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[584] Es war Wochenmarkt in der kleinen Kreisstadt Rosmin. Seit uralter Zeit war der Markttag für die Landleute der Umgegend ein Fest von besonderer Bedeutung. Fünf Tage der Woche mußte der Bauer seinen Kohl bauen oder dem gestrengen Herrn fronen, am Sonntage war sein Herz geteilt zwischen der Jungfrau Maria, seiner Familie und der Schenke, der Markttag trieb ihn über die Strenge seiner Feldmark hinein in die große Welt. Dann fühlte er sich auch gegenüber den Fremden als ein schlauer Mann, welcher schafft und gebraucht, er sah Bekannte wieder, die er sonst niemals getroffen, er erblickte neue Dinge aus der Fremde, er hörte von andern Städten und Ländern und genoß, was andere für ihn erfunden hatten, in vollen Zügen. Und am Abend dieses Tages flogen die Neuigkeiten aus der weiten Welt bis in das entfernte Walddorf, in jede Hütte, in jede einzelne Menschenseele des Kreises. So war es schon damals gewesen, als noch die Slawen allein auf dem Boden saßen, der Bauer leibeigen unter schmutzigem Strohdach, der Edelmann hoffärtig in seinem hölzernen Palast. Damals war ein offenes Feld gewesen, was jetzt Rosmin heißt; vielleicht stand eine Kapelle darauf mit einem gnädigen Bilde, oder ein paar mächtige Bäume noch aus der Heidenzeit, oder das Haus eines klugen Grundherrn, der weiter sah, als seine langbärtigen Genossen. Damals war der deutsche Kaufmann zum Markte über die Grenze gekommen mit seinem Wagen und Dienern, er hatte unter dem Schutz des Kruzifixes oder eines slawischen Säbels seine Truhen geöffnet und die Werke des heimischen Fleißes, Tuche, buntfarbige Kleider, Zwickelstrümpfe, Halsbänder von Glas und teuren Korallen, Heiligenbilder und Kirchengeräte, aber auch, was den Gaumen erfreut, süße Backwaren,[584] fremden Wein und wohlriechende Zitronen feilgeboten, und hatte dagegen eingetauscht, was die Landschaft ihm entgegenbrachte: Wolfsfelle, Hamsterpelze, Honig, Getreide, Vieh und anderes. Nicht lange, so schlug neben dem Kaufmann auch der Handwerker seine Werkstatt auf, der deutsche Schuster kam, und der Knopfmacher, der Blechschmied und der Gürtler, die Zelte und Hütten verwandelten sich allmählich in feste Häuser, die im Viereck um den großen Marktplatz aufstiegen, auf dem viele hundert beladene Polenwagen Raum haben mußten. Fest schlossen sich die fremden Ansiedler zusammen, sie kauften den Grund, sie kauften ein Stadtrecht von dem slawischen Grundherrn, sie gaben sich ein Statut nach dem Muster deutscher Städte. Die neuen Bürger bauten ihr Rathaus in die Mitte des großen Vierecks und daran ein Dutzend Häuser für Kaufleute und Schenken, und der Marktring war geschlossen. Um die Hofräume, die Hintergebäude und Gassen wurde die Stadtmauer gezogen, und über die beiden gewölbten Tore nach dem Brauch der Heimat wohl auch die Wachttürme gesetzt, unten hauste der Zöllner, oben der Wächter. Und mit Verwunderung erzählte man sich draußen in den Wäldern und auf der Heide, wie schnell die Männer mit fremder Sprache gewachsen waren, und daß jeder Landmann, der durch ihr Tor fuhr, ihnen ein Kupferstück bezahlen mußte als Brückengeld, ja der Edelmann, der allmächtige, mußte auch bezahlen. Manchen Slawen aus dem Umkreise warf sein Schicksal zu den Bürgern in der Stadt, er wurde heimisch unter ihnen, ein Handwerker, Kaufmann, Bürger, wie sie. So war Rosmin entstanden, so viele deutsche Städte auf altem Slawengrund, und sie sind geblieben, was sie im Anfang waren, die Märkte der großen Ebene, die Stätten, wo polnische Ackerfrucht eingetauscht wird gegen die Erfindungen deutscher Industrie, die Knoten eines festen Netzes, welches der Deutsche über den Slawen gelegt hat, kunstvolle Knoten, in denen zahllose Fäden zusammenlaufen, durch welche die kleinen Arbeiter des Feldes verbunden werden mit andern Menschen, mit Bildung, mit Freiheit und einem zivilisierten Staat.

Noch immer ist der Markttag von Rosmin der große Tag für die Umgegend. Vom frühen Morgen an ziehen Hunderte von Korbwagen mit Ackerfrüchten nach der Stadt und hoch auf den[585] Säcken sitzt der breitschultrige Bauer und die Bäuerin; aber nicht mehr peitscht der Leibeigene die abgetriebenen Gäule seines Gebieters, ein frei geborenes Slawenkind lenkt die stattlichen Pferde, deren Vater sogar ein Hengst des Königs ist. Und wenn der Federwagen eines Edelmanns vorbeifährt, dann treibt auch der Bursch seine Pferde zu schnellerem Lauf, und wenn er artig ist, rückt er nur ein wenig an seinem Hut. Auf allen Straßen und Feldwegen zieht es der Stadt zu, die kleinen Leute fahren ihre Gänse auf der Radber, und die Frau trägt im Korbe die Butter ihrer Kuh, Beeren und Pilze und ganz unten auf dem Boden vielleicht einen heimlichen Hasen, den ihr Mann durch einen Wurf seines Stockes getötet hat. Vor allen Gasthäusern der Vorstadt stehen Haufen abgespannter Wagen, an jeder Schenktür drängen sich die ein und aus gehenden Leute. Auf dem Markt sind die Getreidewagen dicht nebeneinander aufgefahren, der große Platz ist bedeckt mit runden Säcken und Gespannen, und Pferde von jeder Größe und in allen Farben stehen nebeneinander, an den guten Plätzen am Rande auch die Hoffuhren der Edelleute. Und in dem Viereck der hundert Wagen, zwischen den Knechten, Pferdeköpfen und Heubündeln windet sich aalgleich der jüdische Faktor hindurch, Getreideproben in jeder Tasche, in zwei Sprachen fragend und antwortend. Neben dem weißen Kittel und blauen Schnurrocke der Slawen und ihrem Hut mit der Pfauenfeder zeigt sich das einförmige Dunkelblau des deutschen Kolonisten. Dazwischen Soldaten aus der nächsten Garnison, Stadtbewohner, Wirtschaftsbeamte und feine Herren vom Landadel. An der Ecke des Marktes hält auf seinem großen Pferde hoch erhaben der Gendarm, auch er ist heut im Eifer, und seine Stimme klingt herrisch über das Gewirre der Wagen, welche die Einfahrt zur Straße verstopft haben.

