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[753] Unterdes stand Antons Hausgeist, die lederfarbene Katze, traurig auf ihrem Postament. Ein Jahr voll Grimm und Getöse war vergangen, die Katze hatte nichts davon gemerkt. Mit gesenktem Haupte sah sie in die leere Stube. Die Rouleaus waren niedergelassen, und kein Sonnenstrahl streifte ihr an die kleinen Ohren. Nichts regte sich in dem Zimmer, als der Staub, welcher zu den Fenstern eindrang, eine Weile um die Katze wirbelte und endlich müde dahinsank auf ihr Gipsfell, auf den Schreibtisch und den Teppich des Fußbodens. Es war ein schlimmes Jahr für den Gips, und er wäre in der Einsamkeit untergegangen, daß man seine schlauen Äuglein und sein glattes Fell unter mißfarbigem Staub nimmermehr erkannt hätte, wenn ihm nicht manchmal ein freundschaftlicher Besuch zu Hilfe gekommen wäre. Denn an stillen Abenden vergoldete der Schein einer wandernden Lampe das Barthaar der Katze. Dann fuhr eine weiche Hand ihr liebkosend über das Fell, die Fenster der Stube wurden auf eine Viertelstunde geöffnet, etwas Mondschein drang in das Zimmer, und einige Schwämme und Bürsten dienstbarer Mädchen fuhren schnell über den Fußboden. Dann schnurrte die Katze ein wenig, aber gleich darauf fiel ihr ihre Verlassenheit schwer aufs Herz, und sie versank wieder in ihren regungslosen Zustand.

Heut ist eine frische Mondnacht, alles im Hause schläft, in allen Stuben und Kammern sind die Menschen zur Ruh' gegangen, alles schläft und niemand denkt daran, daß er sich zur Heimkehr bereitet, der schon ein Kind der Handlung war, als ihn sein alter Vater mit dem Samtkäppchen noch auf dem Knie hielt. Kein Mensch im Hause denkt daran, und wer weiß, ob viele es wünschen. Aber das große Haus weiß es, und in der Nacht rührt sich's in allen Winkeln. Und es knistert im Holz, und es summt in den Galerien, und es arbeitet leise in allen Wandverschlägen, der Mondschein überzieht heut alle Gänge mit mattem Silber, und in den geheimsten Winkeln zittert ein dämmriges Licht.

Wer heut nacht die gelbe Katze sehen könnte, der würde sich wohl wundern. Sie leckt sich und strählt sich, sie streckt die steifen Beinchen und hebt den Schwanz lustig in die Höhe; endlich springt sie vom Schreibtisch herunter und zur Stubentür hinaus[753] in den Hof. Feierlich schreitet sie durch alle Gänge und Löcher des Hauses. Und wo sie hinkommt, da wird es lebendig, und alles kleine Gesindel von Hausgeistern, das in einem solchen Baue unvermeidlich ist, das rührt sich und fährt aufgeregt durcheinander. Graue, schattenhafte Kerlchen kommen aus den Ofenlöchern und unter den Pulten der Schreibstube hervorgeschlüpft, sie fegen die Treppen und die Gänge rein und fahren um den alten Pluto herum, der neben dem schlafenden Hausknecht die Wache hält, so daß der große Hund nicht einschlafen kann und mit Knurren und leisem Gebell auf die Arbeit der Heimlichen hinblickt.

Und die Katze kommt bei der Schlafkammer Sabinens vorbei und miaut leise, für Menschen unhörbar; aber das Wichtelmännchen, das dort in der Höhlung von Sabinens Lampe wohnt, kommt nicht heraus, es schüttelt mit dem Kopf und murmelt: »Wir wollen uns nicht freuen«; und im Zimmer des Kaufmanns ist auch kein guter Wille, die Ankunft des Entfernten zu feiern, ja was von dem stillen Volk dort wohnt, das ist stolz und schimpft durchs Schlüsselloch auf die Katze. Aber der Gips läßt sich nicht stören; und das ganze übrige Haus läßt sich nicht stören. Und auf der großen Waage sitzt eine zahlreiche lustige Gesellschaft. Was von Wichtelmännchen im Hause ist, und es gibt viel solches Zeug in dem fleißigen Hause, das ist heut zu großer Festfeier versammelt, und in der Mitte sitzt die Katze, schnurrend und glänzend, und sie leckt sich vor Freude, und die Lustigkeiten der Sozietät klettern hinauf zu dem Balken der Waage und schneiden von da Gesichter gegen die Stube des Prinzipals, ja auch gegen ihren Liebling Sabine.

