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[493] An einem kalten Oktobertage fuhren zwei Männer bei dem Torgitter der Stadt Rosmin vorüber in die Ebene, welche sich einförmig und endlos vor ihnen ausbreitete. Anton saß in seinen Pelz gehüllt, den Hut tief auf der Stirn, neben ihm der junge Sturm im alten Reitermantel, die Soldatenmütze lustig auf einem Ohr. Vorn hockte auf einem Strohbund der Knecht eines Ackerbürgers und peitschte die kleinen Pferde. Der Wind fegte mit seinem riesigen Besen Sand und Strohhalme über die Stoppelfelder, die Straße war ein breiter Feldweg, ohne Gräben und Baumreihen, die Pferde wateten bald durch ausgefahrene Wasserpfützen, bald durch tiefen Sand. Gelber Sand glänzte zwischen dem dürftigen Grün der Äcker überall, wo eine Feldmaus den Eingang zu ihrer Grube angelegt, oder wo der emsige Maulwurf nach Kräften gearbeitet hatte, die Ebene durch kleine Hügelketten zu unterbrechen. In den Senkungen des Bodens stand schlammiges Wasser; an solchen Stellen streckten die ausgehöhlten Stämme alter Weiden ihre verkrüppelten Arme in die Luft, ihre Ruten peitschten einander im Wind, und die welken Blätter flatterten herunter in das trübe Wasser. Hier und da stand ein kleiner Busch zwerghafter Kiefern, ein Ruheplatz für Krähen, die, durch den Wagen aufgescheucht, mit lautem Schrei über die Häupter der Reisenden flogen. Kein Haus war zu sehen an der Straße, kein Wanderer und kein Fuhrwerk.

Karl blickte zuweilen auf seinen schweigsamen Gefährten und sagte endlich auf die Pferde zeigend: »Wie struppig ihr Haar ist und wie schön ihr graues Mäusefell! Ich möchte wissen, wieviel Stück von diesen Tieren auf das Pferd meines Wachtmeisters gehn? – Als ich von meinem Vater Abschied nahm, sprach der Alte: ›Vielleicht besuche ich dich, Kleiner, zu Weihnachten, wenn sie die Christbäume anzünden.‹ ›Du wirst's nicht im Stande sein‹, sagte ich. ›Warum nicht?‹ frug er. ›Du traust dich in keinen Postwagen‹, sagte ich. Da rief der Alte: ›Oho! die Postwagen haben[493] eine gute Bauart, ich traue mich schon.‹ – Jetzt, Herr Anton, weiß ich, daß mein Vater uns niemals besucht.«

»Warum nicht?« frug Anton.

»Es ist möglich, daß er bis Rosmin kommt. Zwar nicht im Wagen, aber daneben. Denn solange er weiß, daß er einen oder zwei Plätze belegt hat, wird er allenfalls neben der Post herlaufen. Sobald er aber diese Pferde und diesen Weg sieht, kehrt er auf der Stelle um. ›Soll ich in eine Gegend, wo der Sand unter den Beinen wegläuft wie Wasser und wo die Mäuse im Geschirr gehen?‹ wird er sagen, ›dieses Land ist mir nicht fest genug.‹«

»Die Pferde sind nicht das Schlechteste in dieser Gegend«, erwiderte Anton zerstreut, »sieh zu, auch diese laufen schnell genug.«

»Ja«, erwiderte Karl, »aber nicht als ordentliche Pferde, sie werfen ihre Beine durcheinander, wie zwei Kater, die sich in der Petersilie balgen. Und was sie für Schuhe haben, deutliche Gänsefüße, für diese Hufe ist noch kein Eisen erfunden.«

»Wenn wir nur vorwärts kommen«, entgegnete Anton, »der Wind weht kalt, und mich fröstelt durch den Pelz.«

»Der Herr Bevollmächtigte haben die letzten Nächte wenig geschlafen«, sagte Karl salutierend; »die Luft bläst hier wie über eine Tenne. Die Erde ist in dieser Gegend nicht rund, wie anderswo, sondern platt, wie ein Kuchen. Gerade hier haben sich die Leute eine Wüstenei angelegt, wir fahren schon über eine Stunde, und noch ist kein Dorf zu sehen.«

»Jawohl, eine Wüste«, seufzte Anton; »hoffen wir, daß es besser wird.«

So ging es in tiefem Schweigen weiter. Endlich hielt der Kutscher neben einer Wasserlache, spannte die Pferde los, ohne sich um die Reisenden zu bekümmern, und führte sie an das Wasser.

»Was Teufel, soll das heißen?« rief Karl vom Wagen springend.

»Ich füttere«, antwortete der Knecht mürrisch mit fremdem Akzent.

»Ich bin neugierig, wie er das anfangen wird«, sprach Karl in den Wagen. »Es ist auch nicht der Schatten eines Futtersackes zu sehn.«

Die Pferde aber bewiesen, daß sie auch ohne Hafer zu leben[494] wußten, sie streckten die zottigen Hälse zum Boden und fraßen das Gras und die Blätter des Strauchwerks am Wasserrand ab, zuweilen senkten sie den Kopf bis auf die Wasserfläche und prüften den trüben Trank. Der Knecht aber holte einen Beutel unter seinem Sitz hervor, setzte sich in den Schutz eines Erlenstrauchs und schnitt mit seinem Messer Brot und Käse zurecht, ohne einen Blick auf seine Passagiere zu werfen.