Überall in der Stadt sind die Kaufläden weit geöffnet, und vor den Häusern stellen die kleinen Händler auf Tischen und Tonnen ihre Ware aus. Bedächtig schreitet das Bäuerlein, gefolgt von den Weibern seiner Hütte, die Reihen der Schautische entlang, mit kurzem Befehl hält er die Frauen zusammen, welche begehrlich stehenbleiben und die Köpfe zusammenstecken, wo bunter Kattun, Tücher oder Halsbänder aufgehängt sind, bis auch sein künstlicher Gleichmut von einem Ausruf der Bewunderung[586] durchbrochen wird, wenn er bei einem Tisch voll Stahlwaren ankommt, oder bei einem Pferdegeschirr, oder einem großen Schinken im Fleischladen. Lange wird geprüft, bevor der Einkauf geschieht, wohl fünf Minuten biegt er das gestählte Blatt der Säge hin und her, bis der Kaufmann ihm gelangweilt das Stück aus der Hand nimmt, dann erst entschließt er sich zum Kauf; fast ebensolange klopft sein Weib an den irdenen Töpfen herum, ob nicht an einer Stelle ein schnarrender Mißton den Sprung verrät. Der Genuß des Kaufens wird hier viel stärker empfunden, als da, wo Tausende mit einem Wort weggegeben werden. Immer wird stillgehalten, wenn ein bekannter Mann oder ein Blutsfreund aus einem andern Dorf den Kaufenden entgegenkommt. Dann entsteht ein lautes Begrüßen, die Frauen drängen sich heran, die Neuigkeiten fliegen aus einem Mund in den anderen, bis der ganze Trupp zuletzt gemeinsam seine Warenschau fortsetzt. Endlich halten die Ermüdeten vor dem Tische, wo durchgeschnittene Würste durch ihr marmoriertes Füllsel anmutig locken, wo Semmelberge stehn und wo der ewig wünschenswerte Hering in der Tonne liegt. Hier wird der letzte Einkauf gemacht und dann in ein Wirtshaus gezogen, die weiße Flasche gefüllt, und da kein Platz auf den Bänken zu finden ist, wird in einer Ecke des Hauses niedergesetzt und ein langsames Mahl gehalten. Die weiße Flasche geht im Kreise, die Wangen werden röter, die Gebärden lebendiger, die Gespräche lauter, die Männer fangen an, sich zu küssen, alte Feinde suchen sich auf, miteinander zu zanken. Weithin auf die Straße tönt aus jeder Schenkstube das Gesumme und Geschrei. Unterdes, wer andere Gänge hat, besorgt diese, wer eine Klage anzubringen hat, heut läuft er aufs Gericht, wer Steuern abzuliefern hat, heut pflegt er sie zu zahlen; alle Behörden sind heut in großer Tätigkeit, alle Schreiber dehnen heut ihre Finger, um die Feder schnell über das Papier zu führen; alle Schulzen erscheinen heut in den Ämtern, um zu melden und zu hören. Auch die Weinstuben sind gefüllt, und der Weinkaufmann Löwenberg macht heut die besten Geschäfte, er hat neben seinem Wein auch einen großen Handel mit Getreide und Wolle, er verleiht Gelder und ist der Vertraute vieler Gutsherren. In seiner großen Vorderstube sitzen die Gäste einzeln, deutsche Oberamtleute, ältere polnische Gutsbesitzer, vielleicht ein reicher deutscher[587] Bauer, der einen guten Viehhandel gemacht hat. In dem Hinterzimmer aber geht's höher zu, dort sind die Edelleute des Kreises versammelt, manches wüste Gesicht mit stumpfen Zügen, aber auch der edle Schnitt des polnischen Herrenantlitzes, kräftige Männer von adligem Wesen. Dort springt der Kork des Champagners zur Decke und neben den Geschäften der Woche wird noch manches andere verhandelt, was fremde Ohren nicht hören dürfen. Ist's nicht Politik, so rollen vielleicht die Würfel auf dem Tisch, oder ein Spiel Karten fliegt aus einer Tasche unter die Weingläser, schnell fährt dann an der Ecke des Tisches eine Gruppe zusammen, es wird still in der Stube und nur kurze Ausrufungen in französischer Sprache werden gehört. So vergeht der Markttag als ein unaufhörliches Anrufen und Handeln, Erwerben und Genießen, unter Wagengerassel und Pferdelenken, bis der Abend seine graue Decke über den Marktplatz breitet, dann zieht die Bauersfrau ihren Mann am Rocke, sie denkt an die irdenen Töpfe, welche so leicht zerschlagen sind, und an die kleinen Kinder, die jetzt nach der Mutter rufen. Dann fahren die Wagen wieder auf allen Straßen auseinander, der Bauernbursch trägt einen Strauß von Flitter auf seinem Hut, er klatscht unaufhörlich mit der neugekauften Peitsche, und in trunkenem Mut treibt er seine Pferde zum rasenden Wettlauf mit andern Gespannen. Auf allen Feldwegen ziehen die kleinen Leute in ihre Dörfer, die Frau hat die Töpfe auf den Rücken gebunden, ein schönes rotes Tuch und ein Stück Pfefferkuchen für die Kinder liegen darin, und neue Kochlöffel und Quirle ragen daraus hervor, und neben ihr schreitet der Mann unsicher und schwer, die stählerne Säge auf der Schulter, vergeblich bemüht, die Würde eines Hausherrn vor den Fremden zu bewahren. Viel später fahren auch die Wagen der Herren vor das Weinhaus, die Kutscher müssen lange auf den Aufbruch warten, denn auch den Herren wird die Trennung schwer von dem Tisch der Trinkstube. Jetzt wird es stiller in der müden Stadt, der Kaufmann öffnet seinen Ladentisch, zählt und sortiert mit seiner Frau das eingenommene Geld und schlägt die falschen Silberstücke zornig mit einem Nagel vorn an den Ladentisch, zur eindringlichen Warnung für alle unsichern Zahler. Jetzt führt auch der Gendarm sein Pferd in den Stall, überzählt die Vagabunden, die Marktdiebstähle, die Händel, die er heut angezeigt,[588] und hofft auf einen gnädigen Blick. Endlich macht der Nachtwächter seine Runde, er achtet heut sorglich auf die Schenkstuben, in denen noch immer einzelne Schreier sitzen, und sieht beim trüben Laternenlicht erstaunt auf den unsaubern Marktplatz, den sein Besen morgen von allem Schmutz befreien soll.

So war der Wochenmarkt von Rosmin immer gewesen. In dem letzten Winter war der Marktverkehr nicht geringer als sonst, aber es war eine Unruhe sichtbar in vielen Köpfen, am meisten bei den Herren. Beim Weinkaufmann sah man zuweilen fremde Männer von kriegerischem Aussehn in die Hinterstube treten, dann wurde das Zimmer verschlossen. Auf den Straßen sah man junge Burschen in auffallender Tracht mit roten viereckigen Mützen durch das Gedränge schreiten, sie schlugen zuweilen einem Landsmann auf die Schulter, riefen andere beim Namen und zogen sie aus dem Gedränge in eine Ecke. Wo sich ein Soldat sehen ließ in seiner Uniform, sahen die Leute auf ihn wie auf einen verkleideten Mann, manche wichen ihm aus, viele waren doppelt freundlich gegen ihn, Deutsche wie Polen. In den Schenken saßen die von den deutschen Dörfern apart und mischten sich nicht mit den andern, und die Polnischen von den Gütern des Herrn von Tarow tranken viel und fingen noch mehr Händel an, als sonst. Der Vogt vom neuen Vorwerk hatte am letzten Markte in der ganzen Stadt keine neue Sense finden können, und der Förster beklagte sich gegen Anton, daß er neulich in keinem Kaufladen mehr Pulver gefunden hatte, als ihm auf eine Woche reiche. Es schwebte etwas in der Luft, niemand wollte sagen, was es war.

Heut war wieder Markttag zu Rosmin, und Anton fuhr mit einem Knecht nach der Stadt. Es war einer der ersten Frühlingstage, die Sonne schien warm auf den Boden, der noch im winterlichen Schlummer dalag. Anton dachte daran, daß jetzt die ersten Gartenblumen blühen müßten, und daß er und die Frauen im Schloß in diesem Jahr keine sehen würden als etwa auf dem Vorwerk im Winkel hinter der Scheuer. Es war auch keine Zeit, sich an Blumen zu freuen, überall waren die Herzen aufgeregt, und alles, was durch so viele Jahre fest gewesen war, schien zu wanken. Über große Länderstrecken zog der politische Sturmwind, die Zeitungen erzählten alle Tage Unerwartetes und Furchtbares, ein großer Krieg schien im Anzuge, aller Besitz, alle Bildung schien[589] in Gefahr. Er dachte an die Verhältnisse des Freiherrn, und welches Unglück für diesen entstehen mußte, wenn das Geld teuer wurde und der Grundbesitz spottwohlfeil. Er dachte auch an die Firma in der Hauptstadt, an seinen Platz im Comtoir, den er in der Stille noch immer als sein Eigentum betrachtete, und an den sorgenvollen Brief, den ihm Herr Baumann geschrieben, wie finster der Prinzipal sei, und wie zänkisch die Kollegen am Teetisch in Herrn Baumanns Stube.

