10

[306] An einem Nachmittage brachte der Briefbote einen schwarzgesiegelten Brief an Finks Adresse. Fink öffnete den Brief und ging schweigend auf sein Zimmer. Als er nicht wieder herunterkam, eilte Anton besorgt zu ihm hinauf. Er fand Fink auf dem Sofa sitzend, den Kopf auf die Hand gestützt.

»Du hast eine traurige Nachricht erhalten?« fragte Anton.

»Mein Oheim ist gestorben«, erwiderte Fink, »er, vielleicht der reichste Mann der Wallstreet in New York, ist auf einer Geschäftsreise mit der Maschine eines Mississippiboots in die Luft geflogen. Er war ein unzugänglicher Mann; mir hat er in seiner Art viel Güte erzeigt, und ich habe ihm als törichtes Kind mit Undank vergolten. Dieser Gedanke macht mir seinen Tod bitter. Außerdem wird das Fakt entscheidend für meine Zukunft.«[306]

»Du willst fort von uns?« fiel Anton erschrocken ein.

»Ich werde morgen abreisen. Mein Vater ist zum Universalerben des Verstorbenen ernannt, mir hat dieser seinen Landbesitz in den westlichen Vereinsstaaten als Legat vermacht. Mein Oheim war ein großer Landspekulant, und es gilt jetzt schwierige und verworrene Verhältnisse zu lösen. Deshalb will mein Vater, daß ich so schnell als möglich nach New York gehe, und auch ich merke, daß die persönliche Anwesenheit der Erben dort nötig ist. Mein Vater hat auf einmal ein großes Zutrauen zu meiner Umsicht und Geschäftskenntnis bekommen. Lies selbst seinen Brief.«

Anton zögerte den Brief zu nehmen. »Lies, Anton«, sagte Fink mit trübem Lächeln, »in meiner Familie schreiben Vater und Sohn einander keine Geheimnisse.« Anton sah auf eine Stelle: »Die vortrefflichen Zeugnisse, welche Herr Schröter mir über Deinen praktischen Sinn und Deinen Scharfblick im Geschäft eingesendet hat, veranlassen mich, Dich zu ersuchen, daß Du selbst hinübergehst. Ich würde Dir in diesem Fall Herrn Westlock aus unserem Geschäft zur Hilfe mitgeben.«

Anton legte den Brief schweigend auf den Tisch, und Fink frug: »Was sagst du zu dem Lob, welches mir der Prinzipal so freigebig erteilt? Wie du weißt, habe ich einigen Grund zu glauben, daß ich nicht in seiner Gunst stehe.«

»Und doch halte ich das Lob für gerecht und sein Urteil für richtig«, erwiderte Anton.

»Gleichviel aus welchen Gründen es gegeben ist«, erwiderte Fink, »es entscheidet mein Schicksal. Ich werde jetzt, was ich mir lange gewünscht habe, Grundbesitzer jenseits des Wassers. – Auch wir müssen uns trennen, lieber Anton«, fuhr er fort und hielt dem Freund die Hand hin, »ich habe nicht geglaubt, daß das so schnell kommen würde. Doch wir sehen uns wieder.«

»Vielleicht«, sagte Anton traurig und hielt die Hand des jungen Erben fest. »Jetzt aber geh zu Herrn Schröter, er hat das erste Anrecht, zu erfahren, daß du uns verlassen willst.«

»Er weiß es bereits«, sagte Fink, »auch er hat einen Brief meines Vaters erhalten.«

»Um so mehr wird er erwarten, daß du mit ihm sprichst.«

»Du hast recht, laß uns gehen!«[307]

Anton eilte auf seinen Platz zurück, und Fink trat in das kleine Zimmer des Prinzipals hinter dem zweiten Comtoir. Der Kaufmann kam ihm ernst entgegen und sagte, nachdem er in würdiger Weise seine Teilnahme ausgedrückt hatte: »Es versteht sich, daß von dieser Stunde an Ihr Verhältnis zu meinem Geschäft gelöst ist; während der Tage, welche Sie noch hier zubringen, bitte ich Sie, sich als einen Gast meines Hauses zu betrachten, dem ich für seine Tätigkeit in meinem Interesse zu vielem Dank verpflichtet bin. Nehmen Sie Platz, Herr von Fink, und lassen Sie uns ruhig besprechen, womit ich Ihnen etwa noch dienen kann.«