»Höre, Ignaz oder Jakob«, rief Karl, ihn unsanft anstoßend, »wie lange soll das Frühstück dauern?«

»Eine Stunde«, erwiderte der Knecht kauend.

»Und wie weit ist noch von hier nach dem Gut?«

»Zwei Stunden, vielleicht auch mehr. «

»Du wirst nichts mit ihm ausrichten«, sagte Anton, »wir müssen uns den Brauch der Landstraße gefallen lassen.« Er stieg vom Wagen und trat zu den Pferden.

Anton ist auf dem Wege der polnischen Herrschaft. Er ist jetzt Geschäftsführer des Freiherrn. Sorgenvolle Monate hat er verlebt. – Die Trennung von seinem Prinzipal und dem Hause war reich an bittern Empfindungen. Anton stand die letzte Zeit allein, auch unter seinen Kollegen; nur der stille Baumann war auf seiner Seite, das übrige Comtoir betrachtete ihn als einen Verlorenen. Mit eiserner Kälte hörte der Kaufmann seine Kündigung an, noch in der Stunde des Abschieds lag die Hand des Chefs wie hartes Metall in der seinen. – Seitdem hat Anton im Auftrag der Familie einige Reisen gemacht, nach der Residenz, zu Gläubigern. Jetzt soll er mit Karl, den er für die Wirtschaft des Freiherrn geworben, auf dem neuen Gut eine bessere Ordnung einrichten. Ehrenthal hatte nach dem Termin der Versteigerung aufgrund seiner Vollmacht die Herrschaft übernommen, er hatte den polnischen Verwalter auch für den Freiherrn verpflichtet. Es war unordentlich zugegangen bei der Übernahme, und in Rosmin wußte man, daß der Verwalter des Gutes seitdem zahlreiche Verkäufe und Betrügereien vorgenommen hatte. So hat Anton auch jetzt keine Aussicht auf friedliche Tage.

»Jetzt ist die Stunde gekommen, wo ich meinen Auftrag ausrichten soll«, rief Karl und fuhr mit den Händen in das Stroh des Wagens. Er holte eine große Kapsel von lackiertem Blech hervor und trug sie zu Anton hinunter. »Gestern hat mir Fräulein Sabine[495] dies für Sie mitgegeben.« Vergnügt öffnete er den Deckel und präsentierte die Bestandteile eines reichlichen Frühstücks, eine Flasche Wein und einen silbernen Becher. Anton griff nach der Kapsel. »Sie hat eine sehr schlaue Einrichtung«, erklärte Karl, »Fräulein Sabine hat sie so bestellt.« Anton betrachtete das Gefäß von allen Seiten und stellte es sorgfältig auf ein weiches Grasbüschel, dann ergriff er den Becher und sah darauf seinen Namenszug graviert und darunter die Worte: »Dein Wohl!« Darüber vergaß er das Frühstück und seine Umgebung und starrte nachdenkend auf das kleine Gefäß.

»Vergessen Sie das Frühstück nicht, Herr Generalbevollmächtigter«, erinnerte Karl.

»Setze dich zu mir, mein treuer Freund«, sagte Anton, »iß und trink mit mir. Deine höflichen Possen gewöhne dir ab, wir werden wenig haben; was wir aber erwerben, das wollen wir brüderlich miteinander teilen. Nimm die Flasche, wenn du kein Glas hast.«

»Nichts über Leder«, sagte Karl, ein kleines Trinkgefäß von braunem Leder aus der Tasche ziehend. »Und was Sie soeben zu mir gesagt haben, das war freundlich gemeint, und ich danke Ihnen dafür. Aber Subordination muß sein, schon wegen der andern Leute, und so wird der Herr Bevollmächtigte mir schon gütigst erlauben, daß ich Ihnen zuerst die Hand schüttele und im übrigen alles beim alten bleibt. Sehen Sie nur die Pferde, Herr Anton, meiner Treu, die Racker fressen auch Disteln.«

Wieder wurden die Pferde eingespannt, wieder warfen sie ihre kurzen Beine im Sande vorwärts, und wieder ging es fort in der kahlen Gegend. Zuerst durch eine leere Ebene, durch einen schlechten Kiefernwald, dann über eine Reihe von niedrigen Sandhügeln, die wie Dünen der öden Wasserflut über den pflanzenarmen Boden hervorragten, dann auf schadhafter Brücke über einen kleinen Bach. »Hier ist das Gut«, sagte der Kutscher sich umdrehend, und wies mit der Peitsche auf einen Haufen dunkeler Strohdächer, welcher gerade vor ihnen sichtbar wurde. Anton erhob sich von seinem Sitz und suchte die Baumgruppe, in welcher das Herrenhaus liegen konnte. Er sah nichts davon. Um das Dorf war manches nicht zu finden, was auch die ärmlichsten Bauernhäuser seiner Heimat schmückte, kein Haufe von Obstbäumen[496] hinter den Scheuern, kein umzäunter Garten, keine Linde auf dem Dorfplatz, einförmig und kahl standen die schmutzigen Hütten nebeneinander.

