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[190] Es ist eine traurige Erfahrung, daß die überirdischen Gewalten dem Menschenkind das Glück einer hochgespannten Empfindung nicht lange unverkümmert lassen. Sie haben die Sache so schlau eingerichtet, daß sich fast immer eine Saite unsres Innern abspannt, sooft sie den Wirbel einer andern zur Höhe herumdrehen. Natürlich entsteht daraus ein Mißklang. Diese schlechte Behandlung erfuhr auch Antons Seele.

Zunächst ereignete sich, daß das Comtoir fortfuhr, die Veränderung in Antons Leben mit kritischem Blick zu betrachten. Jede Art von Befremden herrschte in den verschiedenen Zimmern des Hinterhauses, in allen aber war man einig, daß sich Anton, seit er die Tanzstunde besuchte, sehr auffällig und nicht zu seinem Vorteil verändere. In Wirklichkeit war diese Veränderung nicht groß. Es ist wahr, Anton war in den Freistunden weniger mit seinen Kollegen zusammen, als sonst, er brachte viele Abende außer dem Hause zu, und wenn er einmal in Gesellschaft der Hausgenossen aushielt, so war er wohl zerstreuter, ja vielleicht übte er auch geringere Nachsicht gegen die ihm wohlbekannten kleinen Schwächen der andern Herren. Sein Verstand bewahrte ihn davor, sich wegen der plötzlichen gesellschaftlichen Erfolge zu überheben und die Kollegen durch Erzählung seiner Abenteuer zu langweilen, aber er konnte sich doch nicht enthalten, zuweilen Vergleiche anzustellen zwischen dem Ton und Benehmen seiner Umgebung, die er übersah, weil er sie genau kannte, und dem Ton und Benehmen im Salon der gnädigen Frau, der ihm imponierte,[190] weil er ihm neu war. Das Comtoir erklärte seine größere Schweigsamkeit für Stolz, seine häufige Abwesenheit für unziemlichen Leichtsinn, und er, der sonst ein Liebling des Hauses gewesen war, kam gerade deshalb in die Lage, jetzt sehr streng beurteilt zu werden. Er selbst empfand die kühlere Haltung der Gemäßigten, die auffallende Kälte der Entschiedenen als lieblose Behandlung. So kam es, daß er die Abende, an denen er keine Veranlassung hatte, auszugehen, fast nur mit Fink verlebte, und daß beide zusammen nach wenig Wochen als aristokratische Coterie den anderen Herren gegenüberstanden.

Anton wurde durch dies Verhältnis mehr gedrückt, als er sich selbst gestehen wollte; er fühlte es an seinem Arbeitspult, auf seinem Zimmer, sogar beim Mittagessen im Vorderhause. Seltener redete ihn einer seiner Kollegen an; wenn Jordan eine Auskunft forderte, wandte er sich nicht mehr an ihn, sondern an Baumann; wenn der Kassierer zur Frühstücksstunde in das vordere Comtoir kam, so trat er nicht mehr an Antons Sitz; und wenn Specht sich von seinem Platz umwandte und mitten in den kaufmännischen Korrespondenzen eine auffallende Frage an die Umsitzenden tat, so wandte er sich zwar öfter als sonst an Anton, aber es erschien diesem als keine Verbesserung seiner Situation, wenn Specht ihm flüsternd ins Ohr schrie: »Ist es wahr, daß Herr von Berg Apfelschimmel hat?« oder: »Muß man bei Frau von Baldereck lackierte Stiefel oder Schuhe tragen?« Am gewalttätigsten wurde Anton von seinem alten Gönner Pix behandelt. Übergroße Toleranz hatte niemals die Energie dieses Herrn geschwächt, und aus einem nicht recht verständlichen Grunde sah er in dem gegenwärtigen Anton eine Art Verräter am Comtoir, an der großen Waage und am Solo. Es war seine Gewohnheit, den eigenen Geburtstag so feierlich als möglich zu begehen. Er lud dann seine Vertrauten, in deren erster Reihe Anton stand, zum Abend auf sein Zimmer und setzte ihnen an diesem Tage ausnahmsweise Wein auf den Tisch und einen Napfkuchen, den er eigens beim Bäcker bestellte und den er in immer größeren Verhältnissen zu liefern bemüht war. In diesen Wochen kam wieder sein Geburtstag heran, und Anton war, obgleich Herr Pix sich in der letzten Zeit sehr schweigsam gegen ihn verhalten hatte, doch vorbereitet, den Abend bei ihm zuzubringen, er hatte deshalb[191] eine Einladung des Herrn von Zernitz bereits abgelehnt. Früh vor der Comtoirstunde ging er auf das Zimmer von Herrn Pix und gratulierte diesem. Herr Pix nahm den Glückwunsch sehr kühl auf und gönnte ihm keine Einladung für den Abend. Nach Tische begegnete Anton dem kolossalen Napfkuchen, welcher mit Hilfe eines Bäckerlehrlings mühsam die Treppen des Hinterhauses hinaufstieg, im Comtoir merkte er aus einer Äußerung des Herrn Specht, daß diesmal sämtliche Kollegen aufgefordert waren, den Tag festlich zu begehen, an welchem Herr Pix durch sein Erscheinen eine Lücke der Schöpfung ausgefüllt hatte. Alle waren geladen, nur Anton und Fink nicht.

