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[633] Es war ein sonniger Morgen im April. Einer von den schönen Tagen, wo eine feuchte Wärme die Knospen der Bäume entfaltet und das Menschenherz zu schnelleren Schlägen treibt. Lenore ging mit Hut und Sonnenschirm aus dem Schlosse nach dem Hofe und schritt in dem Rinderstall die Reihe der gehörnten Häupter entlang. Mit großen Augen sah das Volk der Kühe nach ihr hin, alle erhoben die breiten Mäuler, zuweilen brüllte eine lustige Kuh und erbat etwas Gutes aus ihrer Hand. »Ist Herr Wohlfart hier?« frug Lenore den Amtmann, der am Stall vorübereilte.

»Er ist im Schlosse, gnädiges Fräulein.«

»Sein Besuch ist doch wohl bei ihm?« frug sie weiter.

»Herr von Fink ist schon diesen Morgen nach Neudorf geritten, der hat keine Ruhe in der Stube, er ist am liebsten zu Pferde. Der wäre ein Husarenoffizier geworden!«

Als Lenore so erfahren hatte, wohin Herr von Fink geritten[633] war, ging sie, um dem Gast nicht zu begegnen, langsam in anderer Richtung über den Bach und die Äcker dem Walde zu. Sie sah nach dem blauen Himmel und auf die sprossende Erde. In dem klaren Morgenlicht glänzten die Wintersaat und die grünen Spitzen des Grases so fröhlich, daß ihr das Herz lachte. Auf den Weiden am Bach lag der Frühling wie ein durchsichtiger Hauch, die goldgelben Ruten strotzten von Saft, und aus den geschwollenen Knospen brachen die ersten Blätter hervor. Auch der Sand war ihr heut kein Ärger, sie schritt mit leichtem Fuß über den breiten Gürtel, der den Wald umgab, und eilte auf dem Fußwege durch die Kiefern dem Försterhause zu. Im Walde tummelte sich mit Geschrei und Brummen die kleine Tierwelt. Wo eine Gruppe Laubbäume unter den Nadeln stand, tönte jedesmal der kräftige Schlag des Finkenhahns, oder das eifrige Gezwitscher eines neuvermählten Paares kleiner Waldvögel, welche miteinander zankten, auf welchem Zweig sie ihr Nest in diesem Jahr erbauen wollten. In ihrem schwarzen Küraß schnurrten die Käfer um die Knospen der Birke, zuweilen summte eine wilde Biene, die früh aus dem Winterschlaf aufgeflogen war, auch die braunen Schmetterlinge flatterten schon über den Beerenstrauch, und wo der Grund tiefer war, leuchteten im Schatten die weißen Sterne der Anemone und gelbe Himmelsschlüssel. Lenore nahm den Strohhut ab und ließ die warme Luft um ihre Schläfe ziehn, mit tiefen Zügen atmete sie den Duft des Waldes ein, der um die jungen Stämme der Föhren schwebte. Oft stand sie still und horchte auf die Stimmen in ihrer Nähe, sie sah in das zarte Laub der Bäume und schlug mit der Hand auf die weiße Rinde einer Birke, sie stand an dem murmelnden Quell vor dem Försterhause und fuhr liebkosend in die kleinen Fichten am Zaun, welche gedrängt und regelmäßig wie Bürstenhaare standen. Ihr war, als hätte sie den Wald noch nie so lebendig gesehen. Die Hunde im Hofe des Försters bellten wütend, sie hörte den Fuchs mit seiner Kette rasseln und sah hinauf zu dem Dompfaff, der in seinem Bauer auf und ab sprang und wie die großen Herren, die Hunde, zu bellen versuchte.

»Still, Hektor, still, Bergmann«, rief Lenore an die Pforte klopfend. Der stürmische Ruf der Hunde verwandelte sich in freundliche Begrüßung. Als sie die Pforte öffnete, kam ihr Bergmann,[634] der Dachshund, breitbeinig entgegen und wedelte unmäßig mit seinem Schwanz, und Hektor umsprang sie in kühnen Sätzen und roch nach ihrer Tasche, selbst der Fuchs kroch in seine Hütte zurück, legte den Kopf lauschend auf seinen Futtertrog und blinzelte sie schlau an. An der andern Seite des Zaunes aber sah sie einen Pferdekopf über die Fichten ragen, – gerade er, den sie vermeiden wollte, war in dieser Einsamkeit. Sie stand einen Augenblick unschlüssig und war im Begriff, sich still wieder zu entfernen, als der Förster auf die Türschwelle trat und sie begrüßte. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück; sie folgte dem Alten nach seiner Stube. In der Mitte des Zimmers stand Fink, hell beleuchtet von dem gelben Sonnenstrahl, der durch die kleinen Scheiben fiel. Er trat ihr artig entgegen. »Ich ging aus, das Handwerk zu grüßen«, sagte er auf den Förster deutend, »und bin gerade dabei, mich über Ihren trotzigen Vasallen und seine heimliche Wohnung zu freuen.« Der Förster rückte einen Stuhl, Lenore mußte sich setzen, Fink lehnte ihr gegenüber an der braunen Holzwand und sah sie mit unverhohlener Bewunderung an. »Sie sind ein mächtiger Gegensatz zu dem alten Knaben hier und diesem Raume«, sagte er sich umsehend. »Ich bitte, winken Sie nicht mit Ihrem Sonnenschirm, alle diese ausgestopften Vögel erwarten nur Ihren Befehl, um wieder lebendig zu werden und sich zu Ihren Füßen niederzulassen. Dort der Reiher hebt schon seinen Kopf in die Höhe.« – »Es ist nur der Schein von der Sonne«, sagte der Förster beruhigend.