»Das ist traurig«, seufzte er sich niedersetzend, »viel ärger, als man uns in Rosmin gesagt.«

»Das Dorf sieht aus, wie verwünscht« rief Karl; »die Gespanne arbeiten nicht auf dem Felde, und weder Kühe noch Schafe sind auf dem Stoppelland zu sehen. Wahrscheinlich haben die Leute hier Stallfütterung. «

Der Knecht schlug auf die Pferde, und in unregelmäßigem Galopp fuhren sie zwischen zwei Reihen von Lehmhütten durch das Dorf und hielten vor der Schenke an. Karl sprang vom Wagen, öffnete die Schenkstube und rief den Wirt. Ein Jude erhob sich langsam von seinem Sitz am Ofen und kam an die Haustür. »Ist der Gendarm von Rosmin angekommen?« fragte Anton. – Er war in das Dorf gegangen. – »Wo ist der Weg nach dem Hofe? «

Der Wirt, ein ältlicher Mann mit verständigem Gesicht, beschrieb den Weg deutsch und polnisch und blieb an der Tür stehen, wie Karl behauptete, ganz außer sich über den Anblick von zwei Menschen. Der Wagen bog in einen Seitenweg ein, der auf beiden Seiten mit dicken Baumstümpfen besetzt war, den Überresten einer gefällten Allee. Durch die Löcher des Weges, durch Schlammpfützen und über Steine rasselte der Wagen vor einen Haufen von Lehmhütten, an denen noch die Reste eines weißen Kalkmantels hingen. »Die Scheunen und Ställe sind leer«, rief Karl, »denn in den Dächern sind Öffnungen, groß genug, um mit unserm Wagen hineinzufahren.«

Anton sprach nichts mehr, er war gefaßt auf alles. Durch eine Lücke zwischen den Ställen fuhren die Reisenden in den Wirtschaftshof, einen großen unregelmäßigen Platz, auf drei Seiten von schadhaften Gebäuden umgeben, die vierte offen gegen das Feld. Dort lag ein Haufe von Trümmern, Lehm und verfaulten Balken, die Überreste einer eingefallenen Scheuer. Der Hofraum war leer, von Ackergeräten und menschlicher Tätigkeit war nichts zu erblicken. »Wo ist die Wohnung des Inspektors?« fragte Anton betroffen. Der Kutscher sah sich suchend um, endlich entschied er sich für ein kleines Parterregebäude mit einem Strohdach und unsaubern Fenstern.[497]

Bei dem Geräusch des Wagens trat ein Mann auf die Türschwelle und wartete phlegmatisch ab, bis die Reisenden abgestiegen waren und dicht vor ihm standen. Es war ein breitschultriger Gesell mit einem aufgedunsenen Branntweingesicht, in einer Jacke von zottigem Zeuge, hinter ihm steckte ein ebenso zottiger Hund die Schnauze aus der Tür und knurrte die Fremden an. »Sind Sie der Inspektor dieser Güter?« fragte Anton.

»Der bin ich«, erwiderte der kurze Mann in gebrochenem Deutsch, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Und ich bin der Bevollmächtigte des neuen Eigentümers«, sagte Anton.

»Das geht mich alles nichts an«, grollte der zottige Mann in grobem Ton, drehte kurz um, ging in die Stube zurück und verriegelte die Tür von innen.

Anton war empört. »Schlag das Fenster ein und hilf mir den Schurken festnehmen«, rief er seinem Begleiter zu. Dieser griff kaltblütig nach einem Stück Holz, schlug auf die Scheiben, daß der morsche Fensterflügel klirrend in die Stube fiel, und sprang mit einem Satz durch die Öffnung hinein. Anton folgte. Das Zimmer war leer, die Kammer daneben auch, von dort führte ein offenes Fenster ins Freie, der Mann war hinausgesprungen. »Durchs Fenster herein und wieder hinaus, wie der Teufel«, schrie Karl und sprang dem Flüchtling nach, Anton eilte zurück um das Haus herum. Er hörte Hundgebell und sah, wie Karl über den ungetreuen Haushalter herfiel und ihn unter dem wütenden Gekläff des Hundes am Kragen faßte. Anton eilte zu Hilfe und hielt den Ausreißer fest, während Karl dem Hund einen Fußtritt gab, daß dieser weit weg auf den Boden flog. Darauf brachten beide den Inspektor, welcher eifrig um sich schlug, um die Ecke herum in das Haus zurück.

