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[236] Anton war jetzt der pflichtgetreueste Korrespondent seines Comtoirs. Gegen die ritterlichen Künste seines Freundes verhielt er sich kühl. Nur selten vermochte ihn Fink, des Sonntags sein Begleiter zu Pferde oder am Pistolenstand zu werden. Dagegen benutzte Anton Finks Bücherschrank mehr als dieser selbst. Es war ihm nach langem Bemühen gelungen, in die Mysterien der englischen Aussprache einzudringen, und eifrig suchte er die Gelegenheit, sein Sprechtalent an Fink zu üben. Da aber dieser den Übelstand hatte, ein sehr unregelmäßiger und gewissenloser Lehrer zu sein, gab Anton seine Zunge in die Zucht eines gebildeten Engländers.

Einst sah er von seinem Platze im Comtoir auf, als sich die Tür öffnete, und erkannte mit der größten Verwunderung in dem Eintretenden Veitel Itzig, den Genossen aus der Bürgerschule von Ostrau. Er war bisher nur selten mit ihm zusammengetroffen. Das freche Wesen des Burschen und die Furcht vor dem vertraulichen Du, mit dem dieser ihn leicht anreden mochte, hatten sein Auge auf allerlei andere Gegenstände gelenkt, sooft er Veitels Nasenspitze im Gedränge der Straße erkannte. Noch mehr erstaunte er, als Veitel auf die Frage des Herrn Specht: »Was steht zu Ihren Diensten?« artig erwiderte, er wünsche Herrn Wohlfart zu sprechen.

Anton stieg von seinem Sitze in den freien Raum des Comtoirs, und Veitel redete ihn an: »Sie werden mich doch noch kennen, obgleich Sie oft an mir vorbeigegangen sind, ohne mich zu grüßen.«

»Wie geht es Ihnen, Itzig?« frug Anton mit Kälte.

»Schlecht«, antwortete Itzig, die Achsel zuckend, »es ist kein Verdienst im Geschäft. – Ich soll Ihnen diesen Brief vom Sohn des Ehrenthal übergeben und Sie fragen, zu welcher Zeit Ihnen der Bernhard seinen Besuch machen kann.«

»Mir?« frug Anton und nahm eine Karte und einen Brief aus Veitels Händen. Der Brief war von Antons Sprachlehrer, er enthielt die Anfrage, ob Anton an einer Lehrstunde teilnehmen wolle, in welcher Herr Ehrenthal ältere englische Schriftsteller in einer literarhistorischen Reihenfolge durchzunehmen beabsichtige.[236]

»Wo wohnt Herr Bernhard Ehrenthal?« frug Anton.

»Im Hause bei seinem Vater«, erwiderte Veitel und verzog das Gesicht. »Er sitzt den ganzen Tag auf seiner Stube.«

»Ich werde den Herrn selbst aufsuchen«, sagte Anton. – »Guten Morgen, Herr Anton!« – »Guten Morgen, Itzig.«

Anton empfand keine große Neigung, auf den Antrag des Lehrers einzugehen. Der Name Ehrenthal hatte in seinem Comtoir keinen guten Klang, und das Erscheinen Itzigs trug nicht dazu bei, ihm das Anerbieten annehmlicher zu machen. Doch die ironische Art, in welcher Itzig vom Sohne seines Brotherrn sprach, und einzelnes, was er auf seine Erkundigungen über Bernhard hörte, bewog ihn, die Sache wenigstens in Erwägung zu ziehen. So suchte er einige Tage darauf nach dem Schluß des Comtoirs das Haus Ehrenthals auf, entschlossen, sich durch den Eindruck, den der Sohn auf ihn mache, bestimmen zu lassen.