Aus solchen kummervollen Gedanken weckte ihn ein Geräusch auf der Straße. Eine Reihe von Herrenwagen fuhr vorbei, in dem ersten saß Herr von Tarowski, der im Vorbeifahren artig zu Anton herübergrüßte. Anton sah erstaunt, daß er seinen Jäger auf dem Bedientensitz hatte, als zöge er zur Jagd. Noch drei Wagen rollten vorüber, alle mit Herren bis auf das Trittbrett beladen, und hinter den Wagen jagte ein ganzer Trupp Reiter, der deutsche Inspektor von Tarow mit darunter.

»Jasch«, rief Anton dem Kutscher zu, »was war das, was die im zweiten Wagen zudeckten, als sie vorbeifuhren?«

»Flinten«, antwortete der Kutscher kopfschüttelnd.

Der sonnige Tag nach langem Schnee- und Regenschauer lockte die Leute aus allen Höfen nach der Stadt, in kleinen Haufen zogen sie eilig vorwärts, wenig Frauen darunter, es war ein lautes Anrufen der verschiedenen Gesellschaften und ein Leben auf der Straße, wie sonst am Abend bei der Heimkehr. Vor dem ersten Wirtshaus an der Straße ließ Anton halten. Der Kutscher frug: »Es ist von hier weit nach dem Markte, wie wird es sein mit dem Aufladen des Hafers?«

»Bleib bei den Pferden«, befahl Anton, »und geh nicht nach der Stadt; wenn ich etwas kaufe, lasse ich's herausfahren zum Umladen.« Eilig schritt er durchs Tor in das Gewühl der Gassen. Die Stadt war mit Menschen überfüllt, es wogte schon vom Tore an in hellen Haufen, kaum daß die Getreidewagen durchdrangen. Als Anton auf den Marktplatz kam, war er betroffen über das Aussehen der Männer. Überall erhitzte Gesichter, gespannte Züge, es waren nicht wenige in Jägertracht unter dem Volke, und häufig sah man auf den Mützen eine fremde Kokarde. Vor dem Hause des Weinkaufmanns war das Gedränge am größten, dort standen die Leute Kopf an Kopf und sahen hinauf nach den Fenstern,[590] an denen bunte Fahnen hingen, zuoberst polnische Farben, andere ausländische darunter. Noch sah Anton finster auf die Front des Hauses, da öffnete sich die Tür, und auf die steinerne Treppe trat der Herr von Tarow und ein Fremder mit einer Schärpe um den Leib. Anton erkannte in ihm den Polen, der ihn einst mit Standrecht bedroht und vor einigen Monaten nach dem Inspektor gefragt hatte. Ein junger Mann sprang aus dem Haufen auf die unterste Stufe, rief laut etwas in polnischer Sprache und schwenkte die Mütze: ein lautes Geschrei war die Antwort, dann wurde alles still. Der Tarowski sprach einige Worte, von denen Anton nichts verstand, hinter ihm rasselten die Wagen, und die Menge drängte sich hin und her. Darauf begann der Herr mit der Schärpe eine mächtige Rede. Er sprach lange, oft wurde er durch lautes Beifallsgeschrei unterbrochen; als er geendet hatte, erscholl ein betäubender Lärm, wilder polnischer Zuruf. Die Türen des Hauses wurden weit geöffnet, die Menge wogte durcheinander wie ein unruhiges Meer. Ein Haufe stürzte fort und verteilte sich auf dem Markte, andere sprangen in das Haus; wer hineingeeilt war, kam nach wenig Augenblicken mit einer Kokarde an der Mütze, bewaffnet mit einem Sensenspeer wieder heraus. Im Nu hatte sich ein Haufen Sensenmänner und ein Trupp mit Feuergewehren vor dem Hause aufgestellt. Die Zahl der Bewaffneten wurde größer, kleine Abteilungen Sensenmänner, von einzelnen Flintenträgern geführt, eilten von dem Hause weg nach allen Richtungen des Marktes. Hinter Anton klang Kommandoruf und Befehl, er wandte sich um und sah einzelne bewaffnete Reiter, welche die aufgefahrenen Wagen mit strengen Worten zur Abfahrt vom Markt trieben. Der Lärm und das Getümmel wurden immer größer, mit ängstlichem Zuruf hieben die Landleute auf ihre Pferde, die Verkäufer flüchteten mit ihren Waren in die Häuser, die Läden wurden geschlossen. Nach wenig Augenblicken hatte der Markt ein unheimliches Aussehen. Die Wagen waren entfernt; an den Marktecken standen einzelne Posten von Sensenmännern, ihre langen Spieße blinkten hell in der Morgensonne. Auf dem Platze selbst wogte die unsichere Menge. Betäubt, erschüttert, empört eilte Anton in dem Haufen fort, so kam er auf die andere Seite des Platzes. Dort lag das Steueramt, schon von weitem kenntlich durch das Wappenbild des Staates,[591] das auf Holz gemalt neben dem Fenster hing. Dort drängten sich die Massen wieder; ein Posten von Sensenmännern stand vor dem Hause, aus der Ferne sah Anton, daß ein Mann eine Leiter ansetzte, zu dem Wappen hinaufstieg und mit einem Hammer auf das Schild pochte, bis es herabfiel auf die Steine. Als das Wappen auf die Steine schlug, ging durch die versammelte Menge ein leiser Ton, wie ein Seufzen; es war so still geworden, daß man jeden Laut hören konnte. Eine Rotte von trunkenem Gesindel stürzte sich mit wildem Jauchzen auf das Schild, ein Strick wurde darumgebunden, und mit Hohngeschrei wurde es in den Rinnstein und über die Straße geschleift.

Anton war außer sich, eine Flut von stürmischen Leidenschaften drängte nach seinem Herzen. »Ihr Schurken!« rief er laut und rannte durch die Umstehenden auf die Bande zu. Da faßte ihn ein starker Arm um den Leib, und eine bebende Stimme sprach: »Nicht vorwärts, Herr Wohlfart, heut ist ihr Tag, morgen kommt unser Tag.« Anton riß sich los und sah neben sich die große Figur des Schulzen von Neudorf, er sah sich den Augenblick umgeben von einer Anzahl dunkler Männergestalten. Es waren die blauen Röcke deutscher Bauern, Gesichter voll Zorn und Kummer, welche ihn wie mit einem Wall einschlossen. »Laßt mich heraus!« rief Anton noch immer außer sich. Wieder aber legte sich die schwere Hand des Schulzen auf seine Schulter, und mit nassen Augen sprach der Mann: »Schonen Sie Ihr Leben, Herr Wohlfart, es ist jetzt umsonst, wir haben nichts, als unsere Faust und sind die Minderzahl.« Und von der andern Seite wurde seine Hand umfaßt wie von Schrauben, und der alte Förster stand schluchzend neben ihm und stöhnte: »Daß ich diesen Tag erleben muß, o die Schande, die Schande!« Dabei schüttelte er krampfhaft Antons Hand, schlug sich dann mit seinen Fäusten vor die Stirn und weinte laut wie ein Kind. Der wilde Schmerz des Alten gab Anton einen Teil seiner Ruhe wieder, er umschlang den Hals des Försters und hielt ihn fest an sich. Und wieder erscholl in ihrer Nähe mißtönendes Geschrei, und eine Stimme brüllte: »Durchsucht die Deutschen! Nehmt ihnen die Waffen, niemand darf den Markt verlassen!« Anton sah sich hastig in dem Haufen um und rief: »Das dürfen wir nicht leiden, Ihr Männer, daß wir hier in der deutschen Stadt umstellt werden, wie Gefangene, und daß sie unser[592] Wappen beschimpfen, die Schändlichen!« Von fern wirbelte eine Trommel. »Es ist die Schützentrommel«, rief der Schulz, »die Bürgerschützen von Rosmin kommen zusammen. Sie haben Gewehre.« – »Vielleicht ist noch nicht alles verloren«, rief Anton wieder. »Ich kenne einige Leute hier, die zuverlässig sind. Faßt Euch, mein Alter«, tröstete er den Förster. »Die Deutschen vom Lande sollen nicht zerstreut bleiben, so weiß niemand, was wir tun können. Wir wollen wenigstens miteinander den Markt verlassen; hier bei dem Brunnen sammeln wir uns. Jeder geht und ruft seine Bekannten zusammen. Und jetzt keine Zeit verloren! Ihr dorthin, Schulz; Ihr kommt mit mir, Schmied von Kunau.« Der Haufen fuhr nach zwei Richtungen auseinander, Anton von dem Förster und dem Schmied gefolgt eilte noch einmal über den ganzen Markt. Nie hatte er eifriger gesucht, nie hatte einer den anderen schneller verstanden. Wo er einen Deutschen fand, ein Blick des Auges, ein schneller Händedruck, das flüchtige Wort: »Die Deutschen versammeln sich am Brunnen, erwartet uns«, das trieb die Unschlüssigen schnell zu den Landsleuten.