»Fahr zur Schenke und hole den Gendarm und den Wirt«, rief Anton dem Kutscher zu, der unbekümmert um die Händel der Herren unterdes das Gepäck der Reisenden vom Wagen abgeladen hatte. Der Knecht fuhr gemächlich ab, der Flüchtling wurde in die Stube geführt, Karl ergriff ein altes Tuch und band ihm die Hände auf den Rücken. »Entschuldigen Sie, Inspektor«, sagte er, »es ist nur auf einige Stunden, bis der Gendarm aus Rosmin kommt, den wir bestellt haben.« Unterdes sah sich Anton in der[498] Wohnung um; außer dem notdürftigsten Hausrat und dem Bett des Mannes war nichts zu finden, weder Bücher noch Rechnungen. Es war kein Zweifel, auch die Wohnung war bereits ausgeräumt. Aus der Rocktasche des Gefangenen ragte ein Bündel Papiere, Anton zog sie dem Widerstrebenden heraus, es waren Verhandlungen und Aktenstücke in polnischer Sprache. Unterdes kam der Knecht mit dem Schenkwirt und dem bewaffneten Polizeibeamten zurück. Der Wirt blieb verlegen an der Tür stehn, dem Gendarm erklärte Anton kurz den Zusammenhang. »Machen Sie eine Eingabe an das Amt«, sagte der Gendarm, »und geben Sie mir den Mann auf der Stelle mit. Er soll in Ihrem Wagen nach Rosmin fahren. Es wird am besten sein, wenn Sie sich den Menschen vom Halse schaffen, denn es ist eine schlechte Gegend hier, und er wird Ihnen zu Rosmin sicherer sein, als hier, wo er Freunde und Spießgesellen hat.« Aus der Schenke wurde nach langem Suchen ein Bogen Papier herzugebracht. Anton schrieb die Anzeige nieder und legte auf das Ansuchen des Polizeibeamten, der die polnischen Schriftstücke kopfschüttelnd durchgesehen hatte, diese bei; der Gefangene wurde auf den Wagen gehoben, der Gendarm setzte sich neben ihn und sagte vor der Abfahrt noch zu Anton: »Ich habe mir lange gedacht, daß so etwas kommen würde. Sie werden mich vielleicht noch öfter in diesen Tagen brauchen.« So fuhr der Wagen aus dem Hofe, und so verlief die Übernahme des Gutes durch Anton. Er war ausgesetzt, wie auf einer wüsten Insel. Seine Lederkoffer und Reisebedürfnisse standen im Freien an einer Lehmwand, der Schenkwirt des polnischen Dorfes war der einzige Mensch, der ihnen Auskunft geben konnte und Rat schaffen in der unbehaglichen Lage.

Jetzt, da der Inspektor entfernt war, wurde der Wirt gesprächig, er zeigte guten Willen und erbot sich demütig zu allen Diensten. Eine lange Unterredung begann. Das Resultat war ungefähr so, wie Anton nach den Warnungen des Justizkommissars Walther und der Beamten zu Rosmin gefürchtet hatte. Der abgeführte Verwalter hatte in den letzten Wochen noch nach Kräften gearbeitet, das Inventarium zu verwüsten; er war sicher geworden durch ein Gerücht, das aus der Stadt in die Dörfer gedrungen war, auch der neue Besitzer werde die Güter nicht übernehmen. Endlich schloß Anton die Verhandlung mit den Worten: »Was jener[499] schlechte Mann veruntreut hat, darüber wird er Rechenschaft ablegen; unsere nächste Sorge ist, festzuhalten, was auf den Gütern noch vorhanden ist. Ihr müßt heut unsern Führer machen.«

So durchsuchten sie den menschenleeren Hofraum. – Vier Pferde mit zwei Knechten – sie waren in das Holz gefahren – wenige schadhafte Pflüge, ein Paar Eggen, zwei Leiterwagen, eine Britschka, ein Keller mit Kartoffeln, einige Wispel Hafer, wenig Stroh – die Aufzeichnung nahm keinen großen Raum in Anspruch; die Gebäude waren sämtlich schadhaft, nicht durch hohes Alter, sondern durch die Gleichgültigkeit der Menschen, welche das Eindringen der Elemente seit Jahren nicht verhindert hatten.

»Wo steht das Wohnhaus?« frug Anton. Der Wirt führte aus dem Hofraum auf den Anger, eine weite Fläche, welche allmählich zu dem Ufer des Baches abfiel. Es war eine große Viehtrift. Die Rinder und Schafe hatten Löcher ausgetreten, die Rüssel begehrlicher Schweine hatten den Boden aufgewühlt, graue Maulwurfshügel und üppige Grasbüschel erhoben sich auf dem Grund. Der Wirt streckte die Hand aus: »Dort ist das Schloß. Dies Schloß ist berühmt in der ganzen Umgegend«, fügte er mit Bewunderung hinzu, »ein solches steinernes Haus hat kein Edelmann im Kreise. Die Herren im Lande wohnen hier alle in Lehm und Holz. Auch der reichste, der von Tarow, hat nur ein niedriges Haus.«

Etwa dreihundert Schritt von der letzten Scheuer erhob sich ein mächtiger Bau von rohen Backsteinen, mit schwarzem Schieferdach und einem dicken runden Turm. Das finstere Mauerwerk auf dem Weideland ohne Bäume, ohne eine Spur von Leben, stand unter dem grauen Wolkenhimmel wie eine gespenstige Festung, welche ein häßlicher Geist aus den Tiefen der Erde gehoben hat, um von ihr aus das grüne Leben der Landschaft zu vernichten.