Er trat an die weißlackierte Türe, zog den dicken Porzellangriff und wurde durch die struppige Köchin ohne weitläufige Anmeldung in die Stube des jungen Ehrenthal geführt. Es war ein langes schmales Zimmer mit alten Möbeln und schmucklosen Büchergerüsten, auf welchen eine Menge großer und kleiner Bücher unordentlich durcheinanderlag. Bernhard saß tief über seine Arbeit gebeugt am Schreibtisch und sah erst auf, als Anton bereits im Zimmer stand. Eilig knöpfte er den Hausrock über seinem Hemd zusammen und trat dem Fremden mit der Unsicherheit entgegen, welche Herren mit kurzem Gesicht bei der Begrüßung Eintretender eigen ist. Neugierig sah Anton auf den Sohn des Händlers. Es waren feine Züge und ein zarter Körper, kastanienbraunes krauses Haar, und zwei graue Augen von freundlichem Ausdruck. Bernhard nötigte seinen Gast auf ein kleines Sofa. Anton erwähnte den Zweck seines Besuches, und Bernhard antwortete schüchtern, daß er sich in allem nach den Wünschen seines Besuchs richten wolle. Und als Anton nach dem Preise der Stunden fragte, erstaunte er, daß der Sohn Ehrenthals mit einiger Verlegenheit sagte: »Ich weiß es wirklich in diesem Augenblick nicht, wenn Sie aber darauf bestehen, auch den Lehrer zu bezahlen, so will ich mich sogleich danach erkundigen.« Darauf konnte sich Anton nicht enthalten zu fragen: »Sie sind nicht im Geschäft Ihres Herrn Vaters?«[237]

»Ach nein«, erwiderte Bernhard, diesen Übelstand entschuldigend, »ich habe studiert, und da einem jungen Mann von meiner Konfession die Anstellung im Staate nicht leicht wird, und ich in meiner Familie leben kann, so beschäftige ich mich mit diesen Büchern.« Dabei warf er einen Blick voll Liebe auf sein Büchergerüst, stand auf und trat in ihre Nähe, als wollte er sie seinem Gast vorstellen. Anton las einige goldene Titel und sagte mit einer Verbeugung: »Das ist für mich zu gelehrt.« Es waren Ausgaben orientalischer Werke.

Bernhard lächelte: »Durch das Hebräische bin ich zu den andern asiatischen Sprachen gekommen. Es ist viel fremdartige Schönheit in dem Leben dieser Sprachen und in den Gedichten der alten Zeit. Ich habe auch Handschriften, wenn es Sie interessiert, diese zu sehen.«

Er schloß einen Schub auf und holte ein Bündel seltsam aussehender Manuskripte heraus. Mit glänzenden Augen öffnete er das oberste, im Einband von grünem Seidenstoff, der mit Goldfaden fremdartig durchwirkt war; er ließ Anton die Schrift betrachten und war vergnügt, als dieser erklärte, er könne nicht einmal angeben, welcher Sprache diese Schriftzüge angehörten.

»Es ist Arabisch, aber freilich ist gerade diese Handschrift sehr schwer zu lesen. Und hier ist mein Lieblingsdichter, Firdusi, ich habe aber nur ein kleines Bruchstück seines Gedichts in der Handschrift.«

Anton sagte ihm, »es muß viel Gelehrsamkeit dazu gehören, das alles zu verstehen.«

»Nur etwas Geduld«, antwortete Bernhard bescheiden, »wer ein Herz hat für das Schöne, der findet es bald überall heraus, auch unter dem fremdartigen Kleide, welches die Sänger aus dem Morgenlande tragen. Ich arbeite an einer Übersetzung persischer Gedichte; wenn Sie später einmal Muße haben, und Sie so etwas nicht langweilt, möchte ich Sie um Erlaubnis bitten, Ihnen eine kurze Probe vorzulesen.«

Anton hatte die Höflichkeit, sogleich darum zu bitten; der junge Ehrenthal griff nach einem Papier auf seinem Schreibtisch und las schnell und etwas ungelenk ein kleines Liebesgedicht vor. Es war eins von den zahllosen Gedichten, in denen ein weiser Trinker seine Geliebte mit allerlei hübschen Dingen vergleicht,[238] mit Tieren, Pflanzen, der Sonne und andern Weltkörpern, und daneben einem zelotischen Pfaffen Nasenstüber gibt. Dem ehrlichen Anton imponierte die verschlungene Form und der zugespitzte Ausdruck sehr, aber es war ihm doch komisch, als der Vorleser ausrief: »Nicht wahr, das ist schön? Der Gedanke, meine ich; denn die Schönheit der Sprache im Deutschen wiederzugeben, bin ich zu schwach.« Bei diesen Worten sah er begeistert vor sich, wie ein Mann, der alle Tage fünf bis sechs Flaschen Schiraswein trinkt und alle Abende seine Suleika küßt.