Vor dem Hause des Weinkaufmanns hielt er mit seinen Gefährten in dem dichten Gedränge einen Augenblick an. Etwa fünfzig Sensenmänner standen vor dem Hause, daneben ein Dutzend Gewehre; noch waren die Türen weit geöffnet, und einzelne traten immer noch hinein, sich Waffen zu holen. Die Menge war scheu zurückgewichen, es wogten hier Polen und Deutsche, Städter und Landleute durcheinander, Anton sah, daß auch die polnischen Bauern verstört im Haufen standen und einander zweifelnd ansahen. Vor dem Hause sprachen einige junge Herren in die Masse. Während der Kunauer Schmied und der Förster den Deutschen ihr Zeichen gaben, fuhr Anton auf einen kleinen Mann los, der in seinem Arbeitsrock mit berußtem Gesicht in den Haufen drängte, und faßte ihn am Arm: »Schlosser Grobisch, Sie stehen hier? Warum eilen Sie nicht zum Sammelplatz, Sie sind Schütz und Bürger, wollen Sie diese Schmach ertragen?«

»Ach, Herr Rentmeister«, sagte der Schlosser, Anton beiseite ziehend, »das Unglück! Denken Sie, ich arbeite in meiner Werkstatt mit dem Hammer und höre von gar nichts. Bei unsrer Arbeit kann man wenig hören. Da stürzt meine Frau herein –«

»Wollen Sie diese Schmach ertragen?« rief Anton und schüttelte[593] den Mann heftig. »Gott bewahre, Herr Wohlfart«, erwiderte der Schlosser, »ich führe einen Zug bei den Schützen. Während mein Weib den Rock heraussucht, bin ich schnell über den Platz gelaufen, um zu sehen, wieviel ihrer sind. Sie sind größer, als ich, wieviel sind's, die Waffen tragen?«

»Ich rechne fünfzig Sensen«, erwiderte Anton schnell.

»Nicht die Sensen«, sagte der Kleine, »das ist zugelaufenes Volk, nur die Gewehre. «

»Ein Dutzend vor der Tür, ebensoviel mögen wohl noch im Hause sein.«

»Wir sind etwa dreißig Büchsen«, sagte der Kleine bekümmert, »aber es ist nicht auf alle zu rechnen.«

»Können Sie uns Gewehre schaffen?« frug Anton.

»Nur wenige«, sagte der Schlosser kopfschüttelnd.

»Wir sind ein Hauf Deutsche vom Lande«, sagte Anton in fliegender Eile, »wir wollen uns durchschlagen bis in die Vorstadt zum Roten Hirsch, dort halte ich die Leute zusammen, schicken Sie uns um Gottes willen durch eine Patrouille Nachricht heraus, und was Sie von Gewehren auftreiben können. Wenn wir die Edelleute herauswerfen, läuft der andere Haufe von selbst auseinander.«

»Aber diese Rache von diesen Polacken!« sagte der Schlosser mit aufgehobenem Zeigefinger, »die Stadt wird's bezahlen müssen.«

»Nichts wird sie bezahlen, Meister, Sie bekommen morgen Militär, wenn Sie heut die Wahnsinnigen hinauswerfen. Nur fort, jeder Augenblick vergrößert die Gefahr.«

Er trieb den Schlosser vorwärts und eilte auf die Brunnenseite. Dort fand er die Deutschen in kleinen Gruppen zusammenstehen, der Schulz von Neudorf kam ihm entgegen.

»Es ist keine Zeit zu verlieren«, rief dieser, »die andern werden aufmerksam, dort stellt sich ein Trupp Sensenmänner gegen uns auf.«

»Folgt mir«, rief Anton laut, »schließt euch dicht zusammen, vorwärts, hinaus aus der Stadt!« Der Förster sprang von Haufe zu Haufe und drängte die Leute aneinander, Anton schritt mit dem Schulzen voran. Als sie an die Ecke des Marktes kamen, kreuzten die Sensenmänner ihre Waffen vor der engen Gasse, der[594] Anführer des Postens spannte den Hahn seiner Flinte und rief Anton in phrasenhaftem Ton zu: »Warum wollen Sie fort, mein Herr! Nehmt Waffen, ihr Leute, heut ist der Tag der Freiheit!«

Er sprach nicht weiter, denn der Förster stürzte vor und gab ihm einen ungeheuren Backenstreich, daß er zur Seite taumelte und sein Gewehr im Fallen losging. Auf dem Markt erhob sich lautes Geschrei, der Förster ergriff die Flinte und die beiden Sensenmänner, überrascht und ohne Befehl, wie sie waren, wurden von dem vordringenden Trupp an die Häuser geworfen, die Sensen aus ihrer Hand gerissen und von den zornigen Leuten an dem Steinpflaster zerbrochen. Ohne verfolgt zu werden, drängte der Haufe bis an das Stadttor, auch dort wich der feindliche Posten zurück und ließ die dichte Masse ungehindert durch. So kamen sie beim Gasthofe an. Dort trat der Schulz, von Anton aufgefordert, vor die Leute. »Es geht dort drin gegen die Regierung«, sagte er, »es geht gegen uns Deutsche. Der bewaffneten Feinde sind nicht viel, wir haben eben gesehen, wie der Bauer mit ihnen fertig wird. Wer ein ordentlicher Mann ist, der bleibt hier und hilft den Bürgersleuten in der Stadt, die Fremden hinauszujagen. Die Schützen wollen einen zu uns senden und uns sagen, wie wir ihnen helfen können. Deshalb bleibt zusammen, Landsleute.«

Nach diesen Worten riefen viele: »Wir bleiben hier.« Manchem auch kam die Sorge und er stahl sich um das Haus und auf das Feld. Wer blieb, suchte eine Waffe, wo er sie fand, schwere Holzknittel, Radstangen, Heugabeln und was sonst in der Nähe aufzutreiben war.

»Ich kam her, mir Pulver und Schrot zu kaufen«, sagte der Förster zu Anton, » jetzt habe ich eine Flinte, und das letzte Korn soll heut draufgehen, wenn wir uns rächen können für den Schimpf an unserm Vogel.«

Unterdes waren in dem Schloß die Stunden wie gewöhnlich verlaufen bis gegen Mittag. Der Freiherr ging, von seiner Gemahlin geführt, im Sonnenschein um das Schloß herum; er grollte ein wenig, daß die Maulwurfshügel, an welche sein Fuß stieß, noch immer nicht geebnet waren, und kam zu dem Resultat, daß kein Verlaß auf Beamte und Dienstleute sei, und Wohlfart noch vergeßlicher als alle andere. Bei diesem Thema verweilte er mit mürrischem Behagen. Die Baronin widersprach ihm nur soviel als[595] möglich war, ohne seine krankhafte Laune aufzuregen, und so setzte er sich endlich im Freien auf einen Stuhl nieder, den ihm der Bediente nachtrug, und hörte friedlich seiner Tochter zu, welche mit Karl den Platz für eine kleine Baumpflanzung absteckte. Niemand dachte Arges, jeder war mit seiner nächsten Umgebung beschäftigt.

