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[820] Die Herberge des Löbel Pinkus wurde durchsucht, das geheime Magazin im Nebenhause mit Beschlag belegt; und da man die Beute zahlreicher alter und neuer Diebstähle darin angesammelt fand, wurde der Herbergsvater selbst ins Gefängnis gesetzt. Unter den aufgefundenen Gegenständen war auch die leere Kassette[820] des Freiherrn; in einem verschlossenen Schrank der geheimen Höhle lagen im Winkel zusammengepackt die Ehrenscheine des Freiherrn, die beiden Hypothekeninstrumente über die ersten und die letzten zwanzigtausend Taler der Gutsschulden. In der Wohnung des Agenten Itzig fand sich ein Dokument, in welchem Pinkus versicherte, daß Veitel Itzig Eigentümer der ersten Hypothek sei. Der harte Sinn des Pinkus wurde durch die Untersuchungshaft erweicht; er gestand, was zu leugnen er nicht mehr großes Interesse hatte, daß er nur im Auftrag des Ertrunkenen dem Freiherrn das Geld gezahlt, und daß dieser in der Tat nicht mehr als zusammen ungefähr zehntausend Taler von Itzig erhalten habe. So erhielt der Freiherr auch sein Anrecht an die Hälfte der ersten Hypothek zurück.

Pinkus wurde zu langer Gefängnisstrafe verurteilt. Die stille Herberge ging ein, und Tinkeles, der das zweite Hundert gleich nach Itzigs Tod von Anton gefordert hatte, trug fortan sein Bündel und seinen Kaftan in einen andern Schlupfwinkel. Sein Gefühl für die Handlung erhielt durch die letzten Ereignisse eine Wärme, welche die Handlung veranlaßte, ihm gegenüber ungewöhnliche Vorsicht zu beobachten und einige große Geschäfte zurückzuweisen, die er jetzt durchaus mit ihr unternehmen wollte. Die natürliche Folge dieser Kälte war, daß Tinkeles um so höhere Achtung vor der Klugheit des Geschäfts erhielt und fortfuhr, dem Comtoir seine Besuche zu gönnen, ohne daß eine neue kühne Spekulation das gute Verhältnis unterbrach. Das Haus des Pinkus wurde verkauft, ein ehrlicher Färber zog hinein, und von der Galerie, an welcher einst die hagere Gestalt des jungen Veitel gelehnt hatte, hing jetzt blau und schwarz gefärbtes Garn hinunter bis in die trübe Flut.

Nach langen Verhandlungen mit dem Anwalt und der gedrückten Familie Ehrenthals empfing Anton im Wege des Vergleichs die Ehrenscheine und die letzte Hypothek gegen Zahlung der zwanzigtausend Taler zurück.

Unterdes kam der Subhastationstermin des Familiengutes heran. Noch vor dem Termin suchte ein Kauflustiger Anton auf, und Anton traf mit ihm unter Zuziehung seines Rechtsbeistands und mit Einwilligung des Freiherrn das Abkommen, daß der Käufer im Termin wenigstens eine Kaufsumme zu bieten habe,[821] welche dem Freiherrn auch die letzte für Ehrenthal ausgestellte Hypothek rettete. Bei dem noch immer niedrigen Güterpreis war eine höhere Verkaufssumme für das Gut nicht zu hoffen, und im Termin, dessen Ende Anton in großer Spannung abwartete, erstand der neue Käufer in der Tat das Gut zu dem vorher besprochenen Preise.

Am Tage nach dem Termin schrieb Anton der Baronin, er übersandte ihr die Schuldscheine des Freiherrn und seine Vollmacht. Er siegelte den Brief mit dem frohen Gefühl, daß er aus all der Verwirrung für Lenore doch ein Erbteil von ungefähr dreißigtausend Talern gerettet hatte.


Auf dem Dach des Starostenhauses lag wieder der weiße Schnee, und die Krähen drückten die Spur ihrer Füße hinein. Das glänzende Festkleid des Winters war über Flur und Wald ausgebreitet, in tiefem Schlaf lag die Erde, kein Schäferhund bellte auf den Feldern, das Ackergerät stand untätig in einem Schuppen des Hofes. Und doch war auf dem Gut ein heimliches Leben sichtbar, und über den weiten Hofraum eilten geschäftige Arbeiter mit Zollstab und Säge. Der Boden in dem Wirtschaftshof war uneben, denn der Grund für neue Gebäude war ausgegraben, und in den Stuben, und sogar draußen im Sonnenschein arbeitete eine Schar Handwerker aus der Stadt, Zimmerleute, Tischler und Stellmacher. Lustig pfiff der Gesell sein Lied bei der Arbeit, und die gelben Späne flogen weit in den Hof hinein. Es war eine neue Kraft auf dem Gut sichtbar, und ein neues Leben, und wenn das Frühjahr kommt, wird eine Schar Arbeiter sich über den polnischen Grund verbreiten und den ausgeruhten Boden zwingen, emsiger Arbeit Früchte zu tragen.