Fink sagte vom Sofa aus mit ebenso großer Artigkeit: »Die Bestimmungen, welche mein Vater über meine Zukunft getroffen hat, stimmen so sehr mit dem zusammen, was ich mir selbst für meine künftige Tätigkeit gewünscht habe, daß ich Ihnen darüber meinen Dank aussprechen muß. Ihre Urteile über mich sind günstiger gewesen, als ich es nach manchem, was vorgefallen ist, erwartet habe. Waren Sie in der Tat zufrieden mit mir, so wird es mich freuen, wenn ich aus Ihrem Munde dasselbe höre.«

»Ich war es nicht ganz, Herr von Fink«, erwiderte der Kaufmann mit Haltung, »Sie waren hier nicht an Ihrem Platz. Das durfte mich nicht verhindern, zu beurteilen, daß Sie für eine andere, immerhin größere Tätigkeit vorzügliche Befähigung haben. Sie verstehen ausgezeichnet zu disponieren und die Menschen unter ihre Herrschaft zu bringen, und besitzen eine ungewöhnliche Energie des Willens. Für solche Natur ist das Pult im Comtoir nicht der rechte Ort.«

Fink verneigte sich. »Es wäre demungeachtet meine Pflicht gewesen, diese Stelle ganz auszufüllen; ich bekenne, daß ich das nicht immer getan habe.«

»Sie kamen her, ohne an eine regelmäßige Tätigkeit gewöhnt zu sein, und haben sich in den letzten Monaten nur noch sehr wenig von einem fleißigen Comtoiristen unterschieden. Deshalb und weil ich die Überzeugung habe, daß Sie Ihrem Wesen nach nicht sowohl zum Kaufmann als zum Fabrikanten passen, habe ich Ihrem Herrn Vater so über Sie berichtet, wie ich berichtet habe.«

»Sie halten mich für geeignet Fabrikant zu werden?« frug Fink[308] mit einer Verbeugung, welche für die gute Meinung danken sollte.

»Im weitesten Sinne des Wortes«, erwiderte der Kaufmann. »Jede Tätigkeit, welche neue Werte schafft, ist zuletzt Tätigkeit des Fabrikanten; sie gilt überall in der Welt für die aristokratische. Wir Kaufleute sind dazu da, diese Werte populär zu machen.«

»In diesem Sinne lasse ich Ihre Ansicht gern gelten«, antwortete Fink und erhob sich von seinem Platz.

»Ihr Abgang wird für einen unserer Freunde ein großer Verlust sein«, sprach der Kaufmann, den Erben begleitend.

Fink blieb stehen und sagte schnell: »Geben Sie mir ihn mit nach Amerika. Er hat das Zeug, dort sein Glück zu machen.«

»Haben Sie bereits mit ihm darüber gesprochen?« fragte der Kaufmann.

»Nein«, sagte Fink.

»So will ich Ihnen mein Bedenken nicht verhehlen; Wohlfart ist jung, und die bescheidene und regelmäßige Tätigkeit des Binnengeschäfts erscheint mir noch auf Jahre hinaus für die Bildung seines Charakters wünschenswert. Übrigens wissen Sie, daß ich durchaus kein Recht habe, den freien Entschluß desselben zu bestimmen. Ich werde ihn ungern verlieren, wenn er aber die Überzeugung hat, in Ihrer Nähe schneller sein Glück zu machen, so werde ich nichts dagegen einwenden.«

»Gestatten Sie mir, ihn sogleich darüber zu fragen«, sagte Fink.

Er rief Anton in das Comtoir und sagte zu ihm: »Anton, ich habe Herrn Schröter gebeten, dich mit mir zu entlassen. Es würde mir viel wert sein, dich mitzunehmen; du weißt, daß ich an dir hänge, wir werden in den neuen Verhältnissen zusammen tüchtig vorwärtskommen, du selbst sollst die Bedingungen festsetzen, unter denen du mit mir gehst. Herr Schröter überläßt deinem freien Entschluß die Entscheidung.«

Anton stand betroffen und nachdenkend; die Bilder der Zukunft, welche sich so plötzlich vor ihm aufrollten, erschienen ihm sehr lachend, aber er faßte sich schnell, sah auf den Prinzipal und fragte diesen: »Sind Sie der Meinung, daß ich gut tue, wenn ich gehe?« –[309] »Nicht ganz, lieber Wohlfart«, erwiderte der Kaufmann ernst.