Mit Recht empfand Anton diese Zurücksetzung als eine Unart. Er empfand sie aber tiefer, als wohl nötig gewesen wäre. Und zum Überfluß teilte ihm Specht im Vertrauen mit, daß Pix die Erklärung abgegeben habe, ein junger Herr, der mit Leutnants umgehe und bei Feroni am liederlichen Tisch sitze, sei kein passender Gesellschafter für einen soliden Kaufmann. Als er an diesem Abend einsam auf seiner Stube saß und unter sich die lustige Unterhaltung der Kollegen hörte, da überkam ihn eine bange und gedrückte Stimmung, und keines von den glänzenden Bildern, welche in der letzten Zeit seine Mußestunden ausgefüllt hatten, auch das holdeste nicht, war mächtig genug, durch die dichte Wolke des Mißmuts durchzudringen, welche ihn umhüllte.

Er selbst war nicht zufrieden mit sich und suchte selbstquälerisch Anklagen gegen sich zu sammeln. Er war ein anderer geworden. Er war nicht gerade nachlässig in den Arbeitsstunden, aber seine Tätigkeit machte ihm wenig Freude, sie war ihm oft eine Last. Es war ihm begegnet, daß er in seinen Briefen Wichtiges vergessen hatte, ja er hatte sich ein paarmal sogar in den Preisen verschrieben, und Jordan hatte ihm mit einer kurzen Bemerkung die Briefe zurückgegeben. Es fiel ihm ein, daß der Prinzipal in der letzten Zeit sich gar nicht um ihn gekümmert, und daß Sabine ihn vor einigen Tagen auf der Treppe kälter gegrüßt hatte, als gewöhnlich. Und neulich, als die Tante über Störung ihrer Nachtruhe klagte, weil jemand so spät und geräuschvoll die Haustür geöffnet, da hatten alle Kollegen vorwurfsvoll auf ihn gesehen. Sogar der treue Karl hatte ihn vor der letzten Tanzstunde, wie Anton jetzt meinte, ironisch gefragt, ob er auch seinen[192] Hausschlüssel bei sich habe. In solcher Stimmung ging Anton an seinen Schreibtisch und fing an, sein kleines Kassenbuch durchzusehen. Er hatte in den letzten Wochen keine Ausgaben eingeschrieben, ängstlich faßte er die Feder und suchte Rechnungen und Erinnerungen zusammen, um das Versäumte nachzuholen. Mit Schrecken entdeckte er, daß seine Schulden zusammen eine Summe ausmachten, welche er nicht tilgen konnte, ohne die kleine Hinterlassenschaft seiner Eltern anzugreifen. Er fühlte sich sehr unglücklich. Hohe Töne hatten lange Zeit in ihm geklungen. Das Schicksal hatte auf einer Saite die feinste Melodie gespielt, jetzt schnurrte die andere. Der Mißton sollte noch größer werden.

An demselben Abend kam der Kaufmann verstimmt aus der Ressource nach Hause, er beantwortete kurz Sabinens Gruß und ging mit starken Schritten im Zimmer auf und ab.

»Was hast du, Traugott?« fragte die Schwester.

Der Bruder trat an ihren Stuhl. »Willst du wissen, wie Fink seinen Schützling bei Frau von Baldereck eingeführt hat? Du warst so bereit, dich über seine Freundschaft zu freuen. Er hat ein System von Lügen gesponnen und hat den unerfahrenen Wohlfart zu einem ruchlosen Abenteurer gemacht.« Er erzählte darauf, daß ihn ein älterer Offizier nach den Verhältnissen Antons gefragt hatte, und was dabei zutage gekommen war.

»Ist denn auch gewiß, daß Fink diese abgeschmackten Märchen erfunden, und daß Wohlfart darum gewußt hat?« fragte Sabine schüchtern.

»An Finks Beteiligung ist kein Zweifel. Der Streich sieht ihm zu ähnlich. Das ist der leichtsinnige frevelhafte Sinn, der nichts achtet, nicht einmal den Ruf des Freundes.«

Sabine lehnte sich an den Stuhl und nickte mechanisch mit dem Haupt. Ja, so war er. Wieder einmal empörte sich ihr Herz gegen ihn. »O wie traurig!« sagte sie vor sich hin. »Aber Wohlfart ist unschuldig, Traugott, das weiß ich bestimmt. Eine solche Lüge ist nicht in seinem Wesen.«

»Ich werde es morgen erfahren«, sagte der Kaufmann. »Um seinetwillen wünsche ich, daß du recht hast.«