Die Männer traten näher heran. Das Schloß war zur Ruine geworden, bevor die erbauenden Handwerker ihre Arbeit vollendet hatten. Seit uralter Zeit hatte an dieser Stelle der unförmliche Turm gestanden, er war aus großen Feldsteinen gemauert, mit kleinen Fenstern und Zuglöchern. Die alten Herren der Landschaft hatten von seiner Höhe auf die Wipfel der Bäume gesehen, welche damals wohl noch weiter in die Ebene hineinreichten; sie[500] hatten von dort aus als strenge Herren mit den Leibeigenen geschaltet, die vor ihren Füßen das Land bauten und für sie arbeiteten und starben. Mancher Sarmatenpfeil war durch die kleinen Fenster auf den ansprengenden Feind herabgeflogen, und manches anstürmende Tartarenpferd war zurückgeprallt vor der feindlichen Steinmauer. An diesen grauen Turm hatte vor vielen Jahren ein Despot der Landschaft die Mauern eines frommen Klosters zur Buße für begangene Sünden aufgebaut. Aber das Kloster war niemals fertig geworden, und lange hatten die Mauern zwecklos dagestanden, bis der verstorbene Graf sie zu einem Herrenhaus für sein Geschlecht ausbaute. Er wollte einen Prachtbau aufführen, wie die Umgegend keinen anderen kannte.

Die Front des Hauses war so an den Turm gemauert, daß er in ihrer Mitte stand, und aus der geraden Linie im Halbkreis vorsprang, zwei Flügel des neuen Baues gingen auf den Bach hin. Es war die Absicht gewesen, eine hohe Rampe vor dem Schloß aufzuführen, der Haupteingang war in den Turm eingeschlagen und ausgewölbt worden, aber die Rampe war nicht aufgeschüttet, und die steinerne Schwelle der Haustür lag weit über Manneshöhe in der Turmmauer, ohne Leiter nicht zu betreten. Keine Tür verschloß die große Öffnung. Die Fensterlöcher des untern Stocks wiesen noch die rohe Mauer, sie waren mit Brettern notdürftig verschlagen, im obern Stock waren einzelne Fenster mit künstlichen Rahmen von gedrehtem Holz verziert, und große Scheiben hatte man eingefugt, aber wieder zerschlagen. In andern Fensterlöchern hingen Notrahmen aus rohem Kiefernholz mit kleinen trüben Glasaugen. Auf der Zinne des Turms saß eine Gesellschaft Dohlen und blickte verwundert herab auf die fremden Männer, zuweilen flog eine mit lautem Schrei auf und ließ sich an einer andern Stelle des Daches nieder, um wieder auf die Unwillkommenen herabzustarren.

»Ein Haus für Krähen und Fledermäuse, aber nicht für Menschen«, rief Anton; »noch sehe ich keinen Zugang zu diesem Räuberschloß.« Der Wirt führte um das Gebäude herum. Auf der hinteren Seite, wo zwei Flügel die Form eines Hufeisens bildeten, waren niedrige Eingänge zum Erdgeschoß und den Kellern, dort unten waren Ställe, große gewölbte Kochräume und kleine Zellen[501] für die unfreien Diener. Von dem Anger aber lief eine Holztreppe hinauf in das untere Stockwerk. Knarrend bewegte sich die Tür in ihren Angeln, ein schmaler Gang führte durch den Seitenflügel in die Räume des Vorderhauses. Dort war alles in großen Verhältnissen angelegt und auf eine reiche Ausstattung berechnet. Die runde Vorhalle, ein Gewölbe des alten Turms, war mit bunten Marmorstücken mosaikartig gepflastert, aus ihr sah man durch die große Türöffnung hinaus in das Freie. Eine breite Treppe, wie für ein Königsschloß, führte in den obern Stock. Hier wölbte sich eine zweite runde Halle mit kleinen Fensterlöchern, das zweite Stockwerk des Turms. Zu ihren beiden Seiten lag die Reihe der Zimmer. Überall hohe wüste Räume, schwere eichene Flügeltüren und schmutzige Kalkwände; die Decken waren aus dicken Fichtenstämmen gezimmert, die im Schachbrett ineinandergefügt waren, in einigen Stuben standen ungeheure grüne Kachelöfen, in andern fehlten die Öfen ganz, in einigen war der Fußboden kunstvolles Tafelwerk, in andern knorrige Kiefernbretter; ein großer Saal mit zwei riesigen Kaminen für Klafterscheite hatte eine Notdecke von alten Latten. Das Schloß war angelegt für einen wilden asiatischen Hofhalt, für Tapeten von Leder und Seide aus Frankreich, für kostbare Holzbekleidung aus England, für massives Silbergerät aus deutschen Bergwerken, für einen stolzen Herrn, für zahlreiche Gäste und für eine Schar leibeigener Knechte, welche die Hallen und Vorzimmer anfüllen sollten. Der Erbauer des Schlosses hatte an das reichliche Leben seiner wilden Ahnherren gedacht, als er den Bau ausführen ließ, er hatte dafür Hunderte von Stämmen aus seinem Walde niedergeschlagen, und seine Leibeigenen hatten mit ihren Beinen und Händen viele tausend Ziegel geknetet, aber die Zeit, die unerbittliche, hatte ihren Finger aufgehoben gegen seine Pläne, und nichts war lebendig geworden, was er gehofft hatte. Er selbst war verdorben und gestorben während des Baues, und sein Sohn, ein Kind der Fremde, hatte den Untergang seines Erbes im fernen Lande, so sehr als einem Unsinnigen möglich, beeilt. Jetzt standen die Mauern des Slawenschlosses mit geöffneten Türen und Fenstern, aber kein Gastfreund sprach im Eintreten dem Hause seinen Glückwunsch, nur wildes Geflügel flog aus und ein, und der Marder schlich neugierig über die Balkenlage. Nutzlos und[502] häßlich standen die Mauern, sie drohten zu zerbröckeln und zu zerfallen wie das Geschlecht, das hier gehaust hatte.