Da flog die schlimme Kunde, daß etwas Schreckliches vorgehe, mit Eulenflügeln über die Ebene. Auch zu der Waldinsel des Freiherrn kam sie heran, sie flatterte über die Kiefern und Birnbäume, über Getreidefelder und Anger bis auf das Schloß. Zuerst kam sie undeutlich, wie eine kleine Wolke am sonnigen Himmel, dann wurde sie größer, wie ein ungeheurer Vogel, der die Luft verfinstert, sie schlug mit ihren schwarzen Fittichen die Herzen aller Menschen in Dorf und Schloß, sie machte das Blut in den Adern stocken und trieb heiße Tränen über die Wangen.

Mitten in seiner Arbeit sah Karl plötzlich auf und sagte erschrocken zum Fräulein: »Das war ein Schuß!«

Lenore sah ihn betroffen an, dann lachte sie über ihren eigenen Schreck und erwiderte: »Ich habe nichts gehört; vielleicht war's der Förster.«

»Der Förster ist in der Stadt«, entgegnete Karl ernst.

»Dann ist's ein verdammter Wilddieb im Walde«, rief der Freiherr ärgerlich.

»Es war ein Kanonenschuß«, behauptete der hartnäckige Karl.

»Das ist nicht möglich«, sagte der Freiherr, aber er selbst lauschte mit gespanntem Gesicht; »es steht kein Geschütz auf viele Meilen in der Runde.«

In dem Augenblick rief eine Stimme vom Wirtschaftshofe her: »Es brennt in Rosmin.« Karl sah das Fräulein an, warf sein Grabscheit zu Boden und lief nach dem Hof; Lenore folgte. »Wer hat gesagt, daß Feuer in Rosmin ist?« frug er die Knechte, welche zu ihrer Mittagskost über den Hof gingen. Keiner hatte gerufen, aber alle liefen erschrocken aus dem Hof auf die Landstraße und versuchten nach Rosmin hinzusehn, obgleich jeder wußte, daß die Stadt über zwei Meilen entfernt war und keine Aussicht dorthin.

»Es sind vorhin Weiber gelaufen auf dem Weg nach Neudorf[596] wie in der Angst«, sagte der eine Knecht, und ein anderer rief: »Es muß gefährlich zugehn in Rosmin, denn man sieht den Rauch über dem Walde stehn.« Alle glaubten einen dunkeln Schatten über der Stelle zu sehn, wo die Stadt lag, auch Karl. Immer größer wurde die Aufregung ohne sichern Grund. Die Dorfleute traten auf der Straße zusammen. Alle sahen nach der Richtung von Rosmin und erzählten von dem Unglück, das über die Stadt gekommen sei. »Die Edelleute sind heut darin«, rief der eine, »sie haben die Stadt angezündet«, und sein Nachbar hatte von einem Mann auf dem Felde gehört, daß heut ein Tag sei, an den alle Gutsherren denken sollten. Der Mann sah feindselig auf Karl und fügte hinzu: »Noch kann manches kommen bis auf den Abend.« Der Schenkwirt kam herzugelaufen und rief Karl entgegen: »Wenn nur erst der heutige Tag vorbei wäre«, und Karl entgegnete in derselben Gemütsstimmung: »Ich wollte das auch.« Keiner wußte recht, weshalb.

Von der Zeit kamen immer neue Schreckensbotschaften aus der Welt jenseits des Waldes. »Die Soldaten und Polen liefern einander eine Schlacht«, hieß es. »Auch in Kunau brennt's«, riefen einige Weiber, die vom Felde heimeilten. Endlich kam die Vogtin vom neuen Vorwerk außer Atem zu Lenore gelaufen: »Mein Mann schickt mich, weil er das Gehöft an diesem Angsttage nicht verlassen will. Er läßt fragen, ob Sie nichts vom Förster wissen, es ist Mord und Totschlag in der Stadt, und die Leute sagen, der Förster schießt mitten darunter.« – »Wer sagt das?« fuhr der Freiherr auf. – »Einer, der über das Feld lief, hat es meinem Mann erzählt«, rief die entsetzte Frau, »und es muß wahr sein, daß dort alles durcheinander ist, denn als der Förster nach der Stadt ging, hatte er gar keine Flinte bei sich.« Allen kam vor, als ob das Unglück deshalb wahr sein müßte. »Und heut nacht hat es einen feurigen Schein gegeben auf dem Feld«, klagte die Frau weiter, »unsre Stube wurde ganz hell, und mein Mann ist aufgesprungen und hinausgegangen. Da zog ein blaues Licht wie eine Schwefelflamme über den Wald nach Rosmin zu.«

So schlug das Gerücht mit seinen Flügeln auf die Herzen der Menschen. Mit Mühe brachte Karl die Knechte dazu, daß sie mit ihren Gespannen wieder aufs Feld zogen. Lenore stieg mit Karl auf den Turm, um etwas Neues zu ersehn. Ob eine Rauchwolke[597] über der Stadt war, das wollte Karl nicht entscheiden, aber an mehr als einer Stelle sahen sie hinter den Wäldern etwas wie Feuerschein und Rauchwolken. Kaum waren sie herab, so kam der eine Knecht mit den Pferden zurückgejagt und meldete, daß ihm ein Bauer aus dem andern Kreise, der auf dem Waldweg im Galopp durchgefahren war, gesagt habe, ganz Rosmin sei angefüllt mit Sensenmännern und mit Leuten, welche rote Fahnen in der Hand hielten, und alle Deutschen im Lande würden erschossen. Die Baronin rang die Hände und fing an zu weinen, und ihr Gemahl verlor darüber den letzten Schein von Ruhe, den er mühsam bewahrt hatte. Er schalt heftig auf Wohlfart, der an solchem Tage nicht zu Hause sei, und ließ Karl zu sich rufen, der, nicht weniger erschrocken, sich jetzt um Antons Schicksal ängstigte. Er befahl ihm, alles im Hofe zu verschließen; gleich darauf forderte er ihn wieder, und verbot durch ihn dem Schenkwirt, heut den Dorfleuten Branntwein zu verkaufen, und immer frug er ihm ab, was man gehört hatte. Lenore konnte die schwüle Unruhe im Schloß nicht ertragen, sie ging unaufhörlich zwischen dem Schloß und dem Hofe ab und zu und hielt sich in Karls Nähe, in dessen treuherzigem Gesicht noch der meiste Trost zu finden war, dabei sah sie immer wieder auf die Landstraße, ob nicht etwas zu erblicken sei, ein Wagen, ein Bote.

»Er ist ruhig«, sagte sie zu Karl, »er wird sich einer so fürchterlichen Gefahr nicht aussetzen«, sie wünschte eine tröstende Antwort.

Karl aber schüttelte den Kopf: »Auf seine Ruhe ist kein Verlaß; wenn's in der Stadt so aussieht, wie die Leute sagen, so ist Herr Anton nicht der letzte, der darunterfährt. Er wird nicht an sich denken.«

»Nein, das tut er nicht!« rief Lenore und rang die Hände.

So ging es fort bis gegen Abend. Karl hielt die Dienstleute, welche alle vor dem Hofe standen, streng zusammen, er ergriff seinen Karabiner, er wußte selbst nicht, wozu, er ließ sich ein Pferd satteln und band es wieder an die Krippe. Da kam der Wirt mit einem Knecht aus der Brennerei zum Schloß gerannt, der gutmütige Mann rief schon von weitem dem Fräulein entgegen: »Hier ist eine Nachricht, eine schreckliche Nachricht von Herrn Wohlfart.« Lenore fuhr auf den fremden Knecht zu. Der Mensch[598] machte in polnischer Sprache einen verwirrten Bericht von den Schrecken des Tages in Rosmin. Er hatte gesehn, daß auf dem Markte Polen und Deutsche aufeinander geschossen hatten, daß der Herr Rentmeister an der Spitze der deutschen Bauern marschiert war. »Ich wußte das«, rief Karl stolz.