Kein Mensch weiß, daß er zurückkommen wird, aber das Haus merkt es, und es schmückt sich und öffnet seine Türen, den heimkehrenden Freund zu empfangen.

Es ist den Tag darauf gegen Abend, Sabine steht in ihrer Schatzkammer vor den geöffneten Schränken, sie ordnet die neue Wäsche und bindet wieder rosafarbene Zettel um die Nummern der Gedecke. Natürlich weiß sie von nichts und sie ahnt nichts. Ihr weißer Damast glänzt heut wie Silber und Atlas; der geschliffene Glasdeckel, den sie von dem alten Familienpokal hebt, gibt einen fröhlichen Klang gleich einer Glocke, und lange noch zittern[754] die Schwingungen in dem Holz des großen Schrankes nach. Alle gemalten Köpfe auf ihren Porzellantassen sahen heut ausnehmend lustig aus, Doktor Martinus Luther und der Schwarzkünstler Faust verziehen die Gesichter und lachen, sogar der Schiller lächelt, und es ist gar nicht zu sagen, wie sehr der alte Fritz lacht. Es blinkt und schimmert in allen Fächern der Schränke, jeder alte Glasnapf verspürt ein heimliches Ziehen und Klingen; nur Sabine merkt nichts, die kluge Herrin des Hauses weiß gar nicht, was alle Kleinen wissen. Oder ahnt sie doch etwas? Horch! sie singt. Lange ist kein fröhliches Lied von ihren Lippen geflogen, heut aber ist ihr leicht ums Herz, und wenn sie auf das glänzende Heer von Glas und Silber sieht, das vor ihr im Schranke aufgestellt ist, fällt etwas von dem bunten Glanz in ihre Seele; ihre Lippen bewegen sich, und leise, wie der Gesang eines Waldvogels, klingt ein Lied aus der Kinderzeit in der kleinen Stube. Und von dem Schrank tritt sie plötzlich ans Fenster, wo das Bild ihrer Mutter über dem Lehnstuhl hängt, und sie sieht das Bild fröhlich an und singt vor dem Angesicht der Mutter dasselbe Kinderlied, das die Mutter vom Lehnstuhl aus einst der kleinen Sabine gesungen.

Da gleitet eine verhüllte Gestalt durch den Hausflur. Im offenen Warengewölbe steht Balbus, der jetzt im Kreis der großen Waage befiehlt, er sieht mit halbem Blick auf die Gestalt und denkt verwundert: »Der sieht ein wenig Anton ähnlich.« Die Hausknechte schlagen eine Kiste zu, und der älteste wendet sich zufällig herum und sieht einen Schatten, der durch die Laterne auf die Wand geworfen wird, und hält einen Augenblick mit Schlagen inne und sagt: »Das war fast, als wenn's Herr Wohlfart wäre.« Und hinten im Hofe hört man ein lautes Bellen und das Springen des Hundes, und Pluto kommt außer sich zu den Hausknechten gelaufen und schlägt mit dem Schwanze, bellt und leckt ihre Hände und erzählt in seiner Art die ganze Geschichte. Aber auch die Hausknechte wissen von nichts, und einer sagt: »Es war ein Geist, man sieht nichts mehr.«

Da öffnete sich die Tür zu Sabinens Kammer. »Sind Sie's, Franz?« fragt Sabine sich unterbrechend. Niemand antwortet. Sie wendet sich um, ihr Auge blickt gespannt und ängstlich auf die Männergestalt, welche an der Tür steht. Da zittert ihre Hand und[755] faßt nach der Lehne des Stuhls, sie hält sich fest und er eilt auf sie zu, und in leidenschaftlicher Bewegung, ohne daß er weiß, was er tut, kniet er neben dem Stuhl nieder, in den sie gesunken ist, und legt sein Haupt auf ihre Hand.

Das war Anton. Keines sprach ein Wort. Wie auf eine holde Erscheinung sah Sabine auf den Knienden nieder, und leise legt sie die andere Hand auf seine Schulter. Und in dem Raume blinkt und klingt es fort; die Lampe wirft ihren hellen Schein auf die beiden Kinder der Handlung, und das Bild der Hausfrau über dem Armstuhl sieht freundlich auf die Gruppe herab.