Am folgenden Morgen ging der Prinzipal durch das vordere Comtoir und rief Anton zu sich in die kleine Hinterstube. Da dies[193] selten geschah, so folgte Anton mit der Ahnung, daß irgend etwas Unheimliches heranziehe. Der Prinzipal schloß hinter ihm die Tür, setzte sich recht ernsthaft vor ihn auf den Lederstuhl und begann mit strenger Miene. »Lieber Wohlfart, ich halte es für meine Pflicht, mit Ihnen über einige Gerüchte zu sprechen, die sich in der Stadt verbreitet haben. Man hält Sie für einen reichen jungen Mann von geheimnisvoller Herkunft, erzählt sich, daß Sie große Besitzungen in Amerika haben und daß vornehme Personen sich im stillen lebhaft für Sie interessieren. Ich setze voraus, daß auch Ihnen diese Gerüchte zu Ohren gekommen sind, und wünsche zu wissen, was Sie getan haben, dieselben zu widerlegen.«

Anton erwiderte erstaunt, aber mit Entschlossenheit: »Ich weiß nichts von einem solchen Gerücht, ich habe einige Male von Fremden sonderbare Anspielungen auf mein Vermögen gehört, ich habe stets widersprochen.«

»Haben Sie mit der nötigen Entschiedenheit widersprochen?« fragte der Kaufmann streng.

»Ich glaube ja«, antwortete Anton ehrlich.

»Es wäre an dem müßigen Geschwätz wenig gelegen«, fuhr der Prinzipal fort, »wenn nicht Ihr eigener Charakter dadurch verdächtigt würde. Denn die Welt wird geneigt sein anzunehmen, daß Sie selbst aus irgendeinem Grunde bei der Verbreitung dieses Gerüchts tätig gewesen sind; für das Renommee eines Kaufmanns aber gibt es keinen schlimmeren Argwohn, als den, daß er durch niedrige Mittel sich einen Kredit geben will, den zu beanspruchen er kein Recht hat.«

Anton stand starr.

Der Kaufmann fuhr fort: »Außerdem wird durch dieses Geschwätz auch der gute Ruf Ihrer Eltern angegriffen, denn man will wissen, daß Sie der heimliche Sohn eines sehr vornehmen Mannes sind.«

»O meine Mutter!« rief Anton, rang die Hände und die Tränen rollten aus seinen Augen. Er war so ergriffen, daß ihm der Prinzipal Zeit lassen mußte, sich zu beruhigen, und endlich begütigend sagte: »Fassen Sie sich, lieber Wohlfart, Sie haben jetzt die Aufgabe, die Unwahrheit dieser Erzählungen nachzuweisen. Sie werden Ruhe und männliche Haltung dazu brauchen.«[194]

»Am schrecklichsten ist für mich der Gedanke«, rief Anton noch immer außer sich, »daß Sie selbst vielleicht glauben, ich hätte diese Unwahrheiten hervorgerufen, oder ich hätte sie mir gefallen lassen, um mich wichtig zu machen. Ich bitte Sie, mir zu glauben, ich habe bis zu dieser Stunde nichts davon gewußt.«

»Ich glaube Ihnen gern«, sagte der Kaufmann freundlicher, »aber Sie haben doch manches getan, um solchen Erzählungen Raum zu geben. Sie sind fortwährend in einem Kreise gesehen worden, welcher sich sonst gegen junge Männer in Ihrer Stellung sehr spröde verhält. Sie haben hier und da Ausgaben gemacht, welche Ihre Mittel offenbar übersteigen und jedenfalls unpassend für Sie waren.«

Anton hatte die dunkle Empfindung, daß er sich im Mittelpunkt der Erde viel behaglicher befinden würde, als auf der Oberfläche. »Ja«, sagte er endlich verzweifelnd, »Sie haben recht, ich habe sehr unrecht getan, über meine Verhältnisse hinauszugehen, ich habe das während der ganzen Zeit empfunden; seit einigen Tagen, wo ich Kasse gemacht habe und gesehen, daß ich in Schulden gekommen bin« – hier lächelte der Kaufmann fast unmerklich – »ist's mir klargeworden, daß ich auf unrechtem Wege bin, ich habe nur nicht gewußt, wie ich zurück soll. Jetzt werde ich nicht mehr zaudern«, fuhr er sehr traurig fort, »und Sie mögen die Güte haben, zu entscheiden, ob ich mich jetzt verständig benehme.«

»Nicht wahr, Fink hat Sie in die Gesellschaft der Frau von Baldereck eingeführt? Ich dachte es«, sagte der Prinzipal lächelnd, »vielleicht weiß er auch mehr von den Gerüchten, welche Sie gegenwärtig so beunruhigen.«

»Erlauben Sie, daß ich in Ihrer Gegenwart sein Zeugnis fordere, daß ich nichts von allen diesen Nachreden gewußt habe, und daß ich selbst wohl leichtsinnig gewesen bin, aber nicht niedrig. Fink ist mein Freund und kennt mein ganzes Verhalten.«

»Wenn es Sie beruhigt«, sagte der Prinzipal und ließ Herrn von Fink rufen.