Lenore lachte. »Diese Ausreden kennen wir«, rief Fink, »Ihr seid mit im Komplott, Ihr seid der Gnom dieser Königin. Wenn hier keine Zauberei getrieben wird, will ich alle Tage meines Lebens verschlafen. Ein Zeichen mit diesem Stabe, und die Deckbalken dieses großen Vogelbauers klappen zurück und Sie fliegen mit Ihrem Gefolge aus der Hütte hinaus in das Sonnenlicht. Es ist kein Zweifel, in dem Gipfel der Föhren draußen ist Ihre Residenz, die luftige Halle, in welcher Ihr Thron steht, mächtige Herrin dieser Hütte, blondlockige Göttin des Frühlings.«

»Mein Trost ist nur«, sagte Lenore etwas verwirrt, »daß nicht ich es bin, die Sie zu solchen Erfindungen veranlaßt, sondern die Freude an der Erfindung selber. Ich bin nur zufällig der unwürdige Gegenstand Ihrer Laune, Sie sind der Dichter.«[635]

»Pfui, wie können Sie mir so etwas nachsagen«, rief Fink, »ich ein Dichter! Außer einigen lustigen Matrosenliedern, deren Text ein gütiges Geschick ewig von Ihrem Ohr fernhalten möge, kenne ich kein einziges Gedicht auswendig. Was ich von Poesie schätze, sind nur einige Bruchstücke der älteren Schule, zum Beispiel: ›Hurre, hurre, hop, hop, hop‹, in einem Gedicht, welches, wenn ich nicht irre, Ihren Namen trägt. Und selbst an dieser klassischen Zeile habe ich noch auszusetzen, daß sie mehr den harten Trab eines Bauerngaules, als den Karrierelauf eines Geisterpferdes ausdrückt. Indes, man muß es mit den Herren von der Schreibstube nicht so genau nehmen. Außer dieser Zeile wird wenig Dichterarbeit in mir aufzufinden sein. Etwa noch der ansprechende Reim des großen Schiller: ›Potz Blitz, das ist ja die Gustel von Blasewitz.‹ In dieser Stelle liegt viel Wahrheit.«

»Sie spotten über mich«, sagte Lenore gekränkt.

»Wahrhaftig nicht«, beteuerte Fink. »Wenn es Ihnen Freude macht, will ich gern noch einige poetische Kleinigkeiten einiger Dichter gelten lassen, vorausgesetzt, daß ich sie nur selten lesen darf. Wie kann man in unserer Zeit Gedichte lesen oder gar machen, wenn man alle Tage selbst welche erlebt. Seit ich wieder in diesem alten Lande bin, vergeht kaum eine Stunde, wo ich nicht etwas sehe oder höre, woran sich in hundert Jahren die Herren von der Feder berauschen werden. Gloriose Stoffe für jede Art von Kunstgeschäft. Hätte ich das Unglück, ein Poet zu sein, so müßte ich jetzt vor Begeisterung hinausstürzen und kopfüber zum Fuchs in die Hütte springen, um dort in sicherer Entfernung von der Leidenschaft ein leidenschaftliches Sonett zu machen, während mich der Fuchs in die Beine beißt. Da ich aber kein Mann von der Feder bin, so ziehe ich vor, das Schöne, das ich hier sehe, zu genießen, und nicht in Reime zu setzen.« Und wieder sah er bewundernd auf das Fräulein.

»Lenore«, rief eine grämliche Stimme aus der Tiefe des Zimmers. Lenore und Fink sahen sich erstaunt um.

»Er hat's gelernt«, sagte der Förster auf den Raben weisend, »er lernt sonst nichts mehr, und sitzt da, grimmig gegen alle Kreatur, aber das hat er doch gelernt.«

Der Rabe am Ofen bog seinen Hals und sah mit scharfen Augen auf die beiden Gäste, er bewegte den Schnabel und schien[636] still in sich hineinzusprechen, bald nickte er mit dem Kopf, bald schüttelte er ihn.

»Schon fangen die Vögel an zu reden«, rief Fink zu dem Raben tretend, »die Stubendecke wird sogleich in die Höhe gehn, und ich werde allein zurückbleiben und mit Bergmann und Hektor Ihnen traurig nachsehn. Nun, Hexenmeister, kocht das Wasser?«

Der Förster sah in den Ofen. »Es kocht tüchtig«, sagte er, »aber was tun wir jetzt?«

»Wir bitten das Fräulein um Hilfe«, erwiderte Fink. »Ich habe vor«, sagte er zu Lenore gewandt, »mit Ihrem Familientrapper durch den Wald bis nach der Brennerei zu ziehn und von da weiter; hier habe ich mitgebracht, was mir auf Reisen als Frühstück und Mittagessen dient.« – Er holte einige Tafeln Schokolade hervor. »Wir wollen daraus etwas machen, was einem Tranke ähnlich sieht. Wenn Sie nicht verschmähen, uns bei unserm Unternehmen Gesellschaft zu leisten, schlage ich vor, daß wir diese Schokolade so gut als möglich mit dem Wasser zu verbinden suchen. Es wäre reizend von Ihnen, wenn Sie eine Ansicht darüber aussprächen, wie wir das anfangen sollen.«

»Haben Sie ein Reibeisen oder einen Mörser?« frug Lenore lachend den Förster.