»Dann bleibe ich«, sagte Anton entschlossen. »Zürne mir nicht, daß ich dir nicht folge, ich bin eine Waise und habe jetzt keine andere Heimat als dies Haus und dies Geschäft; ich will, wenn Herr Schröter mich behalten will, bei ihm bleiben.«

Durch diese Worte fast gerührt, sagte der Kaufmann: »Denken Sie aber auch daran, daß Sie mit diesem Entschluß vieles aufgeben. In meinem Comtoir können Sie weder ein reicher Mann werden, noch das Leben in großen Verhältnissen kennenlernen; unser Geschäft ist begrenzt, und es werden wohl die Tage kommen, wo die Beschränkung desselben auch Ihnen peinlich erscheinen wird. Alles, was eine Selbständigkeit Ihrer Zukunft sichert, Vermögen und Bekanntschaften, vermögen Sie drüben leichter zu erwerben, als bei mir.«

»Mein guter Vater hat mir oft gesagt: Bleibe im Lande und nähre dich redlich. Ich will nach seinen Worten leben«, antwortete Anton mit einer Stimme, die vor innerer Bewegung leise klang.

»Er ist und bleibt ein Philister«, rief Fink in einer Art von Verzweiflung.

»Ich glaube, daß dieser Bürgersinn eine sehr respektable Grundlage für das Glück des Mannes ist«, sprach der Kaufmann, und die Sache war abgemacht.

Fink sprach nicht weiter über den Vorschlag, und Anton bemühte sich, durch zahlreiche kleine Aufmerksamkeiten dem scheidenden Freunde zu zeigen, wie lieb er ihm sei und wie schwer ihm der Abschied werde.

Am Abend sagte Fink zu Anton: »Höre, mein Sohn, ich habe Lust, mir eine Frau mit hinüber zu nehmen.«

Erschrocken sah Anton den Freund an, und wie einer, der eine mächtige Erschütterung sich und dem andern verbergen will, fragte er in gezwungenem Scherz: »Wie? du willst Fräulein von Baldereck –«

»Nichts da«, rief Fink mutwillig, »was soll ich mit einer Frau machen, die keine anderen Gedanken hat, als sich mit dem Geld ihres Mannes zu amüsieren?«

»An wen denkst du denn sonst? Du willst doch nicht der Tante vom Geschäft deinen Antrag machen?«[310]

»Nein, mein Schatz, aber dem Fräulein vom Hause.«

»Um alles nicht«, rief Anton bestürzt aufspringend, »das wird eine schöne Geschichte werden.«

»Gar nicht«, versetzte Fink kaltblütig, »entweder nimmt sie mich, und dann werde ich ein wohlberatener Mann, oder sie nimmt mich nicht, dann werde ich ohne Frau abreisen.«

»Du wirst ohne Frau abreisen?« rief Anton. »Hast du denn je daran gedacht, Fräulein Sabine für dich zu wählen?« fragte er unruhig.

»Zuweilen«, sagte Fink, »im letzten Jahr oft, sie ist die beste Hausfrau und das edelste, uneigennützigste Herz von der Welt.«

Anton sah erstaunt auf seinen Freund. Nie hatte Fink durch eine Andeutung verraten, daß ihm Sabine mehr gelte als eine andere Dame seiner Bekanntschaft. »Aber du hast mir ja nie etwas davon gesagt?«

»Hast du mir etwas von deinen Empfindungen für eine andere junge Dame erzählt?« antwortete Fink lachend.

Anton errötete und schwieg.

»Daß sie mich wohl leiden mag, glaube ich«, fuhr Fink fort, »ob sie mit mir geht, weiß ich nicht; dies wollen wir sogleich erfahren; ich gehe jetzt hinunter, sie zu fragen.«

Anton sprang zwischen seinen Freund und die Tür: »Noch einmal beschwöre ich dich, überlege, was du tun willst.«

»Was ist da zu überlegen, du Kindskopf«, lachte Fink, aber eine ungewöhnliche Hast wurde in seinen Gebärden sichtbar.

»Liebst du denn Fräulein Sabine?« fragte Anton.