Fink sah im Eintreten auf den aufgeregten Anton mit verwundertem Blick und sagte, ohne auf die Gegenwart des Prinzipals sonderlich zu achten: »Was Teufel, du hast geweint?«

»Über Verleumdungen«, sprach der Kaufmann ernst, »welche[195] seine Solidität als Geschäftsmann und die Respektabilität seiner Familie angegriffen haben.« Darauf sagte er kurz, worum es sich handle.

Fink lachte und rief: »Er ist ein Kind; wozu sich um das müßige Geschwätz der Leute kümmern?«

»Er hat kein Recht, dies Geschwätz zu verachten, denn er hat es durch seinen Verkehr in den Kreisen, in die Sie ihn einführten, genährt.«

»Vor allem bitte ich dich, mir hier vor Herrn Schröter zu bezeugen, daß ich keine Ahnung von alledem gehabt habe; du kennst mich genug, um zu wissen, daß ich keinen Fuß in die Gesellschaft der Frau von Baldereck gesetzt hätte, wenn ich für möglich gehalten, daß so etwas von mir gesagt werden kann.«

»Er ist ganz unschuldig«, sagte Fink mit überzeugender Gutmütigkeit zum Prinzipal. »Unschuldig und harmlos wie das Veilchen, das still im Verborgenen blüht; wenn irgend jemand schuld hat bei dieser lächerlichen Geschichte, so bin ich es und außerdem die törichten Menschen, welche so etwas verbreitet haben. Gib dich zufrieden, Anton; wenn dir die Sache leid ist, so wollen wir sie bald wieder in Ordnung bringen.«

»Ich werde noch einmal zu Frau von Baldereck gehen und ihr mitteilen, daß ich die Tanzstunden nicht mehr besuchen kann.«

»Auch ich halte das für das beste Mittel«, sagte der Kaufmann.

»Ich fürchte, es wird nicht viel helfen«, bemerkte Fink weise.

»Dann habe ich wenigstens das Meinige getan«, rief Anton.

»Wie du willst«, sagte Fink, »Tanzen hast du doch gelernt und deinen Hut verstehst du auch mit Anstand zu bewegen.«

Gegen Mittag sagte der Kaufmann zu seiner Schwester: »Du hast recht gehabt, Wohlfart war in der Hauptsache unschuldig, Fink hat in seinem Übermut die ganze Intrige angezettelt.«

»Ich wußte es«, rief Sabine und fuhr heftig mit der Nadel in ihre Stickerei. – »Wenn es möglich ist, Traugott, so verhüte jetzt eine neue Unbesonnenheit.«

»Sie müssen die Geschichte selbst ausmachen«, antwortete der Kaufmann, »ich bin neugierig, wie sie das zustande bringen werden.«

Anton arbeitete den Tag über wie einer, der sich betäuben will, sprach nur das Nötigste und ging am Abend trotzig die drei[196] Treppen hinauf, sich anzukleiden, als ein Mann, der seinen Entschluß gefaßt hat.

Fink sah ihn den Tag über mißtrauisch an und fragte sich selbst: »Was hat der Junge vor? Er gebärdet sich, als sollte er das erste Duell abmachen.« Und hätte er in Antons Seele sehen können, vielleicht hätte auch ihn erschüttert, den Schmerz zu erkennen, der in dem jungen Herzen fraß. Es war nicht verletzter Stolz allein, nicht die Scham, wie ein Abenteurer und Betrüger zu erscheinen, denn diese beiden Empfindungen gingen in einem größeren Weh unter, in dem Gedanken an den Abschied von seiner geliebten Tänzerin.

Fink sprang die drei Treppen hinauf in Antons Zimmer, den er bereits angekleidet fand, sah das bleiche Gesicht des Freundes, das heute um ein paar Jahre älter aussah als gewöhnlich, und fragte, seine Hand ergreifend: »Bist du böse auf mich?«

»Nicht auf dich und auf keinen anderen«, sagte Anton aufgeregt. »Höre mich an; wie das Gerücht entstanden ist, will ich nicht wissen. Es ist möglich, daß du dir einen Scherz mit mir und den Leuten gemacht hast.«

»Mit dir nicht, mein Kind«, sagte Fink.

»Jedenfalls hast du um das Geschwätz gewußt und mir nichts davon gesagt, das war nicht recht von dir, ich sage dir das jetzt und werde dir's nicht nachtragen, und wir wollen miteinander über diese Geschichte niemals wieder reden.«

»Höre«, sagte Fink, »ich habe die Notion, du nimmst das Geschwätz viel zu tragisch.«

»Laß mich«, fuhr Anton fort, »nur heut in meiner Weise handeln.«

»Was willst du denn tun?« fragte Fink.