Anton ging mit schnellen Schritten aus einem Zimmer in das andere, vergebens hoffte er einen Raum zu finden, in dem er sich die beiden Frauen denken konnte, welche auf diese Wohnung wie auf ein letztes Asyl hofften. Er öffnete eine Tür nach der andern, er stieg über die knisternden Treppen in die Höhe und wieder herunter, er störte die Vögel auf, welche durch die Öffnungen eingedrungen waren und noch an den Nestern des letzten Sommers hingen, aber er fand nichts, als unwohnliche Räume mit schmutzigen Kalkwänden oder rohen Mauern, überall Zugluft, klaffende Türen, verblindete Fenster. In dem großen Saale war etwas Hafer aufgeschüttet; einige Zimmer des Oberstocks mochten früher zum notdürftigen Aufenthalt für Menschen gedient haben, schlechte Stühle und ein roher Tisch war alles, was sich von Möbeln vorfand.

Endlich betrat Anton die verfallene Treppe des Turmes und stieg auf die Plattform. Dort sah er über den Mauerrand in die Tiefe und hinaus in die Ebene. Zu seiner linken Seite sank die Sonne hinter grauen Wolkenmassen hinab in den dunkeln Schatten der Nadelwälder, zur rechten Seite lag das unregelmäßige Viereck des Wirtschaftshofes, dahinter an der Landstraße die unschönen Hütten des Dorfes, in seinem Rücken der Bach, der von der untergehenden Sonne her nach dem Dorf zu floß, und an seinen Ufern einen Streifen Wiesenland zeigte. Um die Wiesen und den Anger lagen die Ackerstücke wie in toter Ruhe, ein unreines Grün war auf den meisten aufgeschossen, nur wenige lagen in braunen Schollen, den Zeichen neuer Kultur. Auf dem Ackerboden erhoben sich hier und da wilde Birnbäume, die Freude des polnischen Landes, starke Stämme mit einer mächtigen Krone; unter jedem war eine Insel von Gras- und Pflanzenbüscheln, buntgefärbt durch das abgefallene Laub. Die wilden Bäume allein, die Wohnungen zahlloser Vögel, unterbrachen die einförmige Fläche, sie und am Rande des Gesichtskreises der dunkle Wald. Denn hinter Wiese und Feld und hinter dem gelben Sande umschloß einförmiges Nadelholz die Aussicht. Der Himmel grau, der Boden mißfarbig, die Bäume und Sträucher am Bach ohne Grün, und der Wald mit seinen Vorsprüngen und Buchten[503] einem Walle gleich, welcher diesen Erdfleck abschied von allen Menschen, von aller Bildung, von jeder Freude und Schönheit des Lebens.

Antons Herz wurde schwer. »Arme Lenore, ihr armen Leute!« seufzte er laut und faltete traurig die Hände. »Es sieht hier abscheulich aus, aber das läßt sich bessern. Wer Geld und Geschmack hat, der Mensch kann alles. Man kann dies Haus ausbauen und schmücken, ohne ungewöhnliche Kosten, Vorhänge, Teppiche, einige hundert Fuß Goldleisten, der Tapezierer und Maler würden es in ein stattliches Schloß verwandeln. Leicht wäre der Anger geebnet, mit feinem Gras besät, einige Blumenbeete von leuchtenden Farben hineingesetzt, dahinter eine Anzahl Büsche gepflanzt, die Hütten des Dorfes durch Baumlaub versteckt. Und käme dann zu Haus und Park das Gefühl der Kraft und Tätigkeit, dann könnte auch diese Landschaft, die trostloseste und ödeste, ein heiteres Bild werden. Es ist nichts dazu nötig, als Kapital, Menschenkraft und ein geordneter Sinn. Wie aber will der Freiherr diese Güter finden? Die behagliche Einrichtung dieses Hauses sollte die Blüte eines tätigen und erfolgreichen Lebens sein, und das Leben des Hausherrn ist zerbrochen, sie kann mit Verstand nur geschehen aus den Überschüssen, welche dieses Gut seinem Herrn bereitwillig gewährt, und Tausende von Talern werden nötig sein, um in dieser Unordnung die Anfänge eines neuen Lebens zu schaffen, und Jahre werden vergehen, bevor der Boden mehr trägt, als die Wirtschaftskosten oder dürftige Interessen des angelegten Kapitals.«