»Diese Geräte habe ich nicht«, erwiderte der Waldmensch.

»Aber einen Hammer«, frug Fink, »und einen reinen Bogen Papier?« Der Hammer wurde schnell gebracht, der Bogen Papier fand sich nach längern Forschungen. Fink übernahm das Geschäft, die Schokolade zu zerschlagen, der Förster holte frisches Wasser aus dem Quell, Lenore spülte einige Gläser aus, und Fink klopfte eifrig auf dem Tisch herum. »Dies ist antediluvianisches Papier«, sagte er pochend, »lederartig, noch aus der Zeit, wo es keine Papiermaschinen gab; es muß einige Jahrhunderte in dieser verzauberten Hütte gelegen haben.« Lenore schüttete die zerstampfte Masse in den Topf mit Wasser und brachte sie durch einen Quirl in Bewegung. Dann setzten sich alle drei an den Tisch des Försters und tranken mit großem Behagen aus den Gläsern ihrer Hände Werk.

Goldig drangen die Lichtstrahlen in das Zimmer, sie suchten die helle Gestalt des schönen Mädchens und das kräftige Antlitz[637] des Mannes ihr gegenüber, dann fielen sie auf die Wand, wo sie den Kopf des Reihers mit buntem Glanz schmückten und die Flügel des Habichts. Der Rabe schloß sein Selbstgespräch, er flatterte von seinem Sitz auf, hüpfte vor die Füße des Fräuleins und krächzte dort von neuem: Lenore, Lenore!

Friedlich unterhielt sich Lenore mit dem Gast, der Förster gab zuweilen ein kluges Wort dazu. Sie sprachen von der Landschaft und den Menschen darin.

»Wo ich die Polen in fremden Ländern gesehen«, sagte Fink, »habe ich mich immer gut mit ihnen vertragen. Jetzt tut mir leid, daß die Spannung hier so schwer macht, sie in ihrer Heimat aufzusuchen, denn freilich lernt man die Menschen am besten kennen, wenn man sie in ihren Pfählen sieht.«

»Es muß ein großes Glück sein, so vieles Verschiedene zu sehen«, rief Lenore.

»Nur im Anfange fällt das Verschiedene mächtig in die Seele. Wenn man allerlei Volk beobachtet hat, so ist die letzte Empfindung, daß die Menschen einander überall sehr ähnlich sind. Etwas Unterschied in der Hautfarbe und andern Zutaten, aber Liebe und Haß, Lachen und Weinen findet der Reisende allerwegen, und diese Dinge sehen überall ziemlich gleich aus. Es sind jetzt zwanzig Wochen, da war ich eine halbe Erde von hier entfernt in der Holzhütte eines Amerikaners auf öder Grassteppe. Es war nicht anders als hier. Wir saßen an einem dicken Holztisch wie diesem, und mein Wirt sah dem alten Herrn hier so ähnlich, wie ein Ei dem andern. Und gerade wie hier fiel das Licht der Wintersonne durch die kleinen Fenster. – Und wenn die Männer noch mehr haben, was sie unterscheidet, die Frauen vollends sind in der Hauptsache überall dieselben. Nur in einer Kleinigkeit sind sie verschieden.«

»Und was ist dieses?« fragte der Förster.

»Etwas mehr oder weniger reinlich«, sagte Fink nachlässig, »das ist der ganze Unterschied.«

Lenore erhob sich empört, mehr über den Ton, als die Worte.

»Es wird Zeit, daß ich zurückgehe«, sagte sie kalt und band den Strohhut auf.

»Da Sie aufstehen, verschwindet der Glanz aus der Stube«, rief Fink.[638]

»Es ist nur eine kleine Wolke vor die Sonne gelaufen«, sagte der Förster zum Fenster tretend, »diese macht den Schatten.«

»Unsinn«, entgegnete Fink, »der Strohhut macht ihn, der das Haar des Fräuleins versteckt, von den goldenen Locken ging das Licht aus.«

Sie traten aus dem Hause, der Förster verschloß die Pforte, in entgegengesetzter Richtung entfernten sie sich von der Hütte.

Lenore eilte nach Hause, der Zeisig sang, die Amsel pfiff, sie achtete nicht darauf. Sie schalt sich, daß sie die Schwelle des Försterhauses betreten hatte, und doch konnte sie nicht aufhören, daran zu denken. Der Fremde machte sie unruhig und unsicher. War er frech, weil ihm nichts heilig war? War er nur so übermütig sicher? Mußte sie ihm zürnen, oder war das Gefühl von Angst nur die Torheit eines unerfahrenen Mädchens: das frug sie sich unaufhörlich, ach und sie fand keine Antwort!