»Frage mich nicht«, sagte Anton; »ich empfinde sehr deutlich, was ich tun muß. Laß uns gehen.«

»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte Fink gutmütig, »aber vergiß nur eines nicht: daß jede Art von Szene, die du vor den Leuten aufführst, sie nur amüsieren wird; um so mehr, je aufgeregter du dich zeigst.«

»Vertraue mir«, sagte Anton, »ich werde ruhig sein.«

Es war große Gesellschaft in den erleuchteten Zimmern, kleine Balltoilette, viel Lichterglanz; sämtliche Familienmütter und[197] mehrere Väter; einige eingeübte Tänze sollten zum besten gegeben werden. Als sie in den gefüllten Saal traten, sah Fink besorgt auf seinen Freund und fand, daß Anton verstört aussah, aber mit großer Energie vorwärts schritt. Er machte sich von Fink los und trat sogleich zu Lenore, mit der er sich zum ersten Tanz bereits engagiert hatte. Das Fräulein sah heut so reizend aus, als möglich, sie hatte ihr erstes Ballkleid an, und die großen Augen strahlten vor Lust; sie kam ihrem Tänzer einige Schritte entgegen und sagte ihm mit freundlichem Vorwurf: »Sie kommen so spät, der Ball wird gleich anfangen, und ich hatte gehofft, mit Ihnen vorher noch eine Weile zu plaudern. Papa ist auch hier. Ich werde Sie ihm vorstellen. – Aber was haben Sie? Sie sehen ja so feierlich aus!« –

»Gnädiges Fräulein«, erwiderte Anton mit einer Verbeugung, »mir ist heut sehr traurig zumute, ich kann nicht die Ehre haben, den nächsten Tanz mit Ihnen zu tanzen.«

»Und warum nicht?« fragte die junge Frau fast erschrocken.

»Hören Sie mich an, Fräulein, ich werde nicht lange in dieser Gesellschaft bleiben und komme heut nur, mich bei Ihnen und der Dame vom Hause wegen meines Weggehens zu entschuldigen.«

»Aber Herr Wohlfart«, rief Lenore die Hände zusammenschlagend.

»Viel mehr als an der Meinung der übrigen liegt mir an Ihrer guten Meinung«, sagte Anton errötend, »und vor Ihnen will ich mich zuerst rechtfertigen.«

»Sie sollen sich aber nicht rechtfertigen, ich verstehe Sie nicht«, rief die junge Dame.

Anton aber erzählte ihr mit fliegenden Worten, was er heute von seinem Prinzipal gehört, und versicherte sie eifrig, daß er von dem Gerücht nichts gewußt habe. »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Lenore vertrauensvoll. »Papa hat auch gesagt, daß es wahrscheinlich ein müßiges Geschwätz sei.« – Sie hielt inne, denn sie dachte in dem Augenblick daran, daß ihr Vater zugesetzt hatte, dieser Herr Wohlfart möge ein recht guter Mann sein, aber er passe doch nicht in die Gesellschaft. »Und weil Sie erfahren haben, was man sich über Sie erzählt, wollen Sie ganz aus der Tanzstunde ausscheiden?«[198]

»Ja, ich will«, sagte Anton, »denn wenn ich hierbliebe, würde ich mich der Gefahr aussetzen, für einen Eindringling oder gar für einen Betrüger gehalten zu werden.«

Lenore warf das Köpfchen zurück und sagte gekränkt und heftig: »So gehen Sie, mein Herr.«

Dies war das beste Mittel, das Gehen unseres Anton zu verhindern, er blieb stehen und sah seine Tänzerin flehend an.

»Warum gehen Sie nicht?« fragte das Fräulein noch heftiger.

Anton wurde sehr bleich; er sah mit tiefem Schmerz in das Gesicht seiner zornigen Dame und sagte mit zitternder Stimme: »Sagen sie mir wenigstens, daß Sie nicht schlecht von mir denken wollen.«

»Ich werde gar nicht an Sie denken«, rief die junge Dame mit schneidender Kälte und wandte sich ab.