»Das ist wieder eine spießbürgerliche Frage«, versetzte Fink. »Meinetwegen ja, ich liebe sie!«

»Und du willst sie mitnehmen in die Ansiedelungen und Wälder?«

»Gerade deshalb will ich sie heiraten; sie wird ein hochherziges starkes Weib sein, sie wird meinem Leben Halt und Adel geben. Sie ist nicht liebenswürdig, wenigstens ist nicht so bequem mit ihr zu plaudern wie mit mancher andern, aber wenn ich mir ein Weib nehme, so brauche ich eins, das mich übersehen kann, und glaube mir, der Schwarzkopf ist dazu gemacht! Jetzt aber laß mich los, ich muß erfahren, wie ich daran bin.«[311]

»Sprich nur erst mit dem Prinzipal«, rief Anton dem Stürmenden nach.

»Zuerst mit ihr«, sagte Fink und sprang die Treppe hinab.

Anton ging mit gefalteten Händen die Stube auf und ab; alles, was Fink an Fräulein Sabine rühmte, hatte guten Grund, das fühlte er lebhaft, er wußte, daß sie ihn tief im Herzen trug, aber er ahnte auch, daß sein Freund mit unbekannten Hindernissen zu kämpfen habe. Und diese Hast, dies Überstürzen war ihm unheimlich, es war zu sehr gegen seine eigene Natur. Und noch etwas mißfiel ihm. Fink hatte nur von sich gesprochen, hatte er denn auch an das Glück des Fräuleins gedacht, hatte er auch Sinn dafür, was es sie kosten würde, den geliebten Bruder zu verlassen, aus der Heimat zu scheiden, sich in ein fremdes Volk, vielleicht in ein wildes Leben zu wagen? Ja, er war überzeugt, Fink war der Mann, alle Blüten der Neuen Welt vor ihre Füße zu streuen, aber er war auch unruhig, stets viel beschäftigt, würde er immer ein Herz haben für die Gefühle seiner deutschen Frau? Unwillkürlich nahm unser Held in Gedanken wieder Partei gegen seinen Freund; es schien ihm, als dürfe Sabine nicht fort aus der Handlung, er fühlte tief die Leere, welche entstehen würde, wenn sie verschwunden wäre, vom Mittagstisch, aus dem Haushalt, und vor allem aus dem Leben ihres Bruders. So ging er unruhig und kummervoll auf und ab. Es wurde dunkel, aus den gegenüberliegenden Fenstern fiel ein matter Lichtschein in das finstere Zimmer, und immer noch kam Fink nicht zurück.

Unterdes ward Fink bei Sabine gemeldet. Sie kam ihm hastig entgegen, und ihre Wangen waren röter als gewöhnlich, als sie ihm sagte: »Mein Bruder hat mir gesagt, daß Sie uns verlassen müssen.«

Fink begann in lebhafter Bewegung: »Ich muß, ich kann aber nicht scheiden, ohne offen gegen Sie gewesen zu sein. Ich kam hierher ohne Interesse an dem stillen Leben, welches meinem zerstreuten Geist ungewohnt war; ich habe hier das Glück und die Innigkeit eines deutschen Haushaltes kennengelernt. Sie, mein Fräulein, habe ich immer als den guten Geist dieses Hauses verehrt. Sie haben mich bald nach meinem Eintritt in einer Entfernung zu halten gesucht, welche mir oft schmerzlich war. Ich komme, Ihnen jetzt zu sagen, wie sehr mein Blick und meine[312] Seele an Ihnen gehangen hat; ich fühle, daß mein Leben glücklich sein würde, wenn ich Ihre Stimme immerfort hören, und wenn Ihr Geist den meinen begleiten könnte auf den Wegen meiner Zukunft.«

Sabine wurde sehr bleich und trat zurück. »Sprechen Sie nicht weiter, Herr von Fink«, sagte sie bittend und bewegte halb bewußtlos die Hand, als wollte sie abwehren, was ihr bevorstand.