Dann erzählte der Knecht, wie er selbst geflüchtet sei, gerade als alle Polen auf den Herrn gezielt hätten; ob er tot sei, oder noch lebe, das könne er nicht genau sagen, denn er sei in großer Angst gewesen; aber er glaube wohl, der Herr müsse tot sein.

Lenore lehnte sich an die Mauer, Karl fuhr verzweiflungsvoll mit den Händen nach seinem Haupt. »Satteln Sie den Pony!« sagte Lenore mit klangloser Stimme.

»Sie wollen doch nicht selbst bei Nacht durch den Wald, den weiten Weg nach der Stadt?« rief Karl.

Ohne zu antworten eilte das tapfere Mädchen auf den Stall zu, Karl sprang ihr in den Weg. »Sie dürfen nicht!« schrie er, »die Frau Baronin wird vor Angst um Sie den Tod haben, und was können Sie unter den wütenden Männern ausrichten?«

Lenore blieb stehen. »So schaffen Sie ihn her«, rief sie halb bewußtlos, »bringen Sie ihn zu uns, lebendig oder tot.«

»Soll ich Sie an diesem Tage allein lassen?« rief Karl wieder außer sich.

Lenore riß ihm den Karabiner vom Arm und rief: »Fort, wenn Sie ihn lieben, ich werde an Ihrer Stelle wachen.«

Karl stürzte nach dem Hofe, riß das Pferd heraus und jagte auf der Straße von Rosmin dahin.

Der Hufschlag des Pferdes verklang, es wurde wieder still, Lenore eilte mit hastigen Schritten vor dem Schlosse auf und ab. Ihr Freund war in tödlicher Gefahr, vielleicht war er verloren! Und durch ihre Schuld, denn sie hatte ihn hierhergetrieben; sie fühlte eine heiße Sehnsucht nach seinem Anblick, nach dem Ton seiner Stimme. Was er ihr und den Eltern gewesen war, überdachte sie jetzt in ihrer Verzweiflung unaufhörlich. Es schien ihr unmöglich, ohne ihn die Zukunft in dieser Einsamkeit zu ertragen. Die Mutter sandte nach ihr, der Vater rief nach ihr zum Fenster hinaus, sie wies die Aufforderungen kurz ab, all ihr Empfinden war aufgegangen in dem Gefühl der reinen und innigen Neigung, welche zwischen ihr und dem Verlorenen erblüht war.[599]

In der Stadt stand Anton mit den Landleuten wohl eine halbe Stunde erwartungsvoll vor dem Roten Hirsch. Immer noch zogen die verscheuchten Marktleute bei ihnen vorüber in die Dörfer, flüchtigen Fußes die meisten, aber mancher blieb stehen und schloß sich ihnen an, oft auch wurde ein polnischer Gruß gehört, und mehrere Polen traten zu Anton und frugen, ob er sie brauchen könne. Endlich kam, nicht auf der Straße, sondern von dem Garten des Wirtshauses her, der Schlosser in seiner grünen Uniform mit Epauletten, gefolgt von einigen Bürgerschützen.

Anton eilte auf ihn zu und rief: »Wie steht's?«

»Achtzehn Mann sind gekommen«, sagte der Schlosser, »es sind die sichern Leute. Das Volk auf dem Markt verläuft sich, die im Weinhause sind nicht viel stärker geworden. Sie sind jetzt dabei, die Behörden abzusetzen. Unser Kapitän hat Courage wie ein Teufel. Wenn Sie ihm helfen wollen, so ist er bereit, etwas zu wagen. Wir können von hinten hinein in Löwenbergs Haus, ich habe das Schloß zum Hintertor selber gemacht und weiß Bescheid, vielleicht ist es gar nicht verschlossen. Wenn wir's geschickt machen, können wir die Anführer drin überfallen, wir können sie fassen und ihre Waffen.«

»Wir müssen von vorn und hinten zu gleicher Zeit angreifen«, entgegnete Anton, »dann haben wir sie sicher.«

»Ja«, sagte der Schlosser, ein wenig verblüfft, »wenn Sie mit Ihren Leuten von vorn kommen wollten.«

»Wir haben keine Waffen«, rief Anton. »Ich will mit Euch nach vorn und der Förster auch und vielleicht noch einer oder der andere; aber ein unbewaffneter Trupp gegen die Sensen und ein Dutzend Gewehre, das ist unmöglich.«

»Sehn Sie«, sagte der ehrliche Schlosser, »für uns ist's auch schwer. Wer so gerade im ersten Schreck von Weib und Kind kommt, der ist auch nicht in der Verfassung sich gleich als Scheibe hinzustellen. Unsre Leute haben ja guten Willen, aber die drüben sind verzweifelte Menschen. Und deswegen lassen Sie uns ruhig hintenherum gehn; wenn wir sie überraschen, gibt's weniger Blutvergießen, und das ist doch auch eine Hauptsache. Gewehre bringe ich nicht, nur einen Säbel für Sie.«

Schweigend setzte sich der Haufe in Bewegung, der Schlosser führte. »Unsere Schützen haben sich im Hause des Hauptmanns[600] versammelt«, sagte er, »dorthin können wir durch die Gärten, ohne daß die am Tor uns gewahr werden.« Durch Gemüsegärten zogen sie vorwärts, einige Male mußte der ganze Hauf über niedrige Zäune klettern, dann kreuzten sie schnell den Weg, der um die Stadtmauer herumführte, überschritten auf einigen Brettern den Bach und drangen durch eine Mauerpforte, welche sie in den Hofraum eines Gerbers führte.

»Hier waren Sie«, sagte der Schlosser mit einiger Unruhe. »Der Gerber ist einer von uns Schützen, aus der Haustür tritt man auf dieselbe Hintergasse, welche der Eingang zu Löwenbergs Hofraum ist. Ich gehe zum Hauptmann melden, wir holen Sie ab.«

Nur wenige Minuten standen die Landleute unter dem Haufen Lohe, als der Förster, der als Wache in der Haustür stand, den Anmarsch der Schützen meldete. Auf der Hintergasse stießen die beiden Haufen zusammen, nur kurze Begrüßungen wurden ausgetauscht. Der Hauptmann, ein wohlbeleibter Fleischer, forderte Anton auf, neben ihm zu gehen und seinen Zug den Schützen anzuschließen. Schweigend rückten sie an das Hintertor von Löwenbergs Hause, das Tor war nicht verschlossen und nicht besetzt, der Schlosser sah durch das Hintergebäude in den leeren Hofraum. Der Trupp hielt einen Augenblick an, der Förster eilte zu den Führern. »Wir sind mehr Leute, als in dem Haus nötig sind«, sprach er mit fliegender Eile. »Hier daneben ist eine breite Quergasse, die auf den Markt führt. Geben Sie mir den Trommler, einen Zug Schützen und die Hälfte von den Landleuten, wir laufen bis an den Markt und besetzen mit Geschrei die Öffnung der Quergasse. Die auf dem Markt werden dadurch gestört, sie müssen auf uns sehen, unterdes dringen Sie ein und nehmen die ganze Bande gefangen. Sobald ich trommeln lasse, springt der Herr Kapitän mit dem Hauptkorps durch den Hof in das Vorderhaus, die Tür halten Sie besetzt.«

»Mir ist's recht«, sagte der dicke Hauptmann, echauffiert und in der Aufregung, welche vor einem Angriff auch dem beherzten Mann die Brust beengt. »Nur vorwärts fort.«

Der Förster raffte sechs Schützen zusammen, winkte dem Schulz und einem Haufen der Landleute, und zog sich mit dem Haufen ohne großes Geräusch in die offene Seitengasse. Auch Anton fühlte das Blut an seine Schläfe hämmern in der Erwartung[601] der nächsten Augenblicke. Endlich hörte man Trommelwirbel, gleich darauf ein lautes Hurra. Wie Löwen sprangen die Bürger durch den Hof, der Hauptmann voran seinen Säbel schwingend, neben ihm Anton. So drangen sie in den Hausflur, bevor jemand auf sie achtete. Alles war im Hause an die Fenster und an die Tür gestürzt.