Sie frug nicht, weshalb er kam, nicht ob er frei war von dem Zauber, der ihn fortgetrieben hatte. Als er vor ihr kniete und sie in sein offenes Auge sah, das ängstlich und voll Zärtlichkeit das ihre suchte, da verstand sie, daß er zurückkehrte zu dem Hause, zum Bruder, zu ihr.

»So lange waren Sie in der Fremde«, sagte sie klagend, aber mit einem seligen Lächeln auf ihrem Antlitz.

»Immer war ich hier«, rief Anton leidenschaftlich. »Schon in der Stunde, wo ich von diesen Mauern schied, wußte ich, daß ich alles aufgab, was für mich Friede und Glück heißt. Jetzt treibt es mich unwiderstehlich in Ihre Nähe, ich muß Ihnen sagen, wie es in mir aussieht. Sie habe ich verehrt wie ein geweihtes Bild, solange ich in Ihrer Nähe lebte. Der Gedanke an Sie war auch in der Fremde mein Schutz. Er behütete mich in der Einsamkeit, in einem ungeordneten Leben, in großer Versuchung. Ihre Gestalt stellte sich rettend zwischen mich und eine andere. Oft sah ich Ihr Auge auf mich gerichtet, wie damals, wo ich bei Ihnen Hilfe suchte vor mir selbst; oft erhob sich Ihre Hand, sie winkte und warnte vor der Gefahr, die mich lockte. Wenn ich mich nicht verloren habe, Ihnen, Sabine, danke ich das.«

Wieder beugte er sich über ihre Hand. Sabine hielt ihn fest und sprach leise über seinem Haupt: »Mein Freund, mein lieber Freund! Beide mußten wir dasselbe erfahren, wir haben geträumt, und mit unserem Gefühl gerungen, und wir haben uns entschlossen, beide haben wir überwunden. Was müssen Sie gelitten haben, mein Freund!«

»Nein«, rief Anton, »es war nicht dasselbe Leid und nicht dieselbe Kraft. Ich habe Sie damals gesehen und angebetet, während[756] Sie in stiller Fassung sich selbst vertrauten. Ich war ein schwacher, begehrlicher Mann, und ich weiß nicht, wohin ich gekommen wäre, wenn nicht die Erinnerung an Sie in meiner Seele gelebt hätte. In der Ferne wurde die Macht, die Ihr Wesen auf mich ausübt, immer größer, und nur weil ich an Sie dachte, wurde ich frei.«

»Und wissen Sie denn, ob es bei mir nicht ebenso war?« frug Sabine und sah ihn zärtlich an.

»Sabine!« rief Anton hingerissen.

»Ja, das ist Ihr ehrliches Angesicht«, rief das Mädchen. »Ach, auch in Ihren Zügen finde ich die Spur der eisernen Zeit.« – Sie erhob sich. »Wir haben von Ihren Heldentaten gehört, obgleich Sie in dem langen Jahr nichts für uns hatten, als einen kurzen Gruß.«

»Durfte ich anders?« unterbrach sie Anton eifrig.

Sabine nickte ihm zu. »Wie habe ich auf jede Nachricht gelauscht, die uns durch Ihre Vertrauten kam. Wenn ich in diesen sicheren Mauern an den Freund dachte, der draußen unter erbitterten Feinden lebte, jedem Angriff der Wütenden ausgesetzt – Wohlfart, Wohlfart, ich freue mich, daß ich Sie wiedersehe!«

»Ein anderer hat jetzt das Gut und die Sorge für die Schutzlosen«, erwiderte Anton.

»Es ist eine Fügung des Schicksals, daß es so gekommen ist«, rief Sabine und sah mit holder Freude auf den Wiedergefundenen.

In dem gleichförmigen Leben des Hauses hat sie jahrelang eine herzliche Neigung zu Anton herumgetragen. Seit er von ihr gezogen, weiß sie, daß sie ihn liebt, mit stiller Fassung hat sie wieder den Schmerz in sich verschlossen. Weder ihre Liebe, noch ihre Entsagung ist in dem regelmäßigen Hause sichtbar geworden. Kaum durch einen Blick, durch keine Miene hat sie verraten, was in ihr vorgeht; wie sich für das Kind einer Handlung schickt, in welcher das Soll und Haben der Menschen pünktlich und ohne alles Gefühl gebucht wird. Jetzt, in der Freude des Wiedersehens bricht aus ihrem gehaltenen Wesen die Blüte der Leidenschaft. Sie steht in strahlender Freude vor dem Mann und denkt an nichts, als das Glück, ihn wiederzuhaben, und sie merkt in ihrer Freude nicht, daß in Antons bleichen Zügen noch eine andere Empfindung[757] zuckt. Er hat sie gefunden, aber nur, um sie für immer zu verlieren.