Der arme Anton stand einen Augenblick wie vernichtet, es war ein bitterer Schmerz, der seine unerfahrene Seele durchbebte. Wäre er zehn Jahre älter gewesen, so hätte er sich diesen heftigen Zorn vielleicht günstiger ausgelegt. Der Gedanke, daß er noch nicht fertig war, gab ihm seine Kraft wieder, er ging aufgerichtet, ja mit stolzem Schritt zu dem Kreise, in welchem Frau von Baldereck die Honneurs machte. Da waren alle die auserwähltesten Damen der Gesellschaft. Die lange hagere Gräfin saß da eine Tasse Tee trinkend, Eugeniens Mutter und neben ihr eine große Männergestalt; Anton wußte, ohne daß es ihm jemand gesagt hatte, daß der stattliche Herr Lenorens Vater sein müsse. In dem Augenblick, wo er vor die Frau vom Hause trat, seine Verbeugung zu machen, flog sein Blick über die ganze Gesellschaft. Jahre sind seitdem vergangen, aber noch lebt der Augenblick in seinem Gedächtnis, und noch heut weiß er die Farbe von jedem Kleide, er könnte noch die Blumen aufzählen, welche in dem Strauß der Baronin Rothsattel waren, ja, er erinnert sich noch an das Bild, das auf der gemalten Tasse war, aus welcher die Gräfin trank. Die Hausfrau empfing die Verbeugung unsers Helden mit herablassendem Lächeln und war im Begriff, ihm etwas Freundliches zu sagen, als Anton sie unterbrach und mit einer Stimme, die vor Bewegung zitterte, aber laut durch den ganzen Saal tönte, seine Rede begann, so daß nach den ersten Worten eine allgemeine Stille entstand: »Gnädige Frau, ich habe heut erfahren, daß in der[199] Stadt erzählt wird, ich sei reich, ich besitze Güter in Amerika, und vornehme Herrschaften nehmen im geheimen ein Interesse an mir. Ich erkläre dies alles für Unwahrheit, ich bin der Sohn des verstorbenen Kalkulators Wohlfart aus Ostrau; ich habe von meinen Eltern fast nichts geerbt, als einen ehrlichen, unbescholtenen Namen. Ich bin dem Andenken an meine guten Eltern und mir selbst schuldig, das hier öffentlich zu erklären. Sie, gnädige Frau, haben die hohe Güte gehabt, einen fremden und unbedeutenden Menschen so freundlich in Ihrem Hause aufzunehmen und mich zur Teilnahme an den Tanzstunden dieses Winters aufzufordern. Ich darf nach dem, was ich heut gehört habe, nicht mehr daran teilnehmen, weil mein fernerer Besuch der Tanzstunde den Unwahrheiten, welche man über mich verbreitet hat, Nahrung geben würde, und weil ich gar in den Verdacht kommen könnte, ein Betrüger zu sein, welcher die Gastfreundschaft Ihres Hauses mißbraucht. Deshalb sage ich Ihnen meinen innigen Dank für Ihre Güte und bitte Sie, mir ein freundliches Gedächtnis zu bewahren.«

Die Rede war etwas zu pathetisch für den Kreis, in welchem sie wirken sollte, aber sie wirkte doch. Es entstand für einige Augenblicke tiefes Stillschweigen; die Gräfin hielt wie erstarrt ihre Tasse in der Luft zwischen Schoß und Mund, und die Frau vom Hause sah verlegen vor sich nieder.

Anton machte eine tiefe Verbeugung und ging zur Tür.

Da eilte aus der starren Gruppe mit beflügeltem Schritte eine helle Gestalt dem Scheidenden nach, faßte mit ihren Händen seine beiden Hände; Anton sah in Lenorens weinende Augen und hörte noch, wie sie mit weicher Stimme unter Tränen zu ihm sagte: »Leben Sie wohl!« Dann schloß sich die Tür hinter ihm, und alles war vorbei.

Anton ging langsam nach Hause. Es war so ruhig und still in seiner Seele, als wäre er nie in dem Hause hinter ihm gewesen; er sah auf die großen Schneeflocken, welche vor ihm herunterfielen, und freute sich über die Spur, welche die Fußgänger in den weichen Schnee gedrückt hatten. Wenn er Schmerzen fühlte, so waren sie doch ohne Bitterkeit. Er trug sein Haupt stolz und dachte an alles mögliche, woran ein unbefangener Spaziergänger denkt, an seine Eltern, an die Briefe, die er heut im Geschäft geschrieben[200] hatte, an seinen Prinzipal und auch an den närrischen Tinkeles, den Fink heut wieder zum Comtoir hinausgewiesen hatte. Aber in seinem Ohr klang fortwährend eine Melodie, die neben allen Gedanken forttönte, es waren die Worte Lenorens: »Leben Sie wohl!«

In dem Salon der gnädigen Frau kehrte das Leben zurück, als er das Zimmer verlassen hatte. Das erste Wort, welches gehört wurde, war der strafende Ruf der Mutter, die ihre Tochter zu sich forderte, welche in der vergangenen Szene eine so auffallende Rolle improvisiert hatte. »Lenore, du hast dich vergessen!« sagte die Mutter leise und bekümmert.

»Laß sie«, sagte der Freiherr mit Geistesgegenwart laut, »die Tochter hat getan, was der Vater hätte tun sollen, der junge Mann hat sich brav gehalten, und wir werden ihm unsre Achtung nicht versagen.«

Unter den übrigen Gruppen aber erhob sich ein Gemurmel, die Einleitung zu lebhafter Unterhaltung. »Das war ja eine wahre Theaterszene«, sagte die Dame vom Hause mit nicht ganz natürlichem Lächeln; – »aber, wer hat uns denn gesagt –«

»Ja, wer hat denn gesagt? –« fiel Herr von Tönnchen ein.

Aller Augen richteten sich auf Fink.

»Sie sagten ja doch, Herr von Fink –« fing Frau von Baldereck wieder an, sich majestätisch erhebend.

»Jawohl«, fiel Herr von Zernitz ein, »und es ist doch etwas an dem Gerücht, mein Wort darauf! Ich selbst habe bei einem notariellen Akt als Zeuge gedient«, fuhr er unvorsichtig heraus. »Erklären Sie doch, Fink.« – »Auch ich muß um Erklärung bitten, Herr von Fink«, fuhr die Hausfrau gereizt fort.