Als Anton gegen Abend dem Schäfer eine Bestellung auftragen wollte, war weder Karl noch ein Bote zu finden, und da die Herde in keiner großen Entfernung vom Schlosse trieb, so ging Anton selbst in dem Wege, welcher nach dem Brennereigute führte, auf den Schäfer zu. Er war nicht wenig verwundert, als er auf den letzten Äckern an der Straße seinen Freund Fink zu Pferde entdeckte, Karl und den Vogt geschäftig in seiner Nähe. Fink ritt wie ein Kunstreiter kurze Strecken im Galopp, die andern trugen sich mit schwarz und weiß bemalten Stangen, die sie in den Boden steckten und wieder herausrissen. Und dabei sah Karl durch ein kleines Fernrohr, das er über einer Stange befestigt hatte. »Fünfundzwanzig Galoppsprünge«, rief Fink.

»Zwei Zoll Fall«, schrie Karl von hinten.

»Fünfundzwanzig, zwei, steht«, sagte der Vogt und schrieb die Zahlen in seine Brieftafel.

»Kommst du auch herangeschlichen?« rief Fink dem Freunde lachend zu. »Wart eine Weile, wir sind sogleich fertig.« Noch eine Anzahl Galoppsprünge, Blicke durch das Fernrohr und Notizen in der Brieftafel, dann nahmen die Männer ihre Stangen zusammen, Fink ergriff die Brieftasche des Vogts und rechnete eifrig. Endlich gab er die Tasche mit einem Lächeln zurück und sagte: »Komm weiter herauf, Anton, jetzt will ich dir etwas zeigen. Stelle dich mit dem Gesicht gegen Norden auf den Bach und das[639] Schloß zu. Dann bildet der Bach, wenn du ihn als gerade Linie ansiehst, eine Sehne, die von West nach Ost läuft, der Rand des Waldes hinter dir einen Kreisbogen. Wald und Bach begrenzen einen Kreisabschnitt.«

»Das ist deutlich«, sagte Anton.

»In alter Zeit lief der Bach anderswo«, fuhr Fink fort, »hier längs dem Walde in der Bogenrundung, das alte Flußbett ist noch zu erkennen. Wenn man am Waldesrand in der alten Wasserrinne hinaufgeht, kommt man dort oben im Westen zu dem Punkt, wo das alte Bett von dem gegenwärtigen abgeht. Es ist der Punkt, wo eine schlechte Brücke über den Bach führt, und das Wasser in seinem jetzigen Bett einen Fall von mehr als einem Fuß hat, stark genug, die beste Mühle zu treiben. Die verfallenen Gebäude eines Vorwerks stehen daneben.«

»Ich kenne den Punkt gut genug«, sagte Anton.

»Unterhalb des Dorfes krümmt sich das alte Flußbett vom Walde ab, wieder dem Bache zu. Es umschließt eine mächtige Fläche, über fünfhundert Morgen, wenn ich mich auf die Sprünge dieses Gauls verlassen kann. Dieses ganze Terrain hat seinen Abfall von dem alten Flußbett nach dem neuen. Es sind nur einige Morgen Wiesen und wenig erträgliches Ackerland darin, das meiste ist Sand und Weideland, wie ich höre, der schlechteste Teil eurer Gutsfläche.«

»Das alles gebe ich zu«, sagte Anton neugierig.

»Jetzt merke auf. Wenn man den Bach wieder in sein altes Bett zurückführt und ihn zwingt, im Bogen zu laufen, statt in der Sehne, so kann man mit dem Wasser, das jetzt zu eurer Schande unnütz in die Welt fließt, die ganze Fläche von fünfhundert Morgen berieseln und den dürren Sand in grünes Wiesenland verwandeln.« – »Du bist ein Schlaukopf«, rief Anton aufgeregt durch die Entdeckung.

»Was kostet euch der Morgen im Durchschnitt?« frug Fink.

»Dreißig Taler.«

»Und ebensoviel höchstens betragen bei diesem Boden die Kosten der Wiesenanlage. Macht zusammen sechzig Taler, also drei Taler jährliche Zinsen, dazu schlage an Unterhaltungskosten, Abgaben usw. für den Morgen jährlich zwei Taler, so hast du fünf Taler Kosten. Rechnest du dagegen vom Morgen zwanzig Zentner[640] Heu zum halben Taler, so erhältst du vom Morgen fünf Taler Reinertrag, also bei fünfhundert Morgen zweitausendfünfhundert jährlichen Gewinn. Um diesen zu erhalten, ist ein Anlagekapital von höchstens fünfzehntausend Talern nötig. Das war's, Anton, was ich dir erzählen wollte.«

Anton stand überrascht. Es war nicht zu verkennen, daß die Zahlen, welche Fink hingeworfen hatte, nicht ganz aus der Luft gegriffen waren, weder die Kosten, noch die Erträge. Und die Aussicht, welche eine solche Anlage dem Gut eröffnete, beschäftigte ihn so, daß er lange in tiefem Schweigen neben dem Freund vorwärts schritt. »Du zeigst mir in der Wüste Wasser und grüne Wiesen«, rief er endlich bekümmert, »das ist grausam von dir, denn nicht der Freiherr wird imstande sein, diese Verbesserung zu machen, sondern ein Fremder. Fünfzehntausend Taler!«