Noch immer hält ihn Sabine an der Hand und sie zieht ihn fort durch die Glasgalerie über den Flur bis an das Arbeitszimmer des Bruders.

Was tust du, Sabine? Dies Haus ist ein gutes Haus, aber es ist keins, wo man poetisch fühlt und sich leicht rühren läßt, die Arme schnell öffnet und den ans Herz drückt, der grade kommt, um hereinzufallen. Es ist ein nüchternes, prosaisches Haus! Mit kurzen Worten wird hier gefordert und verweigert. Und es ist ein stolzes und strenges Haus! Denke daran! Kein zärtlicher Willkommen wird es sein, zu dem du deinen Freund führst.

Das empfand auch Sabine, und ihr Fuß zögerte einen Augenblick, ehe sie die Tür öffnete, aber sie entschloß sich schnell, und Antons Hand festhaltend, zog sie ihn über die Schwelle, und mit glücklichem Antlitz rief sie dem Bruder zu: »Hier ist er, er kommt zu uns zurück!«

Der Kaufmann erhob sich von seinem Arbeitstisch, aber er blieb am Tisch stehen, und was er zuerst sprach, ruhig, kalt im Ton des Befehls, das waren die Worte: »Lassen Sie die Hand meiner Schwester los, Herr Wohlfart.«

Sabine trat zurück, Anton stand allein in der Mitte des Zimmers und sah erschüttert auf den Kaufmann. Die kräftige Gestalt des Mannes war in dem letzten Jahr gealtert, sein Haar ergraut, die Züge noch tiefer gefurcht. Nicht klein war der Kampf gewesen, der ihn so verändert hatte. »Daß ich auf die Gefahr, Ihnen unwillkommen zu sein, hier eintrete«, sprach Anton, »wird Ihnen zeigen, wie stark meine Sehnsucht war, Sie und die Handlung wiederzusehn. Habe ich einst Ihre Unzufriedenheit erregt, lassen Sie mich das nicht in dieser Stunde fühlen.«

Der Kaufmann wandte sich zu seiner Schwester: »Verlaß uns, Sabine, was ich mit Herrn Wohlfart zu besprechen habe, will ich ohne Zeugen abmachen.« Sabine eilte auf den Bruder zu und stand ihm aufgerichtet gegenüber. Sie sprach kein Wort, aber mit hellem Blick, in dem ein fester Entschluß zu lesen war, sah sie in seine zusammengezogenen Augen, dann verließ sie das Zimmer. Der Kaufmann sah ihr düster nach und wandte sich zu Anton: »Was führt Sie zu uns zurück, Wohlfart?« frug er, »haben Sie auf[758] dem Lande nicht erreicht, was Ihr jugendlicher Eifer träumte, und kommen Sie jetzt her, in dem Bürgerhause das Glück zu suchen, das Ihnen einst für Ihre Ansprüche zu leicht schien? Ich höre, Ihr Freund Fink hat sich auf dem Gut des Freiherrn festgesetzt, hat er sie in unser Haus zurückgeschickt, weil Sie ihm dort im Wege waren?«

Antons Stirn umwölkte sich. »Nicht als Abenteurer, welcher das Glück sucht, trete ich vor Ihre Augen. Sie sind ungerecht, wenn Sie einen solchen Verdacht aussprechen, und mir ziemt nicht, ihn zu ertragen. Es gab eine Zeit, wo Sie freundlicher über mich urteilten, an diese Zeit dachte ich, als ich Sie aufsuchte; ich denke jetzt daran, um Ihre kränkenden Worte zu verzeihn.«