In seiner warmen Stube saß Vater Sturm auf der Schnitzbank unter Tonnenreifen und Faßdauben, und sein Eisen arbeitete mächtig in das Eichenholz hinein. Und ihm gegenüber auf dem einzigen Polsterstuhl der Stube lehnte der blinde Freiherr, den Krückstock in der Hand, sein Ohr auf den alten Sturm gerichtet.

»Sie müssen müde sein, Sturm«, sagte der Freiherr.

»Ei«, rief der Riese, »mit den Händen geht es noch wie sonst. Das hier wird eine kleine Tonne für das Regenwasser, es ist bloße Kinderarbeit.«[822]

»Auch er hat einmal in einer kleinen Tonne gesteckt«, sagte der Freiherr vor sich hin. »Er war ein schwaches Kind, die Amme hatte ihn zum Baden hineingesetzt, und er hatte seinen Rücken darin gebogen und vorn die Knie angestemmt, so konnte er nicht mehr heraus. Ich mußte die Reifen der Tonne abschlagen lassen, um den Knaben aus seinem Gefängnis zu erlösen.«

Der Riese räusperte sich: »Waren es eiserne Reifen?« fragte er teilnehmend. »Es war mein Sohn«, sagte der Freiherr mit zuckendem Antlitz.

»Ja«, sagte Sturm leise, »er war stattlich, er war ein hübscher Mann, es war eine Freude, zu hören, wenn sein Säbel rasselte, und zu sehen, wie er seinen kleinen Bart drehte.« – Ach, er hatte dasselbe dem blinden Vater schon oft gesagt, alle Tage mußte er es wiederholen, wenn der Freiherr ihm gegenüber saß!

»Es war des Himmels Wille«, sagte der Freiherr und faltete die Hände.

»So war es«, wiederholte der alte Sturm, »unser Herrgott wollte ihn zu sich nehmen, grade als er bei seiner besten Arbeit war. Das war ehrenvoll für ihn, und kein Mensch kann schöner die Erde verlassen. Für sein Vaterland und für seine Eltern zog er in seinem Schnurrock aus, und er war siegreich und jagte die Polacken in die Felder, als der Herr seinen Namen rief und ihn unter seine eigene Garde versetzte.«

»Ich aber mußte zurückbleiben«, sagte der Freiherr.

»Und mich freut's, daß ich unsern jungen Herrn noch gesehn habe«, fuhr Sturm mit großer Beredsamkeit fort, »denn wie Sie wissen, war er damals unser junger Herr. Sie vertrauten meinem Karl die ganze Wirtschaft an, und so war es für mich eine Ehre, auch Ihrem Herrn Sohn ein Vertrauen zu zeigen.«

»Es war unrecht, daß er zu Ihnen kam Geld zu borgen«, sagte der Freiherr kopfschüttelnd. Und er sagte so, weil er die trostvolle Antwort Sturms schon oft gehört hatte und sie wieder hören wollte.

Der Riese legte sein Schnitzeisen weg, fuhr sich in die Haare und bemühte sich, recht unternehmend auszusehn, als er in leichtsinnigem Ton begann: »Wissen Sie was, man muß mit einem jungen Herrn auch Nachsicht haben. Jugend will austoben. Es borgt sich mancher Geld in jungen Jahren, und vollends wenn[823] einer einen so lustigen Rock hat, mit Quasten und Silber. Wir waren auch keine Geizhälse, Herr Baron«, fuhr er bittend fort und klopfte mit seinem Eisen leise an die Knie des Blinden. – »Und der Herr Offizier war sehr artig, und ich glaube, er war etwas verlegen. Und als ich ihm das Geld gab, sah ich ihm an, wie leid es ihm tat, daß er es brauchte. Ich gab's ihm um so lieber. Und als ich ihm in die Droschke half und er sich aus dem Wagen beugte, ich versichere Ihnen, da war er ganz bewegt, er griff mit beiden kleinen Händen heraus und suchte meine Faust, um sie noch einmal zu schütteln. Und wie er so da saß, fiel das Licht der Straßenlaterne in sein Gesicht. Es war in diesem Augenblick ein freundliches liebes Gesicht, etwa wie das Ihrige und noch mehr wie das der Frau Baronin, soweit ich dieses gesehn habe.«

Auch der Blinde streckte die Hände aus und suchte die Faust des Aufladers. Sturm schob die Schnitzbank vor, faßte mit seiner Rechten die Hände des Freiherrn und streichelte sie mit der Linken. So saßen beide stumm nebeneinander.

Endlich begann der Freiherr mit gebrochener Stimme: »Sie sind der letzte Mensch gewesen, der meinem Eugen Freundlichkeit bewiesen hat – ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von Herzen. Es ist ein unglücklicher zerschmetterter Mann, der Ihnen das sagt. Aber solange ich noch auf dieser Erde lebe, werde ich den Segen des Höchsten für Sie erflehn. Es sollte nicht sein, daß mein Sohn mir in meinen alten Tagen den wankenden Schritt stützte, Ihnen aber hat der Himmel einen guten Sohn erhalten. Was ich von Friede und Glück für meinen armen Eugen wünschen würde, das, flehe ich zu Gott, soll Ihrem Sohn werden.«