»Mich? Gnädige Frau«, sagte Fink mit der Ruhe eines Gerechten, dem ein Unrecht geschieht. »Was soll ich von diesem Gerücht wissen? Ich selbst habe ihm widersprochen, soviel ich nur konnte.«

»Ja, das haben Sie«, ließen einzelne Stimmen sich hören, »aber Sie ließen merken –«

»Sie sagten doch –« fiel Frau von Baldereck ein.

»Was? Gnädige Frau«, fragte kalt der unerschütterliche Fink.

»- daß dieser Herr Wohlfart auf geheimnisvolle Weise mit dem – dem Kaiser – in Verbindung stehe.«[201]

»Das ist unmöglich«, antwortete Fink mit größtem Ernst. »Das ist ein arges Mißverständnis! Ich habe Ihnen die Person des Herrn beschrieben, der Ihnen damals noch unbekannt war; es ist möglich, daß ich dabei eine zufällige Ähnlichkeit erwähnt habe.«

»Aber was ist das mit den Gütern?« fiel Herr von Tönnchen ein, »Sie selbst haben ja die Herrschaft an ihn zediert, und dieser Verkauf war von auffallenden Umständen begleitet. Sie forderten von uns, die Sache als tiefes Geheimnis zu bewahren.«

»Da Sie mein Geheimnis so gut bewahrt haben, daß Sie es überall und jetzt hier vor der ganzen Gesellschaft erzählen«, entgegnete Fink lachend, »so tragen Sie und Zernitz offenbar die Schuld, wenn sich dies törichte Gerücht verbreitet hat. Merken Sie auf, meine teuern Herren. Mein Freund Wohlfart hatte einmal in fröhlicher Stimmung geäußert, er wünsche wohl, Grundbesitz in Amerika zu haben. Ich machte mir einen Scherz und schenkte ihm zu Weihnachten eine Besitzung, die ich auf Long Island bei New York hatte. Diese Besitzung, meine Herren, besteht in einer Sandgrube, welche mit Gesträuch bewachsen ist und in welcher eine bretterne Vogelhütte zum Schießen von Strandvögeln steht. Wenn ich Sie gebeten habe, nicht davon zu sprechen, so war das ganz in Ordnung; daß Sie aber aus dieser Kleinigkeit ein Tau gesponnen haben, welches einen liebenswürdigen Mann von unsrer Gesellschaft scheiden soll, tut mir sehr leid.« Ein kalter Hohn legte sich auf sein Gesicht, als er fortfuhr: »Mit Freuden sehe ich, wie sehr Sie alle diese Empfindung teilen, und wie stark Sie den gemeinen Bedientensinn verachten, welcher einen Mann deswegen für salonfähig hält, weil irgendein fremder Potentat sich um ihn gekümmert haben soll. Da wir aber den heutigen Ball mit Erklärungen angefangen haben, so will auch ich die Erklärung abgeben, daß Herr Anton Wohlfart legitimer Sohn des verstorbenen Herrn Kalkulators Wohlfart in Ostrau ist, und daß ich jede fernere Erwähnung dieser Mißverständnisse für eine Beleidigung meines nächsten Freundes halten werde. – Und jetzt, gnädige Frau, schenken Sie mir aufs neue Ihre Huld, ich bin mit Fräulein Eugenie zur ersten Quadrille engagiert und fühle mich außerstande, länger zu warten.«

In Frau von Baldereck kämpfte eine Weile verletztes Selbstgefühl und mütterliche Sorgfalt, endlich siegte, wie bei einer guten[202] Natur zu erwarten war, die letztere; sie sagte, Fink vorwurfsvoll anblickend, leise: »Ich fürchte, Sie haben Ihr Spiel mit uns getrieben!« – Fink aber schüttelte den Kopf und erwiderte mit großer Aufrichtigkeit: »Man spielt nicht, wo man fühlt.« Darauf führte er Fräulein Eugenie zum Tanze.

Beim Antreten sagte ihm Leutnant von Zernitz: »Sie haben Ihr Spiel mit uns getrieben, Fink, ich bedaure, darüber noch eine Erklärung von Ihnen fordern zu müssen.«

»Seien Sie verständig und fordern Sie nichts«, entgegnete Fink, »wir haben so oft miteinander um die Wette geschossen, daß es sehr töricht wäre, wenn wir einer auf den andern zielen wollten.«

Da Fink bei weitem der beste Schütz in der Gesellschaft war, so sah Herr von Zernitz doch zuletzt ein, daß Fink recht hatte. Und eine kleine Spannung von einigen Wochen abgerechnet, welche an einem stillen Abend bei der zweiten Flasche Burgunder durch Händeschütteln ausgeglichen wurde, hatte die Sache keine weiteren Folgen. – Doch erkaltete seit dem Abgange Antons das Interesse, welches Fink an der Tanzstunde genommen, und weder Theone Lara noch Lenore hatten Ursache, seine Anspielungen zu fürchten, denn wenn er im Salon erschien, so begnügte er sich, der Tochter vom Hause und einigen erfahrenen Frauen seine Huldigung darzubringen, um die aufstrebende Jugend kümmerte er sich nicht mehr.

