vom grimmigen König Saul, seinem Prinzipal, und von der Freundschaft zwischen Jonathan und dem verfolgten David, und stärkte dadurch sein Herz.

Den Tag darauf trat Anton in das Zimmer der Baronin. Lenore und die Mutter saßen an einem großen Tisch unter Toiletten und Kästchen von jeder Form; ein Koffer, stark mit Eisen beschlagen, stand zu den Füßen der Edelfrau. Die Vorhänge waren geschlossen, das gedämpfte Sonnenlicht füllte den reichgeschmückten Raum mit einem matten Glanz; auf dem Teppich des Fußbodens lagen nimmer welkende Kränze, und lustig tickte die Uhr im Gehäuse von Alabaster. Unter blühender Myrthe saßen zwei Sympathievögel in einem versilberten Käfig, sie schrien unaufhörlich einander zu, und wenn der eine zur nächsten Stange hinabflatterte, lockte der Genosse ihn ängstlich, bis er zurückflog. Dann saßen beide behaglich, dicht aneinandergedrückt. Von grünem und roten Gold schimmerten die kleinen zärtlichen Kinder eines wärmern Himmels, wo nie das weiche Leben im kalten Sturmwind erstarrt. So glänzte und duftete das Zimmer. – »Wie lange noch?« dachte Anton.

Die Baronin erhob sich: »Schon wieder bemühen wir Sie. Wir sind bei einer Arbeit, die uns Frauen viel zu tun macht.«

Auf dem Tische war Frauenschmuck, goldene Ketten, Brillanten, Ringe, Halsbänder in einen Haufen zusammengeschichtet. »Wir haben ausgesucht, was wir entbehren können«, sagte die Baronin, »und bitten Sie, den Verkauf dieser Sachen zu übernehmen. Man hat mir gesagt, daß einzelnes davon nicht ohne Geldwert ist, und da jetzt vor allem Geld nötig wird, so suchen wir hier eine Hilfe, welche die Sorge unserer Freunde verringert.«[486]

Anton sah betroffen auf den blitzenden Knäuel. »Sprechen Sie, Wohlfart«, rief Lenore ängstlich, »ist das nötig und kann es etwas nützen? Mama hat darauf bestanden, unsern ganzen Schmuck und alles Silber, das wir nicht täglich gebrauchen, zum Verkauf zurückzulegen. Was ich selbst geben kann, ist nicht der Rede wert, aber der Schmuck der Mutter ist kostbar, es sind viele Geschenke aus ihrer Jugend dabei, Erinnerungen, von denen sie sich nicht trennen soll, wenn Sie nicht sagen, daß es nötig ist.«

»Ich fürchte, es wird nötig sein«, erwiderte Anton ernst.

Lenore sprang auf. »Arme Mutter«, rief sie zärtlich und schlang ihre Arme um den Hals der Baronin. »Nehmen Sie«, erwiderte die Mutter leise zu Anton, »ich werde ruhiger sein, wenn ich weiß, daß wir das Mögliche getan haben.«

»Ist es aber gut, alles hinzugeben?« frug Anton bittend. »Vieles, was Ihnen vielleicht lieb ist, wird dem Juwelier weniger Wert haben.«

»Ich werde keinen Schmuck mehr tragen«, erwiderte die Baronin kalt, »nehmen Sie alles, alles.« Sie hielt die Hand vor die Augen und wandte sich ab.

»Wir foltern die Mutter«, rief Lenore heftig, »verschließen Sie, was auf dem Tisch liegt, schaffen Sie es fort aus dem Hause so bald als möglich.«

»Ich kann diese Kostbarkeiten nicht übernehmen«, sagte Anton, »ohne einige Maßregeln, welche meine Verantwortung geringer machen. Vor allem will ich in Ihrer Gegenwart wenigstens flüchtig aufzeichnen, was Sie mir übergeben wollen.«

»Welch unnütze Grausamkeit!« rief Lenore.

»Es soll nicht lange aufhalten.« Anton riß einige Blätter aus seiner Brieftasche und schrieb Stück für Stück auf.

»Du darfst nicht zusehen, Mutter, ich leide es nicht«, drängte Lenore, sie zog die Mutter aus dem Zimmer; dann setzte sie sich zu Anton und sah ihm zu, wie er die einzelnen Stücke einpackte, mit Nummern versah und zusammen in den Koffer legte.