»Lassen Sie mich aussprechen«, fuhr Fink schnell fort; »ich würde es für mein höchstes Glück halten, wenn ich die Überzeugung mit mir nehmen könnte, daß auch ich Gnade vor Ihren Augen gefunden habe. Ich habe nicht die Anmaßung, Sie zu bitten, daß Sie mir jetzt folgen sollen in ein ungewisses Leben, aber geben Sie mir die Hoffnung, daß ich in einem Jahr zurückkehren und Sie bitten darf, mein Weib zu werden.«

»Kehren Sie nicht zurück«, sagte Sabine unbeweglich wie eine Statue mit kaum vernehmbarer Stimme; »ich beschwöre Sie, machen Sie diesem Gespräch ein Ende.«

Ihre Hand faßte krampfhaft die Lehne des nächsten Sessels, sie hielt sich daran fest und stand ohne einen Tropfen Blut in den Wangen vor dem Flehenden; aber sie sah ihn durch ihre Tränen unverwandt an, mit einem Blick so voll Schmerz und Zärtlichkeit, daß der wilde Mann ganz aufgelöst wurde und in der Sorge um ihre Bewegung all sein Selbstvertrauen, ja seine Werbung vergaß und nur die Absicht hatte, sie zu beruhigen.

»Ich fühle großes Bedauern, daß ich Sie so erschreckt habe«, sagte er; »verzeihen Sie mir, Sabine!« –

»Gehen Sie«, sagte Sabine noch unbeweglich mit rührender Bitte.

»Lassen Sie mich nicht ohne einen Trost von Ihnen scheiden, geben Sie mir eine Antwort; auch die schmerzlichste ist besser als dieses Schweigen.« –

»So hören Sie«, sprach Sabine mit einer unnatürlichen Ruhe, während ihre Brust sich hob und ihre Hand zitterte. »Ich bin Ihnen gut gewesen seit dem ersten Tage Ihrer Ankunft; als ein kindisches Mädchen habe ich mit Entzücken auf den Ton Ihrer Stimme gehört und auf das, was Ihr Mund so einschmeichelnd schilderte. Aber ich habe das Gefühl bekämpft. Ich habe es bekämpft«,[313] wiederholte sie. »Ich darf Ihnen nicht angehören, denn es würde mein Unglück sein.« –

»Weshalb?« frug Fink in aufrichtiger Verzweifelung. –

»Fragen Sie mich nicht«, sagte Sabine kaum vernehmlich.

»Ich muß aus Ihrem Munde mein Urteil hören«, rief Fink.

»Sie haben gespielt mit Ihrem eigenen Leben und mit dem Leben anderer; Sie werden einst schonungslos handeln für Ihre Pläne. Sie werden Großes und Edles unternehmen, das glaube ich; aber die Menschen werden Ihnen dabei nichts gelten. Ich kann einen solchen Sinn nicht ertragen. Sie würden gütig gegen mich sein, das glaube ich, Sie würden mich überall schonen, aber Sie würden mich immer schonen müssen, und das würde Ihnen eine Last werden; und ich, ich wäre in der Fremde allein. – Ich bin weich, ich bin verwöhnt, mit hundert Fäden bin ich festgebunden an den Brauch dieses Hauses, an die kleinen Pflichten des Haushalts und an das Leben des Bruders.«

Fink sah finster vor sich nieder. »Sie strafen in dieser Stunde streng, was Ihnen an mir mißfallen hat.«

»Nein«, rief Sabine die Hand gegen ihn ausstreckend, »nicht so, mein Freund! Wenn ich Stunden hatte, wo Sie mir Schmerz machten, ich hatte ebenso viele, wo ich mit Bewunderung zu Ihnen aufsah. Und sehen Sie, das eben ist es, was uns für immer auseinanderhält. Ich kann nicht ruhig werden in Ihrer Nähe, immer fühle ich mich aus einem Gefühl in das andere geschleudert, jetzt in banger Scheu und wieder in mächtiger Freude. Ich bin unsicher Ihnen gegenüber, und das würde ewig so bleiben. Ich müßte diesen Kampf in mir verbergen, in einem Verhältnis, wo ich mich mit all meinem Gefühl an Sie anschließen sollte. Und Sie würden das erkennen und würden mir deshalb zürnen.«

Sie reichte ihm die Hand hin, Fink beugte sich tief auf die kleine Hand und drückte einen Kuß darauf.

»Segen über Ihre Zukunft«, sagte Sabine, am ganzen Körper bebend. »Wenn Sie eine Stunde hatten, wo Sie gern unter uns waren, so denken Sie in der Fremde daran. Wenn Sie in dem deutschen Bürgerhaus, in dem Tun meines Bruders je etwas gefunden haben, was Ihnen ehrenwert erschien, o so denken Sie in der Fremde daran. In dem großartigen Leben, das Sie erwartet, unter den mächtigen Versuchungen, in dem wilden Kampf, den Sie[314] führen werden, denken Sie niemals gering von unserer Art zu sein.« Sie hielt die Rechte über sein Haupt, wie eine Mutter, welche angstvoll den scheidenden Liebling segnet.