Unterdes betrachtete Karl zwei Zimmer des Oberstocks mit Kennerblick. »Diese beiden gefallen mir vor allen anderen«, sagte er zu dem Wirt. »Sie haben gekalkte Wände, sie haben Fußböden, sie haben Öfen, ja sie haben sogar Fenster. Zwar sind die Scheiben schadhaft, aber bis der Glaser kommt, ist dickes Papier nicht zu verachten. Hier richten wir uns ein. Könnt Ihr mir etwas holen, was mit Besen und Scheuerlappen umzugehen weiß? Gut, Ihr könnt's; und hört, sucht einige Bogen Papier zurecht, einen Leimtiegel führe ich mit mir. Wir wollen auf der Stelle Holz holen, dann will ich einheizen, Leim kochen, Papierfenster einsetzen und Ritze verkleben. Vor allem aber helft mir unser Gepäck vom Hof herschaffen. Rasch vorwärts.«[504]

Er riß durch seinen Eifer den Wirt fort, das Gepäck wurde in die Stube getragen, Karl packte eine Kiste mit allerlei Handwerkszeug aus, und der Wirt lief nach der Schenke, seine Magd zu rufen.

Unterdes trabten auf der Landstraße einige Reiter dem Hofe zu, stattliche Männer in Herrentracht; sie hielten vor der Wohnung des Beamten. Einer von ihnen stieg ab und pochte heftig an die verschlossene Tür. Anton rief seinen Gefährten, Karl eilte über den Anger den Fremden entgegen. Die Reiter galoppierten heran. »Guten Tag«, rief der eine in sorgfältigem Deutsch, »ist der Inspektor zu Haus?«

»Wo ist der Ökonom? Wo ist Bratzky?« riefen die andern, ungeduldig wie ihre flüchtigen Pferde.

»Wenn Sie den früheren Inspektor dieses Gutes meinen«, erwiderte Karl trocken, »so wird er Ihnen nicht entlaufen, obgleich Sie ihn hier nicht vorfinden.«

»Was soll das?« frug der erste Reiter und ritt näher an Karl heran. »Ich ersuche Sie um Auskunft.«

»Wollen Sie Herrn Bratzky sprechen, so müssen Sie sich nach der Stadt bemühen, er sitzt im Stock.«

Die Pferde bäumten, die Reiter drängten sich näher an Karl heran, lebhafte Ausrufe in polnischer Sprache flogen von allen Lippen. »Im Stock? Weshalb?«

»Fragen Sie meinen Herrn«, erwiderte Karl und wies auf die Tür des Turms, in welche Anton getreten war.

»Habe ich das Vergnügen, den neuen Eigentümer des Gutes vor mir zu sehen?« frug der Reiter sich dem Turm nähernd hinauf und lüftete seinen Hut. Anton sah erstaunt auf den Fremden herunter, Stimme und Gesicht erinnerten ihn an einen Herrn mit weißen Glacehandschuhen, der in kritischer Zeit einen unangenehmen Eifer gezeigt hatte, Standrecht über Anton zu halten. »Ich bin der Geschäftsführer des Freiherrn von Rothsattel«, entgegnete er. Das Pferd des Reiters tat zwei Sprünge zurück, der Reiter wandte sich schnell ab und sprach einige Worte zu seinen Begleitern. Darauf rief ein älterer Mann mit einem schlauen Fuchsgesicht: »Wir wollten in einer Privatangelegenheit den bisherigen Inspektor des Gutes sprechen. Wir erfahren, daß derselbe in Haft ist, und bitten Sie, uns zu sagen, weshalb.«[505]

»Er hat sich durch die Flucht der Übergabe der Güter an mich entziehen wollen. Es ist Verdacht, daß er unredlich gehandelt hat.«

»Sind seine Sachen mit Beschlag belegt?« frug der Reiter wieder hinauf.

»Weshalb tun Sie diese Frage?« frug Anton zurück.

»Um Vergebung«, entgegnete der andere, »der Mann hatte durch Zufall Akten, welche mir gehören, in seiner Wohnung, es könnte mich in Verlegenheit setzen, wenn mir die Disposition darüber entzogen würde.«

»Seine Effekten sind mit ihm nach der Stadt geschafft worden«, erwiderte Anton. Wieder fuhren die Pferde der Reiter durcheinander, eine leise Unterredung entstand, dann stoben die Fremden mit kurzem Gruß in gestrecktem Galopp zurück nach dem Dorfe, dort hielten sie einen Augenblick vor der Schenke und verschwanden endlich auf dem Fahrweg hinter dem Walde.

»Was wollten die, Herr Wohlfart?« frug Karl. »Das war ein Besuch im Sturmwind.«

»Jawohl«, erwiderte Anton, »auch ich habe Grund, ihn für auffallend zu halten. Wenn ich nicht irre, habe ich einen der Herren bereits in ganz anderer Umgebung gesehn. Wahrscheinlich hat dieser Herr Bratzky sich Freunde zu erwerben gewußt durch ungerechten Mammon.«

Der Abend hüllte Schloß und Wald in seine grauen Decken. Die Knechte kehrten mit den Pferden aus dem Walde zurück, Karl führte sie vor Antons Augen, hielt ihnen in polnischer Sprache eine kurze Rede und nahm sie für den neuen Herrn in Pflicht. Dann kam noch der Wirt zum Rechten sehen, er brachte Wasser und eine Tracht Holz und sagte zu Anton: »Ich bitte den gnädigen Herrn, vorsichtig zu sein in der Nacht, die Bauern sitzen in der Schenke und räsonieren über Ihre Ankunft, es sind schlechte Leute darunter; ich traue nicht, daß nicht einer zur Nacht einen Schwefelfaden in das Stroh steckt und Ihnen den Hof abbrennt.«