»Sie haben mir einst gesagt«, fuhr der Kaufmann fort, »daß Sie sich in meiner Handlung und in diesem Haus fühlten, wie in Ihrer Heimat. Und Sie hatten hier eine Heimat, Wohlfart, in unseren Herzen und im Geschäft. In einer leichten Wallung haben Sie uns aufgegeben, und wir, trauernd und mit schwerem Herzen, haben mit Ihnen dasselbe getan. Wozu kehren Sie zurück? Sie können uns kein Fremder sein, denn wir haben Sie liebgehabt, und ich persönlich bin Ihnen tief verpflichtet. Sie können uns der alte Freund nicht mehr sein, denn Sie selbst haben gewaltsam das Band gelöst, das Sie an uns fesselte. Sie haben mich gerade, als ich so etwas am allerwenigsten erwartete, daran erinnert, daß nur ein einfaches Kontraktverhältnis Sie in meinem Comtoir festhielt. Was suchen Sie jetzt? Wollen Sie wieder einen Platz in meinem Comtoir, oder wollen Sie, wie es den Anschein hat, noch mehr?«

»Ich will nichts«, rief Anton in überströmendem Gefühl, »nichts, als die Versöhnung mit Ihnen. Ich will keinen Platz im Comtoir und nichts anderes. In der Stunde, wo ich das Gut des Freiherrn verließ, stand in mir fest, daß mein erster Weg in Ihr Haus sein mußte, und mein nächster wieder hinaus, um mir woanders eine Tätigkeit zu suchen. Was ich auch in diesem Jahr verloren habe, meine Selbstachtung habe ich nicht verloren, und wenn Sie mir so freundlich entgegengekommen wären, wie mein Herz mich zu Ihnen zog, ich würde Ihnen in der ersten Stunde dasselbe gesagt haben, was Sie jetzt von mir hören wollen. Ich weiß, daß ich nicht hierbleiben kann. Ich habe es schon in der Fremde gefühlt, sooft ich an dies Haus dachte. Seit ich diese Mauern[759] betreten habe, und seit ich Ihre Schwester wiedergesehn, seitdem weiß ich, daß ich nicht hier bleiben darf, ohne unehrlich zu handeln.«

Der Kaufmann trat an das Fenster und sah schweigend in die Nacht hinaus. Als er sich umwandte, war die Härte von seinem Gesicht verschwunden, er sah mit prüfendem Blick auf Anton. »Das war ehrlich gesprochen, Wohlfart«, sagte er endlich, »und ich will hoffen, auch ehrlich gedacht; und eben so offen will ich Ihnen sagen, es tut mir noch jetzt leid, daß Sie von uns gegangen sind. Ich kannte Sie, wie selten ein älterer Mann den jüngeren kennenlernt; unter meinen Augen waren Sie in der Handlung heraufgekommen, ich konnte auf die Reinheit Ihrer Empfindungen vertrauen, ich wußte, daß kein unehrenhafter Gedanke in Ihrer Seele heimisch war. Jetzt, lieber Wohlfahrt, sind Sie mir ein Fremder geworden. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen das sage. Ein ungeregeltes Begehren hat Sie in Verhältnisse gelockt, welche nach allem, was ich davon weiß, ungesund sein müssen für jeden, der darin lebt. Sie haben in einer Landschaft, wo die Gewissen oft weiter sind, als bei uns, und die menschlichen Verhältnisse weniger fest geordnet, die Verwaltung eines zerrütteten Wohlstandes gehabt, Sie sind der Vertraute eines bankrotten Schuldners gewesen, der manche Eigenschaft eines braven Mannes bewahrt haben mag, der aber in schlechten Geschäften mit verzweifelten Menschen das verloren hat, was in meiner Handlung Ehre heißt. Gern nehme ich an, daß Ihre Redlichkeit sich geweigert hat, dort etwas zu tun, was gegen Ihre Überzeugung war; aber, Wohlfart, ich wiederhole Ihnen jetzt, was ich Ihnen schon früher gesagt habe: jede fortgesetzte Tätigkeit unter Schwachen und Schlechten bringt auch den Ehrenmann in Gefahr. Allmählich und ohne daß er es merkt, erscheint ihm erträglich, was ein anderer in sicherer Lage von sich fernhalten wird, und die gebieterische Notwendigkeit zwingt ihn, in Maßregeln zu willigen, die er anderswo mit kurzem Entschluß abgewiesen hätte. Ich bin überzeugt, daß Sie geblieben sind, was die Welt einen ehrenhaften Geschäftsmann nennt, aber die stolze Reinheit Ihrer kaufmännischen Ehre, die leider bei vielen in unsrer Geschäftswelt für eine Pedanterie gilt, ob Sie die sich bewahrt haben, das weiß ich nicht; und daß ich in der Stunde, wo ich Sie wiedersehe, daran[760] zweifeln muß, und daß ich Ihnen das sagen muß, sehen Sie, das macht mir diese Zusammenkunft schmerzlich.«