Sturm fuhr sich über die Augen und umschloß gleich darauf wieder die Hände des Freiherrn. So saßen die beiden Väter wieder stumm nebeneinander, bis der Freiherr sich mit einem Seufzer erhob. Behutsam faßte Sturm den Arm des Blinden und führte ihn über Hof und Anger bis auf die Rampe des Schlosses. Jetzt ist ein Weg zu der Turmtür aufgeschüttet, er hat eine Vormauer von großen Quadersteinen, und man kann zu Fuß und zu Wagen die Turmtür erreichen. Und Sturm zieht den Draht einer Glocke, der Diener des Freiherrn eilt herzu und führt seinen Herrn die Schloßtreppe hinauf, denn das Treppensteigen wird dem Vater Sturm noch sauer. –[824] In den Wirtschaftshof fuhr unterdes ein Wagen, Karl eilte respektvoll aus seiner Stube, der neue Gutsherr sprang herab.

»Guten Tag, Sergeant«, rief Fink, »wie steht's im Schlosse und in der Wirtschaft? Was macht das Fräulein und die Frau Baronin?«

»Alles in Ordnung«, meldete Karl, »nur mit der Frau Baronin geht's schwach. Wir erwarteten Sie schon seit vierzehn Tagen. Die Herrschaften im Schloß haben alle Tage gefragt, ob keine Nachricht von Ihnen gekommen sei.«

»Ich wurde aufgehalten«, sagte Fink, »und ich wäre vielleicht noch nicht zurück, aber seit dem Schneefall ist nicht mehr viel an den Gütern zu sehn. Ich habe Dobrowitz gekauft.«

»Alle Wetter!« rief Karl erfreut.

»Mächtiger Boden«, fuhr Fink fort, »fünfhundert Morgen Laubwald, in dem die Baumasche fast einen Fuß hoch liegt. In dem polnischem Loch daneben, das sie dort Kreisstadt nennen, fuhr das Schachervolk wie Ameisen durcheinander, als es erfuhr, daß von jetzt unser Sporn täglich über ihren Markt klirren soll. Sie aber, Amtmann, werden sich freuen, wenn Sie das neue Gut sehn. Ich habe Lust, Sie im ersten Frühjahr hinzuschicken.

Was halten Sie in der Hand? Ein Schreiben von Anton? Geben Sie her.«

Er brach den Brief hastig auf. »Ist das Fräulein im Schloß?« – »Ja, Herr von Fink.« – »Gut. Heut abend geht ein Bote zum Pastor nach Neudorf.« Mit schnellen Schritten ging er nach dem Schloß.

Lenore saß in ihrem Zimmer, um sie herum lag zerschnittene Leinwand, sie nähte. Emsig stach sie mit der Nadel in den harten Stoff, legte zuweilen die Naht auf das Knie, glättete mit dem Fingerhut und betrachtete dann mißtrauisch die einzelnen Stiche, ob sie auch klein und regelmäßig waren. Da klang auf dem Korridor der schnelle Schritt, sie sprang auf, und krampfhaft preßte ihre Hand die Leinwand zusammen. Aber sie faßte sich mit kräftigem Entschluß und setzte sich wieder zu ihrer Arbeit. Es klopfte an ihre Tür. Ein tiefes Rot stieg ihr langsam über Hals und Wange, und ihr Herein! gelangte kaum bis an das Ohr des Gastes. Der eintretende Fink sah sich neugierig in dem schmucklosen Raume um; an der Wand einige Kreidezeichnungen Lenores, sonst nur[825] der unentbehrlichste Hausrat. Das kleine Sofa aus Pantherfellen stand nicht mehr darin.

Als Fink sich vor Lenore verneigte, frug sie in gleichgültigem Ton: »Hat etwas Unangenehmes Sie aufgehalten, wir alle machten uns Sorge.«

»Ein Gut, das ich gekauft habe, verzögerte die Rückkehr. Jetzt komme ich in Eile, mich bei meiner Herrin zu melden; zugleich bringe ich Ihnen ein Paket, welches Anton für die Frau Baronin gesandt hat. Wenn das Befinden der gnädigen Frau mir erlaubt, sie zu begrüßen, wünsche ich ihr meine Aufwartung zu machen.«

Lenore nahm den Brief: »Ich gehe sogleich zur Mutter, verzeihen Sie!« Mit einer Verbeugung suchte sie bei ihm vorbeizukommen.

Fink hielt sie durch eine Handbewegung zurück und sagte scherzend: »Ich sehe Sie hausmütterlich mit Schere und Nadel beschäftigt. Wer ist der Glückliche, für den Sie diese keilförmigen Stücke zusammennähen?«

Lenore errötete wieder: »Das ist Frauenarbeit, und ein Herr darf danach nicht fragen.«

»Ich weiß doch, der Fingerhut steht sonst nicht in Ihrer Gunst«, sagte Fink gutmütig. »Ist es denn nötig, liebes Fräulein, daß Sie sich die Augen verderben?«

»Ja, Herr von Fink«, erwiderte Lenore in festem Tone, »es ist nötig und es wird nötig sein.«