»Vielleicht werden's auch zehn tun«, sagte Fink spottend. »Ich habe dir dies Luftbild nur vor die Augen geführt, um dich für deinen Trotz von gestern abend zu strafen. Jetzt laß uns von anderem reden.«

Am Abend rief der Freiherr mit wichtiger Miene seine Frau und Lenore: »Kommt nach meiner Schlafstube, ich habe euch etwas mitzuteilen.« Er setzte sich dort in seinem Lehnstuhl zurecht und sagte mit größerem Behagen, als er seit langer Zeit an den Tag gelegt hatte: »Es war leicht zu merken, daß dieser Besuch Finks nicht ganz zufällig war, und nicht durch Freundschaft für Herrn Wohlfart veranlaßt, wie die jungen Männer sich den Schein gaben. Ihr waret beide klüger als ich; ich habe doch recht gehabt, der Besuch hat einen Grund, der uns näher angeht, als unsern Rechnungsführer.« Die Baronin warf einen erschreckten Blick auf ihre Tochter, aber Lenorens Augen waren so groß auf den Vater gerichtet, daß die Mutter sich wieder beruhigte.

»Und was glaubt ihr wohl, hat den Herrn aus der Fremde hierhergeführt?« fuhr der Freiherr fort. Die Frauen schwiegen. Lenore schüttelte den Kopf; endlich sagte sie: »Vater, Herr von Fink ist von alter Zeit mit Wohlfart eng befreundet, sie haben einander seit mehreren Jahren nicht gesehen. Es ist so natürlich, daß Fink eine flüchtige Bekanntschaft mit dir benützt, um einige Wochen bei seinem nächsten Freunde zuzubringen. Wozu wollen wir einen andern Grund für seine Anwesenheit suchen?«[641]

»Du sprichst, wie die Jugend solche Verhältnisse auffaßt. Die Menschen werden weniger durch ideale Empfindungen und mehr durch Eigennutz regiert, als deine junge Weisheit annimmt.«

»Eigennutz?« frug die Baronin.

»Was ist dabei zu verwundern?« fuhr der Freiherr ironisch fort; »beide sind Kaufleute, Fink hat auch so viel von den Reizen des Handels kennengelernt, daß er nicht umhin kann, ein gutes Geschäft zu machen, wo sich eine Gelegenheit dazu findet. Ich will euch sagen, wie er hergekommen ist. Unser vortrefflicher Wohlfart hat ihm geschrieben: Hier ist ein Gut, und dieses Gut hat einen Herrn, der gegenwärtig verhindert ist, die Wirtschaft selbst zu übersehen. Es ist ein Geschäft hier zu machen, du hast Geld, komm her. Ich bin dein Freund, es wird wohl etwas für mich abfallen.«

Die Baronin sah starr auf ihren Gemahl, Lenore aber sprang auf und rief mit der Energie eines tiefgekränkten Herzens: »Vater, ich will nicht hören, daß du so von einem Manne sprichst, der uns nie etwas anderes gezeigt hat, als die größte Uneigennützigkeit. Seine Freundschaft für uns geht so weit, daß er die Entbehrungen dieses einsamen Aufenthaltes und das Peinliche, das seine Stellung vielen andern verleiden würde, mit einer grenzenlosen Langmut erträgt.«

»Seine Freundschaft?« sagte der Freiherr; »auf einen so hohen Vorzug haben wir niemals Anspruch gemacht.«

»Wir haben es getan«, rief Lenore in aufloderndem Eifer. »In einer Zeit, wo die Mutter niemanden fand, der uns beigestanden hätte, da war es Wohlfart, der treu zu uns hielt. Er allein hat von dem Tage an, wo der Bruder ihn bei uns einführte, bis zu dieser Stunde für uns gesorgt und dich vertreten.«

»Nun«, lenkte der Freiherr ein, »ich sage ja nichts gegen seine Tätigkeit, ich gebe gern zu, daß er die Rechnungen in Ordnung hält und für einen geringen Gehalt viel Fleiß beweist. Wenn du das Treiben der Menschen mehr verständest, würdest du meine Worte ruhiger aufnehmen. Zuletzt ist kein Unrecht bei dem, was er getan«, setzte er gedrückt hinzu. »Mir fehlt es gegenwärtig an Kapitalien, und ich bin, wie ihr wißt, auch sonst verhindert. Was ist dagegen zu sagen, wenn andere mir Vorschläge machen, die ihnen Vorteil bringen und mir keinen Schaden?«[642]

»Um Gottes willen, Vater, was für Vorschläge? Es ist unwahr, daß Wohlfart irgendein anderes Interesse dabei hat, als dein eigenes.«

Die Mutter forderte durch eine Handbewegung Lenore auf, zu schweigen. »Will Fink dir das Gut abkaufen«, sagte sie, »so werde ich diesen Entschluß als ein Glück für dich segnen, als das größte Glück, das dir gerade jetzt widerfahren kann, geliebter Oskar.«

»Von Kaufen war vorläufig nicht die Rede«, erwiderte der Freiherr, »ich würde mich auch unter den jetzigen Aussichten bedenken müssen, das Gut so schnell wegzugeben. Fink hat mir einen andern Vorschlag gemacht. Er will mein Pächter werden.«