»Diese Vorbereitungen für den Markt sind schrecklich«, klagte Lenore, »das ganze Leben der Mutter wird verkauft, an jedem Stück hängen für sie Erinnerungen. Sehen Sie, Wohlfart, diesen Diamantenschmuck hat sie von der Prinzessin bekommen, als sie den Vater heiratete.«[487]

»Es sind prachtvolle Brillanten«, rief Anton bewundernd.

»Dieser Ring stammt von meinem Großvater, und das hier sind Geschenke meines armen Papas. – Ach, kein Mann versteht, wie lieb uns diese Schmucksachen sind. Es war jedesmal ein Festtag auch für mich, wenn Mama die Brillanten trug. – Jetzt kommen wir zu meinen Habseligkeiten, sie sind nicht viel wert. Ob dieses Armband gutes Gold sein mag?« Sie hielt ihm ihre Hand hin.

»Ich weiß es nicht.«

»Wir wollen es doch zu dem übrigen tun«, sagte Lenore, streifte den Goldreif vom Arm und legte ihn auf den Tisch. »Ja, Sie sind ein guter Mensch, Wohlfart«, fuhr sie fort und sah ihm treuherzig in die feuchten Augen; »verlassen nur Sie uns nicht. Der Bruder hat keine Erfahrung und ist hilfloser als wir. Es ist eine furchtbare Lage auch für mich. Vor Mama mühe ich mich, gefaßt zu sein, aber ich möchte laut schreien und weinen den ganzen Tag.« Sie sank in einen Stuhl und hielt seine Hand fest. »Lieber Wohlfart, verlassen Sie uns nicht.«

Anton beugte sich über sie und sah in leidenschaftlicher Bewegung auf die schöne Gestalt, die so vertrauend aus ihren Tränen zu ihm aufsah. »Ich will Ihnen nützlich sein, wo ich kann«, sprach er in mächtiger Aufwallung seines Gefühls, »ich will Ihnen nahe sein, sooft Sie mich bedürfen. Sie haben eine zu gute Meinung von meinen Kenntnissen und meiner Kraft, ich kann Ihnen weniger helfen, als Sie glauben. Was ich aber vermag, das werde ich tun. In jeder Tätigkeit und auf allen Wegen.«

Mit einem warmen Druck lösten sich ihre Hände, ein Vertrag war geschlossen.

Die Baronin kam in das Zimmer zurück. »Unser Anwalt war heut morgen bei mir. Jetzt bitte ich auch Sie um Ihren Rat. Wie der Anwalt mir mitteilt, ist keine Aussicht, das Familiengut dem Freiherrn zu erhalten.«

»In dieser Zeit, wo das Geld teuer und schwer zu haben ist, keine«, erwiderte Anton.

»Und auch Sie sind der Meinung, daß wir alles anwenden müssen, um die polnische Herrschaft uns zu retten?«

»Ja«, erwiderte Anton.

»Auch dazu wird Geld nötig sein. Vielleicht vermag ich durch[488] meine Verwandten Ihnen eine, wenn auch geringe Summe zugänglich zu machen; sie soll mit diesem da« – sie wies auf den Koffer – »ausreichen, die Kosten der ersten Einrichtung zu decken. Ich wünsche den Schmuck nicht hier zu verkaufen, auch für die Übernahme der Geldsumme, welche ich hoffen darf, wird eine Reise nach der Residenz nötig sein. Der Anwalt des Freiherrn hat mit großer Achtung von ihrer Umsicht gesprochen. Es ist auch sein Wunsch, der mich bestimmt, Ihnen ein Anerbieten zu machen: Wollen Sie uns für die nächsten Jahre, wenigstens so lange, bis die größten Schwierigkeiten überwunden sind, ihre ganze Zeit widmen? Ich habe mit meinen Kindern beraten, beide sehen, wie ich, in Ihrer Tätigkeit die einzige Rettung. Auch der Freiherr ist damit einverstanden. Es fragt sich, ob Ihre Verhältnisse Ihnen erlauben, uns Unglücklichen Ihren dauernden Beistand zu gönnen. Unter welchen Bedingungen Sie dies auch tun, wir werden Ihnen dankbar sein. Wenn Sie irgendeine Form finden, in der wir die großen Verpflichtungen, die wir gegen Sie haben, auch in Ihrer äußern Stellung ausdrücken können, so sagen Sie mir das.«