»Ei, ei«, rief Fink kopfschüttelnd und stützte sich gemächlich auf eine Stuhllehne. »Glauben Sie denn, daß ich Ihre geheimen Feldzüge mit Nadel und Schere nicht schon längst gemerkt habe? Und dazu Ihr ernstes Gesicht und die wahrhaft glorreiche Haltung, mit der Sie mich dreisten Knaben behandeln. Wo ist das Katzensofa? Wo ist die brüderliche Offenheit, die ich nach unserm Vertrag erwarten durfte? Sie haben unser Abkommen schlecht gehalten. Ich sehe deutlich, mein guter Freund ist geneigt, mich aufzugeben, und zieht sich mit bestem Anstande zurück. Aber gestatten Sie auch mir die Bemerkung, daß Ihnen das schwerlich etwas nützen wird. Sie werden mich nicht los.«

»Seien Sie edelmütig, Herr von Fink«, unterbrach ihn Lenore in heftiger Bewegung, »machen Sie mir nicht noch schwerer, was[826] ich tun muß. Ja, ich bereite mich vor, von hier zu scheiden, zu scheiden auch von Ihnen.«

»Sie weigern sich also, hier bei mir auszuhalten?« sagte Fink mit gefurchter Stirn. – »Wohlan, ich werde wiederkommen und so lange bitten, bis Sie mich erhören. Wenn Sie mir entlaufen, reise ich Ihnen nach, und wenn Sie Ihr schönes Haar abschneiden und in ein Kloster fliehen, ich sprenge die Mauern und hole Sie heraus. Habe ich nicht um Sie geworben, wie der Taugenichts im Märchen um die Königstochter? Um Sie zu gewinnen, stolze Lenore, habe ich Sand in Gras verwandelt, und mich selber in einen ehrbaren Hauswirt. Diese Wundertaten haben Sie verschuldet. Darum, geliebte Herrin, seien Sie gescheit und quälen Sie uns nicht durch mädchenhafte Launen.«

»O ehren Sie diese Launen«, rief Lenore in Tränen ausbrechend. »In der Einsamkeit dieser Wochen habe ich jede Stunde mit meinem Schmerz gerungen. Ich bin ein armes Mädchen, das jetzt die Pflicht hat, für ihre leidenden Eltern zu leben. Die Mitgift, welche ich in Ihre Zukunft bringen würde, heißt Krankheit, Trübsinn und Hilflosigkeit.«

»Sie irren«, unterbrach sie Fink ernst. »Unser Freund hat für Sie gesorgt. Er hat zwei Schurken ins Wasser gejagt und die Schulden Ihres Vaters bezahlt; dem Freiherrn bleibt ein hübsches kleines Vermögen, alle Not ist zu Ende, und Sie selbst, Trotzkopf, sind gar keine schlechte Partie, wenn Ihnen daran etwas liegt. Der Brief, den Sie in der Hand halten, ruiniert Ihre Philosophie.«

Lenore starrte auf das Kuvert und warf den Brief von sich weg. »Nein«, rief sie außer sich. »Als ich von Jammer zerrissen an Ihrem Herzen lag, damals riefen Sie mir zu, ich sollte Kraft gewinnen auch Ihnen gegenüber. Und jeden Tag fühle ich, daß ich Ihnen gegenüber keine Kraft habe, keine Überzeugung und keinen Willen. Was Sie sagen, erscheint mir wahr, und ich vergesse, was ich selbst anders gedacht; was Sie von mir fordern, das muß ich tun, widerstandslos, wie eine Sklavin. Die Frau, welche neben Ihnen durch das Leben geht, soll Ihnen ebenbürtig sein an Geist und Kraft, und sicher soll sie sich fühlen in dem eigenen Kreise. Ich bin ein ungebildetes, hilfloses Mädchen. In törichter Leidenschaft habe ich Ihnen verraten, daß ich um Ihretwillen wagen[827] kann, was ein Weib nie wagen sollte. Sie finden in mir nichts, was Sie ehren können. Sie werden mich küssen und – werden mich ertragen.« – Lenores Hand ballte sich und ihre Augen flammten. So stand sie vor ihm und ihre Gestalt erbebte in dem Kampf von Stolz und Liebe.

»Reut Sie so sehr, daß Sie für mich eine Kugel in die Schulter des Mordgesellen sandten?« frug Fink finster. »Was ich sehe, sieht nicht aus wie Liebe, eher wie Haß.«

»Ich Sie hassen!« rief das Mädchen und schlug die Hände vor das Gesicht.

Er nahm ihr die Hände vom Antlitz, zog sie an sich und drückte einen Kuß auf ihre Lippen. »Vertraue mir, Lenore.«

»Laß mich, laß mich«, rief Lenore sich sträubend, aber ihr Mund hing wieder heiß an dem seinen, sie umschlang ihn fest und zu ihm aufsehend mit einem leidenschaftlichen Ausdruck von Liebe und Furcht, glitt sie zu seinen Füßen nieder.