Lenore sank lautlos in einen Stuhl. »Er will mir fünfhundert Morgen von der Gutsfläche abpachten, um dieselben in Kunstwiesen zu verwandeln. Ich kann nicht leugnen, daß er offenherzig und als Ehrenmann mit mir gesprochen hat. Er hat mir mit Zahlen bewiesen, wie groß sein Vorteil sein würde, er hat sich erboten, den Pachtbetrag für die ersten Jahre auf der Stelle zu zahlen, ja er hat sich erboten, dies Pachtverhältnis nach fünf Jahren aufzulösen und mir die Wiesen zu übergeben, wenn ich ihm die Kosten der Anlage zurückerstatte.«

»Großer Gott!« rief Lenore, »du hast diesen edelmütigen Vorschlag doch zurückgewiesen?«

»Ich habe Bedenkzeit verlangt«, erwiderte der Freiherr behaglich. »Das Anerbieten ist, wie gesagt, auch für mich nicht gerade nachteilig, indes wäre es doch unvorsichtig, einem Fremden durch fünf Jahre so große Vorteile einzuräumen, da Hoffnung ist, daß ich selbst in einem Jahre über Summen verfügen kann, um diese Anlagen für unsere eigene Rechnung zu machen.«

»Du würdest sie niemals selbst machen, mein geliebter, armer Mann«, rief die Baronin unter Tränen, sie umschlang den Hals ihres Gemahls und hielt ihre Hand über seine Augen. Der Freiherr sank vernichtet zusammen und legte wie ein Kind sein Haupt an ihre Brust.

»Ich muß wissen, ob Wohlfart von diesem Plane weiß und was er dazu sagt«, rief Lenore entschlossen, »wenn du erlaubst, Vater, schicke ich sogleich hinüber und lasse ihn holen.« Da der Freiherr keine Antwort gab, klingelte sie dem Bedienten und verließ das Zimmer, diesen vor der Tür zu erwarten.[643]

Fink saß in Antons Stube, eifrig beschäftigt, den Freund auszuschelten. »Seit du nicht mehr Zigarren rauchst, ist dein besserer Genius von dir gewichen, nachdem er sich alle Haare über deine Ungemütlichkeit ausgerauft hat. Jetzt ist er im Himmel unter den psalmierenden Engeln durch eine Tour auffällig, und unser Herrgott muß von Zeit zu Zeit den Hofmarschall fragen: ›Wer ist denn dieser unglückliche Genius mit der Perücke?‹ dann antwortet Raphael: ›Der Kavalier war früher dem Scheusal Anton Wohlfart zugeteilt.‹ Dann fragt der Herr: ›Weshalb hat er ihn verlassen?‹ Und Raphael muß antworten: ›Weil der Unselige die Trabukos abgeschworen hat.‹ Und der Herr wird zornig sprechen: ›Fort mit ihm zur Hölle; seine Seele soll in ein Rübenblatt eingenäht und dort alle Tage von kleinen Speiteufeln verraucht werden.‹«

»Bist du in Amerika Mitglied einer frommen Gemeinde geworden, daß du im Himmel so genau Bescheid weißt?« frug Anton von seiner Rechnung aufsehend.

»Schweig!« sagte Fink, »sonst hattest du doch noch einige Stunden, wo du zu faulenzen verstandest, jetzt verführst du eine ewige Buchrechnung, und beim Tantalus, um nichts und wieder nichts.«

Der Bediente trat ein und rief Anton zum Freiherrn. Als Anton an der Tür war, rief Fink ihm nach. »Apropos, ich habe dem Freiherrn angeboten, die fünfhundert Morgen von ihm zu pachten. Zweieinhalb Taler Pachtgeld für den Morgen; nach fünf Jahren Rückgabe der Wiesen gegen Erstattung der Anlagekosten, Zahlung bar oder in Hypothek. Jetzt geh, mein Junge.«

Als Anton bei dem Freiherrn eintrat, saß die Baronin an der Seite ihres Gemahls und hielt seine Hand in der ihren, Lenore ging unruhig im Zimmer auf und ab. »Haben Sie von dem Vorschlage gehört, den Herr von Fink meinem Vater gemacht hat?« frug sie. »In diesem Augenblick hat er mir davon gesagt«, erwiderte Anton. Der Freiherr verzog den Mund.

»Und was ist Ihre Meinung, darf mein Vater das Anerbieten annehmen?«

Anton schwieg. »Für das Gut ist es vorteilhaft«, sagte er endlich mit innerer Überwindung. »Die Anlage könnte die beste Hilfe für diese Besitzung werden.«[644]

»Nicht das will ich wissen«, entgegnete Lenore ungeduldig, »sondern ob Sie als unser Freund den Rat geben, diesen Vorschlag anzunehmen.«

»Nein«, sagte Anton.

»Ich wußte, daß Sie so sprechen würden«, rief Lenore und trat hinter den Stuhl ihres Vaters.

»Sie sagen nein, und weshalb? wenn's beliebt«, frug der Freiherr. »Die gegenwärtige Zeit, welche alles in Frage stellt, scheint mir wenig geeignet für eine so große Spekulation. Außerdem glaube ich, daß Fink bei seinem Anerbieten durch Rücksichten geleitet wurde, welche vielleicht ihm selbst Ehre machen, die aber Ihnen, Herr Baron, die Annahme seiner Vorschläge erschweren müssen.«

»Sie werden mir erlauben, selbst darüber zu entscheiden, was ich annehmen darf, und was nicht«, erwiderte der Freiherr. »Das Unternehmen wäre als Geschäft für beide Parteien vorteilhaft.«

»Das muß ich einräumen«, sagte Anton.