Anton stand erstarrt. Was die Baronin von ihm forderte, war Trennung von dem Geschäft und Trennung von seinem Chef und Sabine. War ihm derselbe Gedanke schon früher gekommen, wenn er vor Lenore stand oder wenn er sich über die Briefe des Freiherrn beugte? – Jetzt, wo das Wort ausgesprochen wurde, erschütterte es ihn. Er sah auf Lenore, welche hinter der Mutter ihre Hände bittend zusammenlegte. »Ich stehe in einem Verhältnis«, erwiderte er endlich, »welches ich nicht ohne Einwilligung anderer lösen darf, ich bin auf diesen Antrag nicht vorbereitet und bitte Sie, gnädige Frau, mir Zeit zur Überlegung zu lassen. Es ist ein Schritt, der über meine Zukunft entscheidet.«

»Ich dränge nicht«, sagte die Baronin, »ich bitte nur. Wie Ihre Entscheidung auch ausfalle, unser warmer Dank wird Ihnen bleiben; wenn Sie außerstande sind, unsere schwache Kraft zu stützen, so fürchte ich, finden wir niemanden. Denken Sie auch daran«, bat sie flehend.

Mit glühenden Wangen eilte Anton über die Straße. Der bittende Blick der Edelfrau, die gerungenen Hände Lenorens winkten ihn hinaus aus dem dunkeln Comtoir in größere Freiheit, in[489] eine ungewöhnliche Zukunft, aus deren Dunkel einzelne Bilder leuchtend vor ihm aufblitzten. Mit großem Sinn war eine Forderung an ihn gestellt, und es zog ihn mächtig, ihr gerecht zu werden. Ein unermüdlicher, aufopfernder Helfer war den Frauen nötig, um sie vor dem Unheil zu bewahren. Und er tat ein gutes Werk, wenn er dem Drange folgte, er erfüllte eine Pflicht.

So trat er in das Haus der Handlung. Ach! was hier sein Auge ansah, streckte eine Hand aus, ihn festzuhalten. Er sah in das dämmrige Warengewölbe, in die treuen Gesichter der Hausknechte, auf die Ketten der großen Waage und über den Farbentopf des ehrlichen Pix, und empfand wieder, daß er hierher gehörte. Der Hund Sabinens küßte seine Hand mit feuchter Schnauze und lief hinter ihm her bis an sein Zimmer. Sein und Finks Zimmer! Hier hatte das kindische Herz des verwaisten Knaben einen Freund gefunden, gute Kameraden, eine Heimat, ein festes ehrenhaftes Ziel für sein Leben. Und er sah durch das Fenster hinab in den Hof, auf die Winkel und Vorsprünge des mächtigen Hauses, auf das Gitterfenster, hinter welchem Herr Liebold am Hauptbuch saß, in das Comtoir, wo sein Pult stand, und auf die kleine Stube, wo er arbeitete, der ihm jetzt zürnte und der jahrelang sein väterlicher Freund gewesen war. Da fiel sein Blick auch auf das Fenster von Sabinens Vorratsstube; oft hatte sein Auge dort einen wandernden Lichtschimmer gesucht, der das ganze große Haus erhellte und auch Behagen in sein Zimmer sandte. Und schnell aufgerichtet sprach er zu sich selbst: »Sie soll entscheiden. «

Sabine erhob sich überrascht, als Anton mit schnellem Schritt vor sie trat. »Es treibt mich unwiderstehlich zu Ihnen«, rief er. »Ich soll über meine Zukunft einen Entschluß fassen, und ich fühle mich unsicher und traue meinem Urteil nicht mehr. Sie sind mir immer eine gütige Freundin gewesen, vom ersten Tage meines Eintritts. Ich bin gewöhnt, auf Sie zu sehen und an Sie zu denken bei allem, was in diesem Hause mein Herz erregt. Lassen Sie mich auch heut aus Ihrem Munde hören, was Sie für gut halten. Mir ist von Frau von Rothsattel der Antrag gemacht worden, als Bevollmächtigter des Freiherrn in ein festes Verhältnis zu ihm zu treten. Soll ich annehmen oder soll ich hierbleiben? Ich weiß es nicht; sagen Sie mir, was recht ist für mich und für andere.«[490]

»Nicht ich«, sagte Sabine zurücktretend, und ihre Wange erblich. »Ich darf nicht wagen, darüber zu entscheiden. – Und Sie selbst wollen das nicht, Wohlfart, denn Sie haben bereits entschieden.«

Anton sah vor sich hin.