Erschüttert beugte sich Fink herab und hob sie auf: »Mein bist du, und ich halte dich fest«, rief er. »Mit Büchse und Blei habe ich dich erbeutet, du stürmisches Herz! – In einem Atem sagst du mir Liebevolles und Hartes. – Alle Wetter, bin ich denn ein solcher Sklavenvogt, daß ein braves Weib fürchten muß, unter mein Joch zu kommen? So wie du bist, Lenore, entschlossen, kühn, ein kleiner Teufel von Leidenschaft, gerade so will ich dich haben und nicht anders. Wir sind Waffenbrüder gewesen und wir werden es in diesem Lande bleiben. Der Tag kann wiederkommen, wo wir beide in unserm Hause den Kolben an die Wange legen, und das Volk um uns verlangt einen Sinn, der eher einen Schlag gibt, als einen erträgt. Und wärest du niemals die Sehnsucht meines Herzens gewesen, und wärest du ein Mann, ich würde dich für mein Leben zu gewinnen suchen als meinen Genossen. Denn, Lenore, du wirst mir nicht nur ein geliebtes Weib sein, auch ein mutiger Freund, der Vertraute meiner Taten, mein treuester Kamerad.«

Lenore schüttelte den Kopf, aber sie hielt ihn fest umklammert: »Ich soll deine Hausfrau werden«, klagte sie. Fink strich ihr liebkosend über das Haar und küßte die glühende Stirn. »Gib dich zufrieden, mein Herz«, sagte er zärtlich, »und finde dich drein. Wir haben miteinander in einem Feuer gesessen, das stark[828] genug war, um ein großes Gefühl zur Reife zu bringen. Und wir kennen eines das andere. Unter uns gesagt, wir werden manchmal einen Wirbelwind in unserm Hause haben. Ich bin kein bequemer Gesell, am wenigsten für ein Weib, und du wirst deinen eigenen Willen, dessen Verlust du jetzt beklagst, recht gemütlich wiederfinden. Sei ruhig, Liebchen, du wirst wieder ein Trotzkopf werden, wie du gewesen bist, du brauchst dich deshalb gar nicht zu grämen. Also auf einige Stürme mache dich gefaßt, aber auch auf herzliche Liebe und auf ein fröhliches Leben. Du sollst mir wieder lachen, Lenore. Meine Hemden brauchst du nicht zu nähen, wenn du das Wirtschaftsbuch nicht führen willst, so läßt du es bleiben. Und wenn du deinen Söhnen zuweilen im Eifer einen Backenstreich gibst, er wird unserer Brut nicht schaden. Also ich denke, du gibst dich.«

Lenore schwieg, aber sie drückte sich fest an seine Brust.

Fink zog sie fort. – »Komm zur Mutter«, rief er.

Über das Bett der Kranken beugten sich Fink und Lenore. Um das bleiche Gesicht der Mutter flog ein heller Schein, als sie die Hände auf das Haupt des Mannes legte und ihm ihren Segen gab.

»Sie ist weich und noch immer ein Kind«, sagte sie zu dem Manne. »In Ihren Händen, mein Sohn, liegt es, eine gute Frau aus ihr zu machen.«

Sie trieb die Kinder aus dem Zimmer. »Geht zum Vater«, bat sie, »führt ihn dann zu mir und laßt uns allein.«

Als der Freiherr neben seiner Gemahlin saß, zog die Baronin seine Hand an ihre Lippen und sprach leise: »Heut will ich dir danken, Oscar, für viele Jahre des Glücks, für all deine Liebe.«

»Armes Weib!« murmelte der Blinde.

»Was du erfahren und gelitten hast«, fuhr die Baronin fort, »das hast du erfahren und gelitten für mich und meinen Sohn, und beide lassen wir dich allein zurück in einer freudelosen Welt. – Dir sollte das Glück nicht werden, deinen Namen in der Familie zu vererben. In deinem Haus bist du der letzte, welcher den Namen Rothsattel trägt.«

Der Freiherr stöhnte.

»Aber der Ruf, den wir hinterlassen, soll ohne Flecken sein, wie dein ganzes Leben war, – bis auf zwei Stunden der Verzweiflung.« Sie hielt die Hand des Blinden an das Bündel Schuldscheine[829] und riß jeden einzelnen durch, sie klingelte dem Diener und ließ die Papiere Stück für Stück in den Ofen werfen. Die Flamme flackerte hellauf und warf ein rotes Licht über das Zimmer, es rauschte und knisterte, bis der Brand verglommen. Die Dämmerung des Abends füllte die Stube, und an dem Bett der kranken Frau lag der Freiherr und drückte das Haupt in die Decken, und sie hielt ihre Hände über ihm gefaltet, und ihre Lippen bewegten sich im leisen Gebet.

Im Morgengrau flatterten die Krähen und Dohlen über dem Schnee des Schloßdaches. Die schwarzen Vögel schweben um die Zinne des Turms, und sie brechen mit lautem Geschrei nach dem Walde auf und erzählen ihrem Volk, daß im Hause eine Braut sei und eine Tote. Die bleiche Frau aus der Fremde ist in der Nacht gestorben, und der Blinde, welcher jetzt zusammengesunken in den Armen seiner Tochter liegt, hat in seinem Schmerz nur ein tröstendes Gefühl, daß er ihr, die endlich Ruhe gefunden, in kurzem nachfolgen wird. Und die Unglücksvögel rufen in alle Lüfte, daß auch die fremden Einwanderer dem alten Slawenfluch verfallen sind, der auf dem Schlosse und auf dem Grunde liegt.