Anton wurde bleich wie das Tuch, das er in der Hand hielt, und seine Lippe zitterte, als er antwortete: »Es ist genug, Herr Schröter! Daß Sie mir in der ersten Stunde das Bitterste sagen, was man einem Gegner sagt, ist mir ein Beweis, daß ich unrecht getan habe, dies Haus wieder zu betreten. Ja, Sie haben recht. In dieser ganzen Zeit hat mich das Gefühl nicht verlassen, daß die Gefahr, die Sie erwähnen, um meine Seele schwebte. In dem ganzen Jahr habe ich als das größte Unglück empfunden, daß die Geschäfte, für welche ich mich interessieren mußte, mir nicht erlaubten, den Mann hochzuachten, für den ich arbeitete. Ihnen aber darf ich, nicht weniger stolz als Sie, antworten, daß die Reinheit des Mannes, welche sich ängstlich vor der Versuchung zurückzieht, nichts wert ist, und wenn ich etwas aus einem Jahr voll Kränkungen und bitterer Gefühle mir gerettet habe, so ist es gerade der Stolz, daß ich selbst geprüft worden bin, und daß ich nicht mehr wie ein Knabe aus Instinkt und Gewohnheit handle, sondern als ein Mann, nach Grundsätzen. Ich habe in diesem Jahr zu mir ein Vertrauen gewonnen, das ich früher nicht hatte; und weil ich mich selbst achten gelernt habe, so sage ich Ihnen jetzt, daß ich Ihren Zweifel sehr wohl verstehe, daß ich aber, seit Sie ihn ausgesprochen, das Band für zerrissen halte, welches mich auch in der Fremde an Ihr Haus fesselte. Ich gehe, um diese Stätte nicht wieder zu betreten. Leben Sie wohl, Herr Schröter!«

Anton wandte sich zum Gehn, der Kaufmann eilte ihm nach, und seine Hand legte sich auf Antons Schulter.

»Nicht so schnell, Wohlfart«, sagte der Kaufmann weich; »der Mann, welcher den Streich des polnischen Säbels von mir abgewandt hat, soll nicht gekränkt und im Zorn mein Haus verlassen.«

»Erinnern Sie uns beide nicht an die Vergangenheit«, sagte Anton, »das ist jetzt unnütz. Nicht ich, Sie selbst haben Kränkung und Zorn in unser Wiedersehn gebracht. Und Sie, nicht ich, haben vernichtet, was uns aus alter Zeit aneinanderfesselte.«

»Nein, Wohlfart«, sagte der Kaufmann. »Wenn ich Sie durch meine Worte mehr verletzt habe, als ich wollte, so sehn Sie das meinem grauen Haar nach, und einem Herzen, welches jahrelang[761] voll schwerer Sorgen war, auch voll Sorgen um Sie. Wir sehen uns beide nicht so wieder, wie wir uns getrennt haben, und wenn zwei Männer etwas gegeneinander auf der Seele haben, so sollen sie das in der Stunde des Wiedersehens ehrlich aussprechen, damit ihr Verhältnis klar werde. Wären Sie mir weniger wert, so hätte ich mein Bedenken wohl zurückgehalten, und mein Gruß wäre höflicher gewesen. Jetzt aber biete ich Ihnen den Willkommen. Schlagen Sie ein.«

Anton legte seine Hand in die des Kaufmanns und sprach. »Leben Sie wohl.«

Der Kaufmann aber hielt die Hand Antons fest und sagte lächelnd: »Nicht so schnell; ich lasse Sie noch nicht fort. – Denken Sie, daß es ihr ältester Bekannter ist, der Sie jetzt ersucht, zu bleiben«, fügte er ernst hinzu, als Anton noch immer an der Tür still stand.

»Ich bleibe heut abend, Herr Schröter«, sagte Anton mit Haltung.