»Hurra«, rief der Hauptmann, »wir haben sie«, und ergriff in dem Hausflur einen der Herrn im Genick. »Keiner soll entrinnen. Schließt die Tür!« schrie er und hielt sein Opfer am Kragen fest, wie eine Kuh bei den Hörnern. Durch die Kraft von zehn Leibern wurde die Haustür von innen zugedrückt und verschlossen, so daß die Eifrigen auch die Feinde, welche in der Tür standen, hinausdrängten. Darauf stürzten die Schützen in die Stube, ein Teil nach dem obern Stock. Wer von Herren in der Stube war, sprang zum Fenster hinaus. So kam es, daß die Bürger in der Weinstube nichts ergriffen, als eine Namenliste, einen Haufen zusammengebundener Sensen, und in der Ecke ein halbes Dutzend Gewehre, welche den Edelleuten gehörten. Der Schlosser faßte sogleich die Gewehre und rannte mit Anton und einigen andern, die er anrief, wieder hinten zum Hause hinaus in die Quergasse zu dem Zuge, den der Förster führte. Sie fanden den Zug in bedenklicher Lage. Er war mutig hinter dem Förster vorwärtsgestürmt bis an den Ausgang der Gasse. Die Trommel und das Hurra und gleich darauf der feindliche Angriff im Hause hatten die Gegner in Verwirrung gebracht. Die Sensenmänner waren von dem Hause weggeeilt, sie standen in ungeordnetem Haufen mitten auf dem Markte, der Mann in der Schärpe, selbst ohne Gewehr, war beschäftigt, die Unbehilflichen aufzustellen. Dagegen war der Trupp mit Gewehren, Ökonomen, Jäger und einige junge Herren, den Anrückenden kühn entgegenmarschiert und hatte Front gegen sie gemacht. Vor der bewaffneten Schar stutzten die Bürgerschützen und drängten an den Ausgang der Gasse zurück, der Förster stand allein mitten zwischen den feindlichen Parteien. In dieser Verlegenheit fing der Trommler wieder an aus Leibeskräften zu trommeln, die Polen hielten ihre Gewehre an die Backen, der Förster kommandierte ebenfalls: »Legt an!« und beide Haufen blieben im Anschlage voreinander stehen, jeder auf Augenblicke zurückgehalten durch die Scheu vor den furchtbaren[602] Folgen, welche das erste Kommando haben würde. Da drang der Schlosser mit seinen Begleitern vor, die Gewehre wurden blitzschnell den Männern, welche danach griffen, in die Hand gegeben, Anton und der tapfere Schlosser sprangen in die erste Reihe der Bürgerschützen. Ein blutiger Kampf auf dem Pflaster schien unvermeidlich.

In diesem Augenblick erscholl aus dem Fenster der Weinstube die Stimme des Hauptmanns laut über den Marktplatz: »Mitbürger, wir haben sie. Hier ist der Gefangene. Er ist der Herr von Tarow selber!« Alles setzte die Gewehre ab und hörte nach der Stimme. Der Hauptmann hielt den Kopf des Gefangenen zum Fenster hinaus, der, in sein Schicksal ergeben, keinen Versuch machte, sich aus der unbequemen Lage zu befreien. »Und jetzt hört auf meine Worte. Alle Fenster dieses Hauses sind besetzt, alle Straßen sind besetzt, wie dort auf dieser Seite zu sehn; sobald ich einen Finger hebe, werdet ihr Leute alle in Grund und Boden geschossen.«

»Hurra, Hauptmann«, rief eine Stimme gerade gegenüber von den mittlern Häusern des Marktes, und der Kaufmann, welcher dort wohnte, steckte seine Entenflinte zum Fenster des ersten Stocks heraus, neben ihm der Apotheker und der Postmeister, die Pächter der städtischen Jagd.

»Guten Morgen, meine Herren«, rief der Fleischer erfreut hinüber, denn eine kühne Sicherheit war auf ihn gekommen. »Ihr seht, Leute«, fuhr er fort, »daß jeder Widerstand nutzlos ist, werft eure Sensen weg, oder ihr seid sämtlich Kinder des Todes.« Eine Anzahl Sensen klirrte auf das Pflaster.

»Und Ihr, Ihr Herren Jäger«, fuhr der Hauptmann fort, »Ihr sollt freien Abzug haben, wenn ihr eure Gewehre abgebt, denn wenn nur einer von euch noch ein Gesicht schneidet, so soll dieses Mannes Blut über euer Haupt kommen.« Dabei ergriff er den Kopf des Tarowski, hielt ihn wieder zum Fenster hinaus und zog ein großes Schlachtmesser aus seiner Uniform. Er warf die Scheide auf die Straße und schwenkte das Messer so fürchterlich um das Haupt des Gefangenen, daß der brave Fleischer in diesem Augenblick wahrhaft gräßlich und wie ein Kannibale aussah.

Da rief der Förster begeistert: »Hurra, wir haben sie, vorwärts, marsch!« Der Trommler fing an zu trommeln, und im Sturm[603] drangen die Deutschen vor. Auch die Schützen warfen sich aus dem Hause hervor auf die Treppe und die Straße. Der Haufe der polnischen Flintenträger geriet in Unordnung, einige der Beherzten schossen ihre Gewehre ab, auch aus den Reihen der Angreifer fielen einzelne Schüsse. Die übrigen Sensen fielen zusammen und die Sensenmänner zerstreuten sich zuerst in wilder Flucht, gleich darauf flohen die mit den Gewehren. Die Deutschen stürmten ihnen nach, noch einige Schüsse wurden abgefeuert, die Flüchtigen wurden rund um den Markt gejagt, einzelne versteckten sich in den Häusern, andere liefen zum Stadttor hinaus. Der Trommler schritt um den ganzen Marktplatz und schlug Alarm. Von allen Seiten kamen jetzt bewaffnete Bürger herzugerannt, auch die säumigen Schützen erschienen einer nach dem andern. Der Hauptmann übergab seinen Gefangenen einigen handfesten Leuten und rief, die Glückwünsche seiner Freunde mit der Hand abwehrend: »Der Dienst vor allem, meine Herren! Das wenigste ist, daß wir die Tore schließen und besetzen. Wo ist der Kapitän unserer Bundesgenossen?«

Anton trat hinzu. »Herr Kamerad«, sagte der wackere Fleischer staunend, »ich denke, wir sammeln unsere Leute, wir halten eine Musterung und teilen die Wachen ein.«

Die einzelnen Korps stellten sich auf dem Markte auf, zuerst die Schützen, daneben unter Anführung des Försters die Landleute, auf der andern Seite eine Schar Freiwilliger, die sich fortwährend vergrößerte. Es war eine lange Reihe, und mit Stolz sahen die von Rosmin, wie stark sie waren. Der Hauptmann ließ schwenken und in Zügen vorbeimarschieren. Darauf wurde der Wachdienst eingeteilt, die Tore besetzt und Ehrenwachen vor die Ämter gestellt, halb Bürger, halb Landleute. Die heruntergerissenen Wappen wurden gesäubert, eifrige Frauenhände trugen aus den Gärten der Stadt die ersten Blumen zusammen und schmückten die Wappenbilder mit Kränzen und Gewinden. In feierlichem Zuge wurden sie an das Steueramt und die Post getragen, die ganze Mannschaft marschierte auf, präsentierte das Gewehr, und der Hauptmann brachte eine Anzahl patriotischer Hochs aus, welche von vielen hundert Kehlen nachgerufen wurden. Anton stand zur Seite, und als er die Frühlingsblumen auf dem Wappen sah, fiel ihm aufs Herz, wie er heut morgen gezweifelt[604] hatte, ob er in diesem Jahre welche erblicken werde. Jetzt glänzten ihre Farben so lustig auf dem Schildzeichen seines Vaterlandes. Aber was hatte er seit dem Morgen erlebt?