Aber den Mann, welcher jetzt im Schloß gebietet, kümmert es wenig, ob eine Dohle schreit, oder die Lerche; und wenn ein Fluch auf seinem Boden liegt, er bläst lachend in die Luft und bläst ihn hinweg. Sein Leben wird ein unaufhörlicher siegreicher Kampf sein gegen die finstern Geister der Landschaft; und aus dem Slawenschloß wird eine Schar kraftvoller Knaben herausspringen, und ein neues deutsches Geschlecht, dauerhaft an Leib und Seele, wird sich über das Land verbreiten, ein Geschlecht von Kolonisten und Eroberern.

Mit wenigen herzlichen Worten zeigte Fink dem Freund seine Verlobung und den Tod der Baronin an. Ein versiegelter Brief an Sabine lag dem Schreiben bei.

Es war Abend, als der Postbote den Brief in Antons Zimmer brachte. Lange saß Anton den Kopf auf die Hand gestützt vor der Botschaft, endlich ergriff er den Brief an Sabine und eilte nach dem Vorderhaus.

Er traf den Kaufmann im Arbeitszimmer und übergab diesem den Brief. Der Kaufmann rief sogleich Sabine herein. »Fink ist verlobt, hier die Anzeige an dich.«[830]

Sabine schlug erfreut die Hände zusammen und eilte auf Anton zu, aber sie hielt errötend auf dem Wege an, trug den Brief zur Lampe und öffnete. Es mußte nicht vieles darin stehen, denn sie war im Augenblick zu Ende; sie mühte sich ernsthaft auszusehen, aber der Mund gehorchte ihr nicht, sie vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken, Anton hätte zu anderer Zeit diese Stimmung mit leidenschaftlichem Interesse beobachtet, heut achtete er kaum darauf.

»Sie bleiben doch heut abend bei uns, lieber Wohlfart?« frug der Kaufmann.

Anton erwiderte: »Ich selbst wollte Sie bitten, mir einige Minuten zu schenken. Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.« Er sah unruhig auf Sabine.

»Lassen Sie hören! – Bleib, Sabine«, rief der Kaufmann der Schwester zu, welche nach Antons Worten entschlüpfen wollte. »Ihr seid gute Freunde, Herr Wohlfart wird an deiner Gegenwart keinen Anstoß nehmen. Sprechen Sie, Freund, womit kann ich Ihnen dienen?«

Anton preßte die Lippen zusammen und blickte wieder auf die Geliebte, welche an den Türpfosten gelehnt vor sich niedersah. »Darf ich fragen, Herr Schröter«, begann er endlich mit Überwindung, »ob Sie die Stelle gefunden haben, welche Ihre Güte mir vermitteln wollte?«

Sabine bewegte sich unruhig, auch der Kaufmann sah verwundert auf. »Ich glaube, Ihnen etwas anbieten zu können, aber eilt das so sehr, lieber Wohlfart?«

»Ja«, erwiderte Anton feierlich. »Ich habe keinen Tag zu verlieren. Meine Beziehungen zu der Familie Rothsattel sind jetzt völlig gelöst, die furchtbaren Ereignisse, welche noch in den letzten Wochen durch meine Tätigkeit herbeigeführt wurden, haben auch meinen Körper angegriffen. Ich sehne mich nach Ruhe. Regelmäßige Arbeit in einer fremden Stadt, wo mich nichts mehr an die Vergangenheit erinnert, ist mir jetzt Bedürfnis.«

Wieder bewegte sich Sabine, ein ernster Blick des Bruders hielt sie zurück.

»Und diese Ruhe, die auch ich für Sie wünsche, können Sie bei uns nicht finden?« frug der Kaufmann.

»Nein«, erwiderte Anton mit klangloser Stimme, »ich bitte Sie[831] mir nicht zu zürnen, wenn ich heut von Ihnen Abschied nehme.«

»Abschied!« rief der Hausherr verwundert. »Ich verstehe nicht, weshalb das so eilig ist. In unserm Hause sollen Sie sich erholen, die Frauen sollen besser für Sie sorgen, als sie bisher getan. Wohlfart beklagt sich über dich, Sabine. Er sieht blaß und angegriffen aus. Du und die Tante, ihr dürft so etwas nicht leiden.«

Sabine antwortete nichts.

»Ich muß fort, Herr Schröter«, sprach Anton fest, »morgen reise ich ab.«

»Und wollen Sie Ihren Freunden nicht sagen, weshalb dies so plötzlich sein muß?« frug der Kaufmann ernsthaft.

»Sie wissen weshalb. – Ich habe mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Ich habe bis jetzt schlecht für meine Zukunft gesorgt, denn ich bin in der Lage, mir in der Fremde als Dienender erst Zutrauen und gute Gesinnung erwerben zu müssen. – Ich bin auch an Freunden sehr arm geworden. Von allen Menschen, welche mir lieb sind, muß ich mich entfernt halten auf Jahre, auf lange Zeit. Ich habe einige Ursache, mich allein zu fühlen, und da ich mein Leben von neuem gestalten muß, so soll das so bald als möglich geschehen, denn jeder Tag, den ich hier verlebe, ist fruchtlos, er macht meine Kraft geringer und die notwendige Trennung schwerer.« So sprach er mit tiefer Bewegung; die Stimme bebte ihm, aber er verlor nicht seine ruhige Haltung. Er trat auf Sabine zu und faßte ihre Hand. »In dieser letzten Stunde sage ich Ihnen, in Gegenwart Ihres Bruders, was zu hören Sie nicht beleidigen kann, weil Sie auch das schon längst wissen. – Die Trennung von Ihnen schmerzt mich mehr, als ich sagen kann. Leben Sie wohl.« Jetzt übermannte ihn die Rührung, er wandte sich schnell ab und trat an das Fenster.