»Und wie man die gegenwärtige politische Lage ansieht, ist Sache der persönlichen Auffassung. Wer sich dadurch in seinen Unternehmungen nicht stören läßt, verdient doch wohl mehr Lob, als der, welcher in einer unbestimmten Furcht das Nützliche zu tun versäumt.«

»Auch das muß ich zugeben.«

»Würde dies Unternehmen die Folge haben, daß Herr von Fink in unserer Gegend seinen dauernden Aufenthalt nähme?« frug die Baronin.

»Das glaube ich nicht, gnädigste Frau, die Arbeiten selbst wird er jedenfalls einem Techniker übertragen; sein lebhafter Geist wird ihn schnell genug wieder in die Welt treiben. Was ihn bestimmt hat, dem Herrn Baron sein Anerbieten zu machen, das kann ich nur mutmaßen. Ich glaube, daß großen Anteil daran die Verehrung hat, welche er gegen Ihr Haus empfindet, und der Wunsch, Ihnen und vielleicht auch mir in diesen unruhigen Tagen mit einigem Recht nahe zu sein. Gerade das, was andern jetzt diese Gegend verleidet, die Gefahr, das hat für sein kühnes Herz viel Lockendes.«

»Und würde Ihnen nicht lieb sein, den Freund hier zu behalten?« frug die Baronin weiter.[645]

»Ich habe dies bis heut noch nicht gehofft«, erwiderte Anton. »In früherer Zeit war zuweilen meine Aufgabe, ihn von schnellen Entschlüssen zurückzuhalten, bei denen er um einer Laune willen vieles auf das Spiel setzte.«

»Sie halten es also für vorschnell«, sagte der Freiherr, »daß Ihr Freund mir einen solchen Antrag gemacht hat?«

»Sein Antrag ist gewagt für ihn selbst«, antwortete Anton nachdrücklich, »und es ist etwas darin, Herr Freiherr, was mir auch in Ihrem Interesse nicht gefällt, obgleich ich in Verlegenheit käme, wenn ich aussprechen sollte, was es ist.«

»Wir danken Ihnen«, sagte der Freiherr, »und wollen Sie nicht weiter bemühen, die Sache hat ja keine Eile.« Anton verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Lenore stand schweigend am Fenster, ein langer Blick folgte dem Abgehenden. »Ich kann nicht aussprechen, was es ist«, wiederholte sie Antons letzte Worte, und ein Heer von ängstlichen Bildern und Ahnungen flog durch ihre Seele. Sie zürnte der Schwäche ihres Vaters, sie war empört über Fink, der es wagte, ihnen Wohltaten anzubieten. Ob der Vater annahm, ob er ablehnte, ihr aller Verhältnis zu dem Gast war ein anderes geworden. Sie waren ihm verpflichtet, er war ihnen kein Fremder mehr, er selbst hatte sich als Vertrauter in ihre stillen Leiden eingedrängt. Sie dachte an das Zucken seines Mundes, an seine zusammengezogenen Augenbrauen, sie hörte, wie er spottete über den Vater und über sie. Keck war er in ihr Haus getreten und nach wenigen Tagen faßte er gleichgültig wie im Scherz nach den Zügeln, um ihr Schicksal nach seinem Willen zu lenken. Seiner übermütigen Laune sollten ihre Eltern vielleicht die Rettung verdanken. Heut hatte sie noch mit ihm, dem glänzenden Mann aus der großen Welt, scherzen können, er war ein Gast, mit dem man auf gleichem Fuß steht, wie sollte sie ihn ansehn von morgen ab? Von morgen war er ein großer Herr für sie, und ihr Vater in Wahrheit sein Untergebener. Ihr Stolz bäumte hoch auf gegen sein Wesen, dessen Macht sie in dieser Stunde so lebhaft fühlte; sie nahm sich vor, ihn mit Kälte zu behandeln; sie grübelte über die Worte, die er zu ihr sprechen könnte, und über ihre Antworten, und immer flog ihre Seele um das Bild des mächtigen Fremden, wie der aufgescheuchte Vogel um den Feind seines Nestes.[646]

»Und was wirst du tun, Oscar?« frug die Baronin.

»Der Vater darf nicht annehmen«, rief Lenore mit Energie.

»Und was ist deine Meinung?« sprach der Freiherr zu seiner Frau gewandt.

»Wähle, was dich am ersten von diesem Gute befreit, was die Sorge von dir nimmt, den Trübsinn, die Unsicherheit, die dich jede Stunde im stillen quälen. Laß uns in die Ferne ziehn, wo die Leidenschaften weniger häßlich sind, weit weg aus diesem Lande. In den engsten Verhältnissen werden wir ruhiger sein, als hier.«

»Du rätst also, seinen Vorschlag anzunehmen«, sagte der Freiherr. »Wer den Teil gepachtet hat, übernimmt wohl auch das Ganze.«

»Und zahlt uns eine Pension«, rief Lenore.