Aus seinem Sinnen wurde er durch den Hauptmann geweckt, der ihn auf das Rathaus in den Ausschuß einlud, welcher sich für die Sicherheit der Stadt gebildet hatte. So sah er sich auf einmal in der Ratsstube vor dem grünen Tisch mitten unter fremden Männern, als einer der Ihrigen. Bald hatte er eine Feder in der Hand und schrieb einen Bericht über die Ereignisse des Tages an die Behörde. Der Ausschuß entwickelte große Tätigkeit, Boten wurden an das nächste Militärkommando abgesandt, die Häuser Verdächtiger wurden nach Flüchtlingen durchsucht, für die Landleute, welche sich bereit erklärt hatten, bis zum Abend in der Stadt zu bleiben, wurde durch freiwillige Beiträge der Bürger Speise und Trank besorgt, Patrouillen wurden nach allen Richtungen ausgeschickt, einzelne Gefangene verhört, und die Nachrichten, welche jetzt aus der Nachbarschaft einliefen, gesammelt. Von allen Seiten kamen Meldungen. Aus mehreren Dörfern waren polnische Banden auf dem Wege zur Stadt, in dem Nachbarkreise war in ähnlicher Weise ein Aufstand versucht worden, und dort war er geglückt, die Stadt war in den Händen der polnischen Jugend, die Flüchtlinge erzählten von Plünderung, von Fanalen, welche durch das ganze Land brannten, von einem allgemeinen Aufstande der Polen und von dem Gemetzel, das sie unter den Deutschen anfangen wollten. Die Gesichter der von Rosmin wurden länger, die Siegesfreude, welche durch einige Stunden in dem Rathaussaal geherrscht hatte, wich der Sorge um eine gefahrvolle Zukunft. Einige sprachen davon, daß die Stadt sich mit dem gefangenen Herrn von Tarow verständigen müsse, weil man der Bürger selbst nicht sicher sei, viele polnisch Gesinnte säßen innerhalb der Mauern, auch feindliche Gewehre wären noch versteckt. Doch wurden die Furchtsamen durch den kriegerischen Mut der Majorität überstimmt. Es ward beschlossen, die Nacht über in Waffen zu bleiben und die Stadt gegen fremde Banden zu halten, bis Militär hereinkomme.

So kam der Abend heran. Da verließ Anton, beunruhigt durch die zahlreichen Gerüchte von Plünderungen auf dem offenen Lande, den Sitzungssaal des Rathauses und schickte den Schulz[605] aus, um die Deutschen aus ihrer Gegend zum gemeinschaftlichen Abmarsch zu sammeln. Zwischen dem Schützenhauptmann und dem Schlosser schritt er unter dem Gerassel der Trommel und einem dreimaligen Hoch der Bürgerschützen mit seinen Leuten durch das Tor bis zu den letzten Häusern der Vorstadt. Dort an der hölzernen Brücke, welche über den Bach führt, nahmen die Städter und die vom Lande brüderlich Abschied.

»Ihr Wagen ist der letzte, der heut hinüber soll«, sagte der Schlosser, »wir brechen hinter Ihnen die Bohlen von der Brücke und stellen einen Posten daneben.« Und der Hauptmann zog seinen Hut und sagte: »Im Namen der Stadt und einer löblichen Bürgerschützenkompagnie bedanke ich mich für die freundliche Hilfe bei euch allen. Wenn eine schwere Zeit kommt, wie wir alle fürchten, so wollen wir Deutsche immer zusammenhalten.«

»Das Wort soll gelten«, rief der Schulz, und die Landleute riefen es nach.

So zogen die Landleute hinaus auf die dunkle Ebene. Anton ließ seinen Wagen langsam nachfahren und ging mit dem Haufen zu Fuß. Der Förster zog einige junge Burschen, welche die erbeuteten Gewehre trugen, aus dem Trupp und formierte sie zu einer Avantgarde. Der Schmied von Kunau, der jeden Mann aus dem Kreise kannte, stellte das vor, was der Förster die Spitze nannte. Alle Gebüsche und unsichere Stellen wurden sorgsam abgesucht, einzelne Leute, die ihnen aufstießen, wurden angehalten und ausgefragt. Sie hörten vieles Gefährliche, fanden aber ihren Weg durch keinen Haufen verlegt. So schritten die Männer im ernsten Gespräch vorwärts. Alle fühlten sich gehoben durch ihr Tun an diesem Tage, aber keiner verbarg sich, daß dies erst der Anfang sei, und daß noch Schweres nachfolgen werde. »Wie sollen wir vom Lande die Zeit ertragen?« sagte der Schulz, »die in der Stadt haben ihre Mauern und wohnen dicht aneinander, wir aber sind der Rachgier jedes Bösewichtes ausgesetzt, und wenn ein halbes Dutzend Landstreicher mit Flinten in das Dorf kommt, so sind wir geliefert.«

»Es ist wahr«, sagte Anton, »vor den großen Scharen können wir uns nicht hüten, und der einzelne muß in solcher Zeit ertragen, was der Krieg ihm auferlegt, aber die großen Haufen, welche unter dem Kommando von festen Befehlshabern stehen, sind für[606] uns auch nicht das schlimmste. Das ärgste sind die Banden von schlechtem Gesindel, die sich zusammenrotten, die Brandstifter und Plünderer, und gegen solche müssen wir uns von heut ab zu verteidigen suchen. Haltet euch morgen zu Hause, ihr von Neudorf und Kunau, und beschickt mit euren Boten die andern Deutschen in der Nähe, welche zu uns halten. Morgen bei guter Zeit komme ich zu euch hinüber, dort laßt uns beraten, ob wir etwas tun können für unsre Sicherheit.«

So kamen die Männer an den Kreuzweg, wo der Weg nach dem Schlosse abgeht durch den herrschaftlichen Wald. Anton stand mit dem Schulzen und dem Schmied noch eine Weile in Beratung zusammen, dann grüßten sich die drei wie alte Freunde, und jeder Haufen eilte nach seinem Dorfe.

Anton bestieg seinen Wagen und nahm den Förster mit sich, damit dieser zur Nacht das Schloß bewachen helfe. Mitten im Walde wurden sie durch ein lautes »Halt! Wer da?« angerufen.

»Karl!« rief Anton erfreut. »Hurra, hurra, er lebt!« rief Karl außer sich vor Freude und sprengte an den Wagen. »Sind Sie auch unverwundet?« – »Ich bin es«, erwiderte Anton; »wie steht's auf dem Schlosse?«

Jetzt begann ein schnelles Erzählen. »Daß ich nicht dabei war!« rief Karl einmal über das andere.

Als sie beim Schloß vorfuhren, flog eine helle Gestalt auf den Wagen zu. »Fräulein Lenore!« rief Anton herunterspringend.

»Lieber Wohlfart!« rief Lenore und faßte seine beiden Hände. Sie legte sich einen Augenblick auf seine Schulter, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Anton hielt ihre Hand fest und sagte, indem er ihr mit zärtlicher Teilnahme in die Augen sah: »Es kommt eine schreckliche Zeit, ich habe den ganzen Tag an Sie gedacht.«

»Da wir Sie wiederhaben«, sagte Lenore, »will ich alles ruhig anhören, kommen Sie schnell zum Vater, er vergeht vor Ungeduld.« Sie zog ihn die Treppe hinauf.

Der Freiherr öffnete die Tür und rief Anton auf dem Gang entgegen: »Was bringen Sie?«

»Krieg, Herr Freiherr«, antwortete Anton ernst, »den häßlichsten aller Kämpfe habe ich gesehen, blutigen Krieg zwischen Nachbar und Nachbar. Das Land ist im Aufstand.«[607]

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 584-609.
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