Der Kaufmann begann nach einer Pause. »Daß Sie so eilig von uns gehen, lieber Wohlfart, kommt auch meiner Schwester ungelegen. Sabine hatte gerade jetzt den Wunsch, Sie um einen Ritterdienst zu ersuchen, wie ihn die Schwester eines Kaufmanns verlangen kann. Auch ich wünsche sehr, daß Sie diese Bitte nicht abschlagen. Sabine bittet, daß Sie ihr einige Blätter durchsehen und dabei ihr Interesse mir gegenüber wahrnehmen. Es ist keine große Arbeit.«[832]

Anton wandte sich mit Überwindung um und machte ein Zeichen der Einwilligung.

»Zuvor aber erfahren Sie einen Umstand, der Ihnen vielleicht noch nicht bekannt ist«, fuhr der Kaufmann fort. »Sabine ist seit dem Tode meines Vaters mein stiller Associé; ihr Rat und ihre Willensmeinung hat in unserm Comtoir öfter den Ausschlag gegeben, als Sie wohl meinen. Sie ist auch Ihr Chef gewesen, lieber Wohlfart.« Er winkte der Schwester und verließ das Zimmer.

Erstaunt sah Anton auf den Chef im hellen Frauengewande mit schwarzen Haarflechten. Manches Jahr hatte er, ohne es zu wissen, auch ihr gehorcht und ihr zu Diensten gehandelt. Und wie in alter Zeit sich der reisige Vasall seiner jungen Lehnsherrin neigte, so verneigte auch er sich unwillkürlich vor der jungfräulichen Gestalt, welche jetzt mit geröteten Wangen auf ihn zutrat.

»Ja, Wohlfart«, sprach Sabine schüchtern. »Auch ich habe ein kleines Anrecht an ihr Leben gehabt. Und wie stolz war ich darauf! – Schon um die Weihnachtskiste, welche in Ihr Haus kam, wußte ich, und mein war der Zucker und Kaffee, den der kleine Anton trank. Als Ihr guter Vater zu uns kam und eine Stelle für Sie suchte, da war ich's, die den Bruder bestimmte, Sie zu uns zu nehmen. Denn Traugott frug mich Ihretwegen, und er selbst hatte Bedenken, er meinte, Sie wären zu alt, um noch bei uns zu lernen. Ich aber erbat Sie für uns. Seit der Stunde nannte Sie der Bruder im Scherz meinen Lehrling. – Ich war's, die Ihrem Vater versprach, hier im Hause für Sie zu sorgen. Ich war selbst noch ein unerfahrenes Kind, und das Vertrauen des fremden Herrn machte mich glücklich. Ihr Vater, der würdige alte Herr, wollte bei uns sein Samtkäppchen nicht aufsetzen, das ihm aus der Tasche guckte, bis ich es ihm herauszog und auf die weißen Locken drückte; damals dachte ich, wird mein Lehrling auch so hübsche Locken haben? – Und als Sie zu uns kamen und allen gefielen, und der Bruder Sie den besten unter den jüngeren Herren nannte, da war ich so stolz auf Sie, wie nur Ihr guter Vater hätte sein können.«

Anton stützte sich auf das Pult und verbarg seine Augen mit der Hand.

»Und an jenem Tage, wo Fink Sie beleidigt hatte, und damals nach der Wasserfahrt, da verletzte mich nicht nur, daß er sich so[833] gewalttätig benommen hatte, sondern mein Herzenskummer war auch, daß er gerade Sie, meinen getreuen Lehrling, in solche Gefahr brachte. – Und weil ich immer empfand, daß Sie ein wenig mir gehörten, bat ich den Bruder, Sie auf der gefährlichen Reise mitzunehmen; ich wußte Sie bei ihm und fühlte mich nicht ganz von ihm getrennt. Auch für mich haben Sie in der Fremde gearbeitet, Wohlfart, und als Sie in der Schreckensnacht unter Feuer und Waffenlärm auf den Frachtwagen standen, da waren mein die Waren, die Sie retteten. Und deshalb, mein Freund, komme ich auch jetzt als Kaufmann zu Ihnen und noch einmal bitte ich Sie, eine Arbeit für mich abzumachen. Sie sollen mir ein Konto durchsehen.«

»Ich will, Fräulein«, erwiderte Anton abgewandt, »aber nicht in dieser Stunde.«

Sabine griff in den Schrank, sie legte zwei Bücher mit goldenem Schnitt, in grünes Leder gebunden, auf das Pult. Und Anton bei der Hand fassend bat sie mit zitternder Stimme: »Kommen Sie doch, sehn Sie mein Soll und Haben an.« Sie öffnete das erste Buch. Unter kunstvollen Schnörkeln standen die Worte: »Mit Gott.« »Geheimbuch von T.O. Schröter.«