Der Kaufmann führte ihn zum Sofa. »Manches habe ich von Ihren Abenteuern gehört, aus Ihrem Munde möchte ich das vollständiger erfahren. Und auch Sie werden Interesse daran nehmen, wie es uns gegangen ist, davon zuerst.« Er begann zu erzählen, was unterdes in der Handlung geschehen war. Es war kein heiteres Bild, das er Anton zeigte, aber sein Bericht bannte aus Antons Herzen einen Teil der Kälte, welche der herbe Empfang des Prinzipals angesammelt hatte, denn Anton verstand, welches Vertrauen der Kaufmann ihm durch seine Worte schenkte. Dieser erwähnte manches, was der Geschäftsmann nur selten seinen Freunden mitteilt, alle wichtigeren Geschäfte, den geringen Gewinn und die großen Verluste des letzten Jahres.

Nach und nach zog wieder Friede und ein Schimmer von Behagen durch das Haus, alle guten Hausgeister, die während der Unterredung zwischen den beiden Männern erschreckt in die Mauselöcher gekrochen waren, steckten jetzt mutig die Köpfe hervor, und die unter dem Geheimbuch fingen an, gegen die andern vertraulich zu werden.

Unvermerkt war Anton in das Geschäft zurückversetzt, schnell machte er alle Stimmungen des Jahres noch einmal durch, wieder rötete sich seine Wange, sein erloschenes Auge erhielt[762] Glanz, und unwillkürlich begann er von den Geschäften der Handlung zu sprechen, als gehörte er noch dazu. Da hielt ihm der Kaufmann wieder mit trübem Lächeln die Hand hin, und jetzt schlug Anton herzhaft ein, die Versöhnung war geschlossen.

»Und jetzt sprechen wir von Ihnen, lieber Wohlfart«, fuhr der Kaufmann fort; »Sie haben mir einst über Ihre Tätigkeit für den Freiherrn Mitteilungen gemacht, die ich damals ungeduldig zurückwies, jetzt bitte ich Sie mir zu erzählen, was Sie dürfen.«

Anton berichtete, was kein Geheimnis war; der Kaufmann hörte gespannt, ja ängstlich auf alles, was Anton von den Geschäften des Freiherrn und seiner eigenen Arbeit erwähnte. Anton sprach mit Zurückhaltung, denn sein Stolz bäumte in der Stille gegen das Ausfragen auf. Aber er gönnte dem Kaufmann doch manches, was dazu half, diesen getrosten Muts zu machen.

»Erlauben Sie mir auch über Ihre Zukunft zu reden«, begann der Kaufmann endlich und erhob sich von seinem Stuhl. »Nach dem, was Sie mir angedeutet haben, fordere ich Sie nicht auf, die nächsten Jahre in meinem Geschäft zuzubringen, so willkommen Ihre Hilfe mir gerade jetzt wäre. Aber ich bitte, daß Sie mir überlassen, eine Stellung zu suchen, die für Sie paßt. Wir wollen gemeinsam prüfen und uns darin nicht übereilen. Unterdes bleiben Sie in den nächsten Wochen bei uns. Ihr Zimmer ist leer, alles darin unverändert. Wie ich höre, haben Sie in den nächsten Monaten ohnedies noch eine Verpflichtung zu erfüllen. Davon werden Sie sich unterdes befreien können. Und wenn Sie Zeit und Lust haben, mir nebenbei im Comtoir zu helfen, so wird mir das sehr willkommen sein. – Was Ihr Verhältnis zu meinem Hause betrifft«, fuhr er ernster fort, »so vertraue ich Ihnen vollständig. Es ist mir Bedürfnis, Ihnen das zu beweisen, auch deshalb mache ich Ihnen diesen Vorschlag.«

Anton sah schweigend vor sich nieder.

»Ich mute Ihnen nichts Peinliches zu«, sagte der Kaufmann; »Sie wissen, wie es in unserm Haushalt zugeht, man muß manchmal die Gelegenheit sehr suchen, miteinander zu sprechen. Für Sabine und für Sie wünsche ich auf einige Wochen das Zusammenleben in der alten Weise, und wenn die Zeit kommt, ein ruhiges Scheiden. Ich wünsche das auch meiner Schwester wegen, Wohlfart«, fügte er mit Offenheit hinzu.[763]

»Dann«, sagte Anton, »bleibe ich.«

Unterdes ging Sabine unruhig in ihrem Zimmer umher und lauschte auf einen Ton aus der Arbeitsstube des Bruders. Aber wie oft ihr traurige Gedanken kamen, heut vermochten sie sich nicht festzusetzen. Wieder knisterte das Feuer, und wieder lauschte sie auf den Schlag der Uhr, aber das Tannenholz knackte und prasselte heut lustig im Ofen und machte einen ungewöhnlichen Lärm. Unaufhörlich fuhren kleine Freudenraketen in der Glut umher, und die Funken flogen durch das Zugloch der Ofentür mitten in die Stube. Sie konnte nicht traurig werden und sie konnte sich nicht ängstigen, denn immer wieder tickte die Uhr in ihre Gedanken: Er ist gekommen, er ist da!