Fink hielt ihre Hand fest. Beide sahen einander stumm in die Augen, beide mit erblichenen Wangen. Endlich rief Fink mit tiefem Tonfall seiner melodischen Stimme: » Leben Sie wohl!« –

»Leben Sie wohl!« sagte das Mädchen leise, so leise, daß Fink kaum die Worte verstand. Er schritt langsam über die Türschwelle, sie sah ihm unverwandt nach, wie man einer Erscheinung nachsieht. –

Als der Kaufmann nach dem Schluß des Geschäfts in das Zimmer seiner Schwester trat, flog ihm Sabine entgegen, drückte sich fest an ihn und legte ihren Kopf an seine Brust. »Was hast du, Mädchen?« frug der Bruder besorgt und strich ihr das Haar von der feuchten Stirn.

»Fink war bei mir«, rief Sabine sich erhebend, »ich habe mit ihm gesprochen.«

»Worüber? Hat er dir einen Antrag gemacht? Ist er unartig gewesen?« frug der Kaufmann scherzend.

»Er hat mir einen Antrag gemacht«, sagte Sabine.

Der Kaufmann trat erschrocken zurück. »Und du, meine Schwester?« –

»Ich habe getan, was du von mir erwarten konntest; ich werde ihn nicht wiedersehen.« Dabei stürzten ihr die Tränen aus den Augen, sie ergriff die Hand des Bruders und küßte sie: »Sei nicht böse, daß ich weine, ich bin noch angegriffen, es wird vorübergehen.« –

»Meine holde Schwester, liebe, liebe Sabine!« rief der Kaufmann und umfaßte die gebeugte Gestalt der Weinenden, »ich will nicht fürchten, daß du an mich gedacht hast, als du die Hand des reichen Erben ausschlugst.« –

»Ich dachte an dich und dein aufopferndes, pflichtgetreues Leben, und seine glänzende Gestalt verlor die schönen Farben, in denen ich sie wohl sonst gesehen hatte.« –

»Sabine, du hast mir ein Opfer gebracht«, rief der Bruder erschrocken. –

»Nein, Traugott, wenn es ein Opfer war, so habe ich es diesem Hause gebracht, in dessen Räumen ich unter deinem Schutze aufgewachsen[315] bin, und dem Andenken an unsere guten Eltern, deren Segen über unserem bescheidenen Leben ist.«

Es war spät, als Fink in Antons Zimmer trat, er sah erhitzt aus, setzte den Hut auf den Tisch und sich auf das Sofa und sagte zum Freunde: »Vor allem gib mir eine Zigarre.«

Kopfschüttelnd trug Anton ein Bündel herzu und frug: »Nun, wie sieht's aus?« –

»Hochzeit wird nicht«, erwiderte Fink kalt. »Sie erklärte mir, ich sei ein kleiner Taugenichts und keine annehmbare Partie für ein anständiges Mädchen. Sie nahm die Sache wieder zu gefühlvoll, versicherte mich ihrer Hochachtung, gab mir eine Silhouette von meinem Wesen und entließ mich. Aber der Teufel soll mich holen«, rief er aufspringend und warf die Zigarre in eine Ecke, »wenn sie nicht die beste Seele ist, die je in einem Unterrocke Tugend gepredigt hat: sie hat nur den einen Fehler, daß sie mich nicht heiraten will; und zuletzt hat sie auch darin recht.«

Das Heftige in der Laune des Freundes machte Anton besorgt. »Wo bist du aber so lange gewesen und woher kommst du jetzt?«

»Nicht aus dem Weinhaus, wie deine Weisheit anzunehmen scheint. Wenn jemand einen Korb erhält, so hat er doch wohl das Recht, ein paar Stunden melancholisch zu sein; ich habe mich benommen, wie sich jeder in solchen verzweifelten Fällen benimmt, ich bin einige Zeit umhergelaufen und habe philosophiert. Ich habe mit der Welt gegrollt, d.h. mit mir selbst und dem Schwarzkopf, und habe zuletzt damit aufgehört, daß ich vor einer bunten Lampe stehenblieb und einer Hökerin diese Orangen abkaufte.« Bei diesen Worten zog er einige Früchte aus der Tasche. – »Jetzt aber, mein Sohn, ist die Vergangenheit abgetan, jetzt laß uns von der Zukunft reden, es ist der letzte Abend, den wir miteinander zubringen, an dem soll keine Wolke über unseren Seelen sein. Mache mir ein Glas Punsch und drücke die dicken Geschöpfe hinein. Orangenpunsch ist eine von deinen Forcen, die du mir verdankst. Ich habe dich's gelehrt, und du Schelm machst ihn jetzt besser als ich. Komm! und setze dich her zu mir.«