»Ich traue, es tut's keiner«, entgegnete Karl, einen neuen Holzblock in den Ofen werfend. »Es bläst ein hübscher Wind gerade auf das Dorf zu, 's wird niemand ein Narr sein und sich selbst die volle Scheuer in Brand stecken. Wir wollen dafür sorgen, daß derselbe Westwind von heut ab immer weht, solange wir[506] hier sind. Sagt das Euren Leuten. – Habt Ihr mir die beiden Kartoffeln mitgebracht?«

Anton bestellte den Wirt zum nächsten Morgen, und die beiden Gefährten waren allein in dem öden Hause.

»Auf das Anlegen dürfen Sie nichts geben, Herr Anton«, fuhr Karl fort, »es ist überall in der Welt die Unart betrunkener Schlingel, mit Feuer zu drohen. – Und zuletzt – mit Respekt zu sagen – wär's auch noch kein großer Schaden. – Jetzt, Herr Anton, sind wir unter uns, jetzt sieht man sowenig als möglich von dieser polnischen Wirtschaft, jetzt fängt's an und wird gemütlich.«

»Du hast recht«, sagte Anton und schob sich einen Schemel zum Ofen.

In den grünen Kacheln knisterte das Holz, und der rote Schein der Flamme versuchte auf dem Fußboden einen feurigen Teppich zu malen und streifige Lichter und Schatten durch die ganze Stube zu ziehn.

»Die Wärme tut wohl«, sagte Anton, »aber riechst du keinen Rauch?«

»Natürlich«, erwiderte Karl, welcher vor dem Ofenloch mit seinem Messer runde Löcher in die Kartoffeln bohrte. »Gerade die besten Öfen rauchen am Anfange des Winters am kräftigsten, bis sie sich wieder an ihre Arbeit gewöhnen: Und vollends dieser grüne Dickkopf hier hat vielleicht seit einem Menschenalter kein Feuer gesehn; es ist in der Ordnung, daß er nicht sogleich in Zug kommt. Bitte, schneiden Sie ein Stück Brot ab und streichen Sie hier den Ritz zu, ich verfertige unsere Leuchter.« Er holte ein großes Paket Lichter hervor, steckte in jede Kartoffel ein Licht, schnitt die halbe untere Rundung ab und stellte sie auf den Tisch, dann setzte er die Blechbüchse auf: »Die ist unerschöpflich«, sagte er, »sie hält noch übermorgen mittag vor.«

»Gewiß«, stimmte Anton vergnügt bei. »Ich habe einen merkwürdigen Appetit. Und jetzt laß uns überlegen, wie wir unsre Wirtschaft einrichten. Was wir von Hausrat nicht entbehren können, holen wir aus der Stadt, ich will sogleich ein Verzeichnis machen. Das eine Licht löschen wir wieder aus, wir müssen sparen.«

So verging der Abend unter guten Plänen, Karl machte die[507] Entdeckung, daß er aus Kisten und Brettern einen Teil der Möbel in wenig Stunden zusammenschlagen konnte. Und lustig klang zuweilen das Lachen der Genossen in den Wänden des Starostenhauses wider. Endlich riet Anton zu Bett zu gehn. Sie schüttelten ihr Lager aus Stroh und Heu zurecht, schnallten die Mantelsäcke auf und holten ihre Matratzenstücke und Decken hervor. Karl befestigte ein Schraubenschloß aus seinem Kasten an der Stubentür, untersuchte die Ladung des Karabiners, ergriff seine Kartoffel und sagte salutierend: »Wann befehlen der Herr Generalbevollmächtigte morgen geweckt zu werden?«

»Du guter Junge«, rief Anton, die Hand von seinem Lager nach ihm ausstreckend.

So ging Karl in das Nebenzimmer, das er für sich ausgesucht hatte. Kurz darauf verlöschten die beiden Lichter, der erste Schimmer des Lebens, welcher in dem verlassenen Hause wieder aufgeglüht war. In dem Ofen knackten noch lange die kleinen Kobolde des Hauses über dem neuen Feuer, sie summten in dem Rauchfang, sie klopften an Türen und Fenster, erstaunt über das Treiben der fremden Männer. Endlich fuhren sie zusammen in eine Ecke des alten Turmes und fingen an, sich zu streiten, ob die Flamme, die heut abend angezündet war, von jetzt ab fortbrennen würde, und ob aus den Fenstern von jetzt ab alle Tage ein fröhliches Licht hinausfallen würde auf den Anger, die Felder, den Wald. Und während sie zweifelten, ob das Neue stark genug sei, sich zu erhalten, trieb der Rauch die Fledermäuse aus ihrer Wohnung im Schornstein, daß sie schlaftrunken um die Zinnen des Turms flatterten; und die Käuze im Mauerritz schüttelten ihren dicken Kopf und stöhnten über die neue Zeit.

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 493-508.
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