»Sie haben daran gedacht, dies Haus zu verlassen, und aus dem Gedanken ist ein Wunsch geworden. Und ich soll Ihnen recht geben und Ihren Entschluß loben. Das wollen Sie von mir«, fuhr sie bitter fort. – »Das aber kann ich nicht, Wohlfart, denn ich traure, daß Sie von uns gehen.«

Sie wandte ihm den Rücken zu und stützte sich auf einen Stuhl.

»O zürnen Sie mir nicht, Fräulein Sabine«, flehte Anton, »das kann ich nicht ertragen. Ich habe in den letzten Wochen viel gelitten. Herr Schröter hat mir plötzlich sein Wohlwollen entzogen, das ich lange für den größten Schatz meines Lebens hielt. Ich habe seine Kälte nicht verschuldet. Nicht unrecht war, was ich in der letzten Zeit getan habe, und mit seinem Vorwissen habe ich es getan. Ich war wohl verwöhnt durch seine Güte, ich habe deshalb auch seinen Unwillen um so tiefer empfunden. Und wenn ich eine Beruhigung hatte, so war es der Gedanke, daß Sie mich nicht verurteilen. Seien Sie jetzt nicht kalt gegen mich, es würde mich elend machen für immer. Ich habe keine Seele auf Erden, die ich um Liebe bitten darf und um Verständnis für meine Zweifel. Hätte ich eine Schwester, heut würde ich ihr Herz suchen. Sie wissen nicht, was mir, dem Einsamen, Ihr Gruß, Ihr fröhlicher Handschlag bis heut gewesen ist. Wenden Sie sich nicht kalt von mir, Fräulein Sabine.«

Sabine schwieg lange, und von ihm abgewandt frug sie endlich zurück: »Was zieht Sie zu den Fremden – ist's eine frohe Hoffnung – ist's das Mitgefühl allein? – Seien Sie strenger gegen sich selbst, als ich gegen Sie bin, wenn Sie sich darauf antworten.«

»Was mir jetzt möglich macht, von hier zu scheiden, weiß ich nicht. Wenn ich für die Bewegung in mir einen Namen suche, so ist es heiße Dankbarkeit gegen eine. – Sie war die erste, die freundlich zu dem wandernden Knaben sprach, als er allein in die Welt zog. Ich habe sie bewundert in dem ruhigen Glanz ihres vergangenen Lebens. Ich habe oft kindisch von ihr geträumt. Es[491] war eine Zeit, wo eine zärtliche Empfindung für sie mein ganzes Herz erfüllte, damals glaubte ich für immer an ihr Bild gefesselt zu sein. Aber die Jahre zogen ein neues Grün darüber, ich sah die Menschen und das Leben mit anderem Auge an. Da fand ich sie wieder, angstvoll, unglücklich, verzweifelt, und die Rührung in mir wurde übermächtig. Wenn ich von ihr entfernt bin, weiß ich, daß sie mir eine Fremde ist, und wenn ich vor ihr stehe, fühle ich nichts, als ihren hinreißenden Schmerz. Damals, als ich aus ihrem Kreis wie ein Übeltäter ausscheiden mußte, damals eilte sie mir nach, und vor den Augen der spöttischen Gesellschaft reichte sie mir die Hand und bekannte sich zu mir. Und jetzt kommt sie und fordert meine Hand zur Hilfe für ihren Vater. Darf ich sie ihr verweigern? Ist es ein Unrecht, daß ich so fühle? Ich weiß es nicht, und niemand kann es mir sagen, niemand, als nur Sie.«

Sabinens Haupt hatte sich heruntergeneigt bis auf die Lehne des Sessels. Jetzt erhob sie sich schnell, und mit tränenvollen Augen, mit einer Stimme voll Liebe und Schmerz rief sie: »Folgen Sie der Stimme, die Sie ruft! Gehen Sie, Wohlfart, gehen Sie!«[492]

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 469-493.
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