Am andern Tage kam Vater Sturm in eigener Person auf das Zimmer des jungen Erben, um seine Reisekoffer in die Droschke zu tragen. Anton hatte den Morgen über mit Fink eingepackt und[316] sich so über die bangen Empfindungen weggeholfen, welche den zurückbleibenden Freund mehr bewegten, als den Scheidenden.

Fink faßte Antons Hand und sagte: »Bevor ich das Handschütteln mit den übrigen durchmache, wiederhole ich, was ich in den ersten Tagen zu dir gesagt habe: Treibe dein Englisch fort, damit du mir nach kommen kannst. Und wo ich auch sein mag, in einer Kajüte oder im Blockhaus, für dich werde ich stets einen Raum offenhalten. Sobald dir diese alte Welt mißfällt, komm zu mir! Unterdes sei überzeugt, daß ich aufhöre, dumme Streiche zu machen. Und jetzt keine Rührung, mein Junge, es gibt keine große Entfernung mehr auf Erden.« Er riß sich los und eilte in das Comtoir, stand noch einen Augenblick seinem Prinzipal gegenüber, und es war für Anton eine Freude zu sehn, wie die beiden so verschiedenen Männer, die große breitschultrige Gestalt des Bürgers und die zierliche Figur des Aristokraten, nebeneinander standen. Noch einen Gruß an die Damen warf Fink in das Haus zurück, zog den Freund noch einmal an die Brust und sprang in den Wagen, fort in die Neue Welt.

Anton aber ging traurig in sein Comtoir zurück und schrieb einen Brief an Herrn Stephan in Wolfsburg, worin er dem ehrenwerten Mann eine neue Warenliste und Zuckerproben übermachte.

Anton fühlte den Verlust seines Freundes lange Zeit sehr schmerzlich. Er blieb in den ersten Tagen vor Finks Tür stehen, weil er das fröhliche Lachen desselben zu hören glaubte, oft sah er im Comtoir von seinem Sitze auf, um sich an Finks spöttischer Miene zu erfreuen und einen schnellen Blick des Einverständnisses mit ihm auszutauschen.

Seine Stellung im Haushalt wurde durch den Abgang des Freundes außerordentlich geändert. Das ging so zu: Herr Liebold hätte jetzt bei Tische neben der Tante sitzen müssen, wenn es nach Rang und Würde gegangen wäre. So war es auch früher gewesen, und Fink war zwischen ihn und die Tante eingeschoben worden. Es ist für einen wahrheitsliebenden Chronisten schmerzlich zu berichten, daß Herr Liebold über diesen Einschub aufs höchste erfreut war, indem er behauptete, es sei sehr angenehm, neben Damen zu sitzen, und kein Mensch verstehe besser weiblichen Umgang zu schätzen, als er; aber zuweilen sei eine[317] nahe Nachbarschaft doch sehr unbequem, zumal alle Tage und besonders beim Essen und außerdem, wenn die Dame über das Zeitalter der jugendlichen Torheiten hinaus sei. Diesen letzten Grund seiner Abneigung gestand er aber nur seinen vertrautesten Freunden, und seine Gegner, zu denen der Kassierer gehörte, behaupteten, er werde neben der jungen Nichte sich noch viel verlegener und unglücklicher fühlen, als neben der ruhigen Schönheit der Tante. Das Resultat war, daß im Comtoir wegen des Platzes am Mittagstisch eine stille Gärung und ein geheimes Intrigieren entstand, dessen letzter Grund, leider und zur Schande des Männergeschlechts sei es gesagt, der war, daß keiner von den Herren neben der Tante und so nahe am Prinzipal sitzen wollte. Es wurde deshalb am Abend nach Finks Abreise, während Anton einige Aufträge des Freundes besorgte, im Hinterhause großer Rat gehalten, dem Herr Jordan präsidierte. Herr Specht erklärte sich bereit, überall und neben jeder Tante der Welt zu sitzen, aber der Vorsitzende bemerkte ihm mit vieler Artigkeit, seine Gegenwart sei unten am Tische zur Belebung der Unterhaltung unentbehrlich; denn seinen gewagten Behauptungen zu widersprechen, sei der Hauptspaß seiner Nachbarn. Und als jeder einzelne der Anwesenden gegen die Ehre protestiert hatte, erklärte Herr Jordan seine Ansicht dahin, daß Wohlfart neben der Tante sitzen solle; dies scheine ihm darum passend, weil er mit Fink am meisten befreundet gewesen sei und ein gutes Temperament für ältliche Damen habe. So wurde Anton am nächsten Tage durch Dekret seiner Kollegen an den leeren Platz gerückt, nachdem dieser Beschluß durch den Bedienten in das Vorderhaus getragen war und die stille Sanktion der Damen erhalten hatte.