»Du bist ein törichtes Mädchen«, sagte der Vater, »ihr regt euch beide auf, das ist unnütz. Der Vorschlag ist zu bedeutend, um ihn kurz von der Hand zu weisen, oder im Sprunge anzunehmen. Ich will mir das Nähere überlegen. Dein Wohlfart wird Gelegenheit haben, die Bedingungen zu prüfen«, fügte er in besserer Laune hinzu.

»Höre, mein Vater, auf das, was Wohlfart dir sagt, und ehre auch, was er verschweigt.«

»Ja, er soll gehört werden«, schloß der Freiherr, »und jetzt gute Nacht ihr beiden, ich werde mir's überlegen.« – »Er wird annehmen«, sagte Lenore im Zimmer der Baronin, »er wird annehmen, weil Wohlfart abgeraten hat, und weil der andere ihm Geld gibt. Mutter, warum hast du ihm nicht gesagt, daß wir Frauen diesem Fremden nicht mehr ins Gesicht sehen können, wenn er uns in unserm eignen Hause die Almosen zuteilt?«

»Ich habe keinen Stolz, ich habe keine Hoffnung mehr«, sagte die Mutter leise.

Als Anton langsam in sein Zimmer zurückkehrte, rief Fink ihm lustig entgegen: »Wie steht's, Prokurist, darf ich Pächter werden, oder wird der Baron die Anlage selbst machen? Er hatte große Lust dazu. In diesem Fall erhebe ich Anspruch auf Finderlohn. Freie Station für mich und mein Pferd, solange sie hier Krieg spielen.«

»Er wird deinen Vorschlag annehmen«, erwiderte Anton, »obgleich ich ihm abgeraten habe.«[647]

»Du?« frug Fink; »ja, das sieht dir ähnlich. Wenn eine ertrinkende Maus sich an ein Holzklotz klammert, du hältst ihr eine Rede über das Drückende moralischer Verpflichtungen und schleuderst sie ins Wasser zurück.«

»Du bist nicht so unschuldig, wie ein Holzklotz«, sagte Anton, wider Willen lachend.

»Höre«, fuhr Fink fort, »ich habe keinen Überfluß an Sentimentalität, aber in diesem Fall würde ich es doch nicht für freundschaftlich halten, wenn du mich mit einer Strafrede erbauen wolltest. Ist dir's denn so unangenehm, wenn ich dir helfe, eine verrückte Zeit durchzumachen?«

»Ich kenne dich lange genug, du Schelm«, sagte Anton, »um zu wissen, daß deine Freundschaft für mich an deinem Anerbieten viel Anteil hat.«

»Wirklich?« spottete Fink, »und wie groß war dieser Anteil? Es ist eine nichtsnutzige Zeit, man mag so tugendhaft handeln, als nur irgend möglich, man wird so lange seziert, bis die Tugend sich unter dem Messer der Bosheit in Egoismus verwandelt.«

Anton streichelte ihm die Wangen. »Ich seziere nicht«, sagte er. »Du hast ein großartiges Anerbieten gemacht, und ich bin nicht mit dir unzufrieden, wohl aber mit mir. In der ersten Freude über deine Ankunft habe ich dir über die Verhältnisse des Freiherrn und über den stillen Kummer der Frauen mehr mitgeteilt, als sich mit meiner Pflicht vertrug, ich selbst habe dich in die Geheimnisse dieses Hauses eingeweiht, und du hast dieses Wissen auf deine behende Weise in Anspruch genommen. So habe ich selbst dich mit der Familie verflochten und deine Kapitalien mit diesem unruhigen Lande. Daß dies so plötzlich geschehen, ist gegen mein Gefühl, und daß meine Unvorsichtigkeit die Veranlassung gegeben, das ärgert mich.«

»Natürlich«, lachte Fink; »für dich ist der süßeste Genuß, wenn du dir um deine Umgebung Sorge machen kannst.«

»Zweimal ist mir begegnet«, fuhr Anton fort, »daß ich, dessen Vorsicht du so oft verspottest, über die Lage der Familie ohne Beruf mit Freunden gesprochen habe. Das erste Mal erbat ich Hilfe für die Rothsattel, sie wurde mir verweigert, und dieser Vorgang hat mich mehr als etwas anderes aus dem Comtoir und in dies Haus getrieben; jetzt führt meine zweite Indiskretion die[648] nicht mehr erbetene Hilfe in das Haus, was wird die Folge sein?«

»Daß sie dich wieder aus dem Hause und in das Comtoir wirft«, lachte Fink. »Hat man je einen so spitzfindigen Hamlet in Transtiefeln gesehn? – Wenn ich nur dahinterkommen könnte, ob du einen solchen logischen Ausgang in der Stille ersehnst oder fürchtest?« Er zog ein Geldstück aus der Tasche: »Kopf oder Schrift, Anton? – Blond oder schwarz? – Werfen wir!«

»Du bist nicht mehr in Tennessee, du Seelenverkäufer!« erwiderte Anton wider Willen lachend.

»Es sollte ehrliches Spiel sein«, sagte Fink gleichmütig, das Geldstück wieder einsteckend. »Ich wollte dir die Wahl lassen. – Denke in Zukunft daran.«

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 633-649.
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