Die Tür öffnete sich, die Tante trat eilig herein. »Was höre ich!« rief die Tante. »Ist es möglich? Franz behauptet, daß Wohlfart bei deinem Bruder ist.«

»Er ist da«, sagte Sabine abgewandt.

»Was ist das wieder für ein geheimnisvolles Benehmen!« fuhr die Tante unzufrieden fort. »Warum bringt Traugott ihn nicht herüber? Und in seiner Stube ist noch nichts zurechtgemacht. Wie kannst du so ruhig hier stehen, Sabine? Ich begreife dich nicht.«

»Ich warte«, sagte Sabine leise, aber sie selbst faßte mit einer Hand nach der andern und hielt sie am Gelenk fest, denn die Hand zitterte.

Da näherten sich Männerschritte dem Zimmer, der Kaufmann trat mit Anton ein und rief schon an der Tür: »Hier ist unser Gast.« Und als Anton und die Tante einander freudig begrüßten, sagte der Kaufmann: »Herr Wohlfart wird einige Wochen bei uns wohnen, bis er eine Stelle gefunden hat, wie ich sie für ihn wünsche.« Höchlich erstaunt hörte die Tante diesen Beschluß, und Sabine rückte stark mit den Tassen, um ihre Unruhe zu verbergen. Aber keine der Frauen machte eine Bemerkung, und die eifrige Unterhaltung an der Abendtafel überdeckte die Bewegung, welche in allen nachzitterte. Jeder hatte viel zu fragen und viel zu erzählen, denn für alle war das letzte Jahr reich an großen Begebenheiten gewesen. Wohl war ein Zwang bemerkbar auch in Antons Haltung, als er von seinem Leben in der Fremde sprach, von Fink und von der deutschen Kolonie, die sich auf dem Gute festgesetzt hatte. Und mit gesenktem Haupt hörte Sabine auf seine[764] Worte. Aber der Kaufmann wurde immer heiterer, und als Anton sich erhob, um nach seinem Zimmer zu gehen, da lag auf dem Angesicht des Kaufmanns fast das gütige Lächeln von ehedem, kräftig schüttelte er Antons Hand und sagte im Scherz: »Schlafen Sie wohl und achten Sie auf Ihren Traum in der ersten Nacht; man sagt, ein solcher Traum geht in Erfüllung.«

Und als Anton sich entfernt hatte, zog der Kaufmann die Schwester in das dunkle Nebenzimmer, dort küßte er sie auf die Stirn und sprach ihr leise ins Ohr: »Er ist brav geblieben, das hoffe ich jetzt mit ganzer Seele!« Und als er mit ihr wieder in das Helle trat, da glänzte es feucht in seinem Auge, und er fing an die Tante mit ihrer stillen Neigung für Wohlfart zu necken, so daß die gute Tante endlich die Hände zusammenschlug und ausrief: »Der Mann ist heut ganz ausgelassen.«

Ermüdet und angegriffen warf sich Anton aufs Lager. Freudenleer erschien ihm seine Zukunft, und der Gedanke an die bittern Empfindungen des Abends und an den stillen Kampf der nächsten Wochen lag schwer auf seinem Herzen. Und doch lag er kurz darauf in ruhigem Schlummer. – Und es wurde wieder still in dem Patrizierhaus. – Es war ein nüchternes altes Haus mit vielen Ecken und mit einigen verborgenen Winkeln. Es war gar kein Ort für glühende Schwärmerei und auflodernde Leidenschaft. Aber es war auch ein gutes Haus und es deckte sicher jeden, der in seinen Mauern schlief. Und wieder waren die kleinen Heimlichen heut nacht geschäftig, sie fuhren durcheinander und schwatzten und lachten, und in alle Winkel summte die Nachricht, daß das Kind der Handlung zurückgekehrt war, und der Gips auf dem Postamente sah stolz auf den schlafenden Anton nieder, hob feierlich seinen hübschen geringelten Schwanz in die Luft und schnurrte die ganze Nacht hindurch.

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 753-765.
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