Noch eine Veränderung machte Anton durch. Wenige Tage nach Finks Abreise erhielt Herr Schröter einen Brief aus Hamburg, in welchem ein offner Zettel Finks an Anton lag. Fink schrieb: »Die Möbel in der Stube, welche ich bewohnt habe, gehören mir, ich mache dich hiervon, sowie von allem, was ich sonst hinterlasse, zu meinem Erben.« Das Wort »Erbe« war unterstrichen. – »Ich habe Herrn Schröter ersucht, dich in meiner Stube wohnen zu lassen.« Anton zog hinunter in das elegante Zimmer des ersten Stocks. In die zweite Stube Finks wurde Herr Baumann befördert, welcher so Antons Stubennachbar blieb. Anton[318] vergaß nicht, die gelbe Katze von seinem Schreibtisch mit hinunterzuschaffen. Die Katze erwies sich übrigens in der ganzen Zeit als verstockt und machte auf ihrem Postament keine nächtlichen Bewegungen. Vielleicht kam das daher, daß Anton bei dem stillen und tätigen Leben, das er führte, nicht mehr träumte.

Seit dieser Zeit wurde er im Comtoir Finks Erbe genannt, und diese Erbschaft wurde für ihn wichtiger, als seine Kollegen geglaubt hatten. Er saß jetzt am oberen Teil des Tisches und hatte täglich seinen bescheidenen Teil an der Unterhaltung, welche von der Familie geführt wurde. Die Tante, deren Liebling Fink gewesen war, versöhnte sich bald mit der Änderung und nahm die kleinen Aufmerksamkeiten Antons gnädig hin, und der Kaufmann richtete oft das Wort an ihn und freute sich über die verständigen, mannhaften Ansichten des Jünglings; auch Sabine gewöhnte sich, mit ihm über die Interessen des Tages zu sprechen, und ihr Auge, welches sonst den Platz hinter der Tante so eifrig gemieden hatte, ruhte jetzt mit freundlichem Glanze auf dem offenen Gesicht unseres Helden. Zwischen beiden bestand ein stilles Einverständnis, eine von den reizenden leichten Beziehungen, welche das Leben so freundlich schmücken. Sabine sah in Anton den Freund, vielleicht den Vertrauten des Geschiedenen, und Anton fühlte gegen das Fräulein eine unbegrenzte Verehrung, welche sein Benehmen so zart und rücksichtsvoll machte, daß Sabine dies zuweilen mit Rührung empfand. Er sprach bei Tische nie von Fink, obgleich sein Herz voll von ihm war, und wenn die Tante in ihrer gutmütigen Weise bei hundert kleinen Veranlassungen an Fink zu erinnern wußte, so parierte Anton mit aller Diplomatie, die er aufbringen konnte, ihre Andeutungen und wußte das Gespräch wieder in eine unbedenkliche Richtung zu bringen.

Auch im Geschäft änderte sich die Stellung Antons; er war bis dahin einer der Adjutanten des Herrn Jordan im Provinzial-Geschäft gewesen, jetzt erhielt er seinen Platz im auswärtigen Geschäft unter dem Prinzipal selbst. Dieselbe Tätigkeit, welche Fink gehabt hatte, wurde ihm zugewiesen, und er erlangte bald etwas von der Virtuosität Finks, mit Herrn Tinkeles umzugehen und die Zackelwolle aus Ungarn zu beurteilen.[319]

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 306-321.
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