Anton aber war wie ein erlöschender Stern aus der Gesellschaft geschieden. Er wurde nicht wieder darin gesehen. Frau von Baldereck erkannte etwas spät, daß es passend sei, den jungen Mann, der doch einmal in ihrem Hause aufgenommen war, gelegentlich wieder einzuladen, um ihm und andern zu zeigen, daß man seine Gegenwart nicht bloß deswegen für anständig halte, weil er – sondern auch um seiner selbst willen. – Und einige andere Familien des Landadels dachten ebenso, da aber, wie bemerkt, alle diese Einladungen etwas spät kamen, und Anton sein Nichterscheinen entschuldigte, so geschah ihm in kurzem, was viel bedeutenderen Größen der Gesellschaft zu begegnen pflegt, er wurde vergessen. Die frühern Eideshelfer bei der großen Urkunde, Herr von Zernitz und Herr von Tönnchen, redeten ihn noch eine Weile auf der Straße an, wenn er ihnen begegnete, dann[203] grüßten sie ihn noch ein Jahr, und endlich kannten auch sie ihn nicht mehr.

Unserem Anton kam wenig darauf an. Er stürzte sich jetzt mit Leidenschaft in die Arbeiten des Geschäfts. Gleich am andern Morgen klopfte er an die Tür des kleinen Comtoirs und trat in das Allerheiligste des Prinzipals ein. Er erzählte, was er gestern zu Frau von Baldereck gesagt habe, und fügte hinzu: »Ich werde nicht mehr in die Gesellschaft gehen und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, wenn ich in der letzten Zeit meine Pflicht nicht vollständig getan habe, ich werde von heut an sorgfältiger sein.«

»Ich habe keinen Grund, über Sie zu klagen«, erwiderte der Kaufmann freundlich, »geben Sie mir die Summe an, welche Sie bedürfen, um Ihre Verhältnisse in Ordnung zu setzen.« Anton zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem er gewissenhaft sein Debet aufgezeichnet hatte, Herr Schröter rief den Kassierer, ließ die Summe an Anton zahlen und diesem zur Last schreiben, und auch das war abgemacht.

Fink sagte am nächsten Tage zu Anton: »Du bist mit einem Knalleffekt ausgetreten und hast von den ältern Herren der Gesellschaft das Zeugnis bekommen, daß du dich angemessen benommen hast.«

»Wer hat das gesagt?« Fink erzählte ihm die Äußerung des Freiherrn von Rothsattel und tat, als bemerkte er nicht, daß Antons Gesicht eine tiefe Röte überflog, »Indes wäre doch klüger gewesen«, fuhr Fink fort, »wenn du die Angelegenheit nicht so auf die Spitze getrieben hättest. Wozu die ganze Gesellschaft meiden, in der doch einige sind, die dich persönlich liebgewonnen haben?«

»Ich habe gehandelt«, sprach Anton, »wie es mir mein Gefühl eingab, ein anderer, der älter ist und mehr Welt hat, wird es vielleicht geschickter anfangen. Du kannst mir nicht zürnen, daß ich in dieser Sache nicht deinem Rat gefolgt bin.«

»Es ist merkwürdig«, dachte Fink, die Treppe hinuntersteigend, »bei welchen Gelegenheiten die verschiedenen Menschen lernen, den eigenen Willen zu gebrauchen. Dieser Knabe ist über Nacht selbständig geworden, und was ihm das Schicksal jetzt von größern Dingen bringt, er wird sicher alles anständig durchmachen.«[204]

Für Anton sowohl, als seinen Freund, war ein gutes Zeichen, daß ihr Verhältnis durch diese Szene nicht gestört wurde. Ja, es gewann an innerm Wert. Fink behandelte seinen jüngern Freund mit größerer Achtung, und Anton bewegte sich mit mehr Freiheit und gewöhnte sich, auch Fink gegenüber einen eigenen Willen zu haben. Und das richtige Urteil des Jüngern trug allmählich dazu bei, den Älteren von manchem losen Streich abzuhalten und seinen Übermut zu bändigen. Anton erfüllte seine Pflichten im Comtoir mit der größten Pünktlichkeit, sein Diensteifer war unendlich, und seine Zuvorkommenheit gegen die Kollegen größer als jemals. Fink gewöhnte sich dadurch, ohne daß er es selbst merkte, auch seinerseits regelmäßiger im Geschäft zu erscheinen und die Arbeitsstunden besser auszuhalten. Nur einen Gegenstand gab es, über den er mit seinem Freunde nie sprach, obgleich er wußte, daß Anton immer an ihn dachte, das war die junge Dame der Tanzstunde, welche so viel Herz und Mut gezeigt hatte.

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 190-205.
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Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

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»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

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