Anton trat erschrocken zurück: »Es ist das Geheimbuch der Handlung«, rief er, »das ist ein Irrtum.«

»Es ist kein Irrtum«, sagte Sabine, »ich wünsche, daß Sie es durchsehn.«

»Das ist unmöglich, Fräulein«, rief Anton. »Nicht Ihr Herr Bruder und nicht Sie können das im Ernst wollen. Verhüte Gott, daß sich ein anderer an dieses Buch wage als die Herren des Geschäfts. Solange eine Handlung steht, sind diese Blätter für keines Menschen Auge, als für die Augen der Herren, und nach ihrem Tode für die nächsten Erben. Wer in dies Buch gesehn hat, der weiß, was nie ein Fremder erfahren darf. Und diesem Buch gegenüber ist auch der treuste Freund ein Fremder. Als Kaufmann und redlicher Mensch darf ich Ihren Wunsch nicht erfüllen.«

Sabine hielt seine Hand fest. »Sehen Sie doch hinein, Wohlfart«, bat sie, »sehen Sie wenigstens die Aufschrift an.« Sie schlug den Deckel zurück. »In diesem Buche steht: T.O. Schröter«, sie fuhr mit der Hand über die Blätter. »Es sind nur noch wenige leere Seiten darin, dies Buch geht mit dem letzten Jahr zu Ende.«[834]

Sie schlug den Deckel des zweiten Bandes auf und sprach: »Dies Buch ist leer, hier aber steht eine andere Firma. Was steht hier?«

Anton las: »Mit Gott.« »Geheimbuch von T.O. Schröter und Kompagnie.«

Sabine drückte seine Hand und sprach leise und bittend: »Und der neue Kompagnon sollen Sie sein, mein Freund.«

Anton stand regungslos, aber sein Herz pochte laut, und hell stieg die Röte auf seine Wangen. Noch immer hielt Sabine ihn an der Hand, er sah ihr Antlitz nahe an dem seinen, und wie einen Hauch fühlte er ihren leisen Kuß auf seinen Lippen. Da schlang er den Arm um die Geliebte und lautlos hielten die Glücklichen einander umfaßt.

Die Tür öffnete sich, der Kaufmann stand auf der Schwelle. »Halte ihn fest, den Flüchtling!« rief er. »Ja, Anton, seit Jahren habe ich diese Stunde ersehnt. Seit du in der Fremde an meinem Lager knietest und meine Wunde verbandest, trug ich im Herzen den Wunsch, dich für immer mit unserm Leben zu vereinigen. Als du von uns gingst, sah ich mit Zorn meine liebste Hoffnung zerstört. Jetzt halten wir dich, du Schwärmender, in den Blättern des Geheimbuchs und in unsern Armen.« Er zog die Liebenden an sich.

»Du hast dir einen armen Kompagnon gewählt«, rief Anton am Herzen des neuen Bruders.

»Nein, mein Bruder, Sabine hat als kluger Kaufmann gehandelt. Besitz und Wohlstand haben keinen Wert, nicht für den einzelnen und nicht für den Staat, ohne die gesunde Kraft, welche das tote Metall in Leben schaffender Bewegung erhält. Du bringst in das Haus die rüstige Jugendkraft und einen geprüften Sinn. Sei willkommen in diesem Hause und in unsern Herzen.«

Und strahlend vor Freude hielt Sabine beide Hände des Verlobten fest. »Kaum konnte ich länger ertragen, dich so still und traurig zu sehen. Jeden Mittag, wenn du den Stuhl rücktest, war mir, als müßte ich dir nachfliegen und dir sagen, daß du zu uns gehörst für immer. – Du hast nicht gesehen, du Blinder, was in mir vorging, und Lenorens Bräutigam hat doch alles gewußt.«

»Er?« frug Anton. »Ich habe zu ihm niemals von dir gesprochen.«

»Sieh her«, rief Sabine und zog den Zettel Finks aus der Tasche.[835]

Es stand nichts darin als die Worte: »Gute Freundschaft, Frau Schwägerin.«

Und wieder schloß der glückliche Anton die Geliebte in seine Arme.

Schmücke dich, du altes Patrizierhaus, freue dich, du sorgliche Tante, tanzet, ihr fleißigen Hausgeister im dämmerigen Flur, schlage Purzelbäume auf deinem Schreibtisch, du lustiger Gips! Die poetischen Träume, welche der Knabe Anton in seinem Vaterhause unter den Segenswünschen guter Eltern gehegt hat, sind ehrliche Träume gewesen. Ihnen wurde Erfüllung, und ihr Zauber wird fortan sein Leben weihen. Was ihn verlockte und störte und im Leben umherwarf, das hat er mit männlichem Gemüt überwunden. Das alte Buch seines Lebens ist zu Ende, und in eurem Geheimbuch, ihr guten Geister des Hauses, wird von jetzt ab »mit Gott« verzeichnet: sein neues Soll und Haben.

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 820-836.
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