»Muß man denn aber trinken, um recht lieben zu können?« sprach Anton, »das ist bei uns doch auch ohne Wein möglich.«

»Bei uns«, erwiderte Bernhard, »ist das Leben sehr nüchtern«, dabei legte er das Blatt ernsthaft auf den Tisch.

»Ich denke, es ist nicht so«, erwiderte Anton eifrig, »ich kenne noch wenig vom Leben, aber ich sehe doch, auch wir haben Sonnenschein und Rosen, die Freude am Dasein, große Leidenschaften und merkwürdige Schicksale, welche von den Dichtern besungen werden.«

»Unsere Gegenwart«, wiederholte Bernhard weise, »ist zu kalt und einförmig.«

»Ich habe das schon einige Male in Büchern gelesen, aber ich kann nicht verstehen, warum, und ich glaube es auch gar nicht. Ich meine, wer in unserm Leben unzufrieden ist, der wird es mit dem Leben in Teheran oder in Kalkutta noch mehr sein, wenn er längere Zeit dort lebt. Es muß dort viel einförmiger und langweiliger sein, als bei uns. Ich lese das auch aus Reisebeschreibungen heraus. Was den Reisenden reizt, ist das Neue; wenn das Fremde alltäglich geworden ist, sieht es gewiß ganz anders aus.«

»Wie arm an großen Eindrücken unser zivilisiertes Treiben ist«, entgegnete Bernhard, »das müssen Sie selbst in Ihrem Geschäft manchmal empfinden, es ist so prosaisch, was Sie tun müssen.«

»Da widerspreche ich«, erwiderte Anton eifrig, »ich weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft. Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die sich von einem Menschen zu dem anderen, über Land und Meer aus einem Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden einzelnen und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir[239] am Leibe tragen, und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen; dadurch wird alles anziehend.

Und da ich das Gefühl habe, daß auch ich mithelfe, und sowenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß jeder Mensch mit jedem andern Menschen in fortwährender Verbindung erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein. Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Waage setze, so knüpfe ich einen unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauernburschen, der sie zum Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so sehe ich auf der einen Seite den Malaien kauern, der ihn zubereitet und einpackt, und auf der anderen Seite ein altes Mütterchen aus unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.«

»Sie haben eine lebhafte Einbildungskraft und sind glücklich, weil Sie Ihre Arbeit als nützlich empfinden. Aber was der höchste Stoff für die Poesie ist, ein Leben reich an mächtigen Gefühlen und Taten, das ist bei uns doch sehr selten zu finden. Da muß man wie der englische Dichter aus den zivilisierten Ländern hinaus unter Seeräuber gehen.«

»Nein«, versetzte Anton hartnäckig, »der Kaufmann bei uns erlebt ebensoviel Großes, Empfindungen und Taten, als irgendein Reiter unter Arabern oder Indern. – Je ausgebreiteter sein Geschäft ist, desto mehr Menschen hat er, deren Glück oder Unglück er mitfühlen muß, und desto öfter ist er selbst in der Lage, sich zu freuen oder Schmerzen zu empfinden. – Neulich hat hier ein großes Haus Bankrott gemacht.«

»Ich weiß es«, sagte Bernhard, »es war ein trauriger Fall.«

»Wenn Sie die Gewitterschwüle empfunden hätten, welche auf dem Geschäft lag, bevor es fiel, die furchtbare Verzweiflung des Mannes, den Schmerz der Familie, die Hochherzigkeit seiner Frau, welche ihr eigenes Vermögen bis zum letzten Taler in die Masse warf, um die Ehre ihres Mannes zu retten, Sie würden nicht sagen, daß unser Geschäft arm an Leidenschaften und großen Gefühlen ist.«

»Sie sind mit ganzer Seele Kaufmann«, sagte Bernhard freundlich,[240] »ich möchte Sie beneiden und die reine Freude, die Sie über Ihre Arbeit haben.«

»Ja«, entgegnete Anton. »Auch der Kaufmann hat trübe Erfahrungen in Menge zu machen. Der kleine Ärger fehlt ihm nicht, und vieles Schlechte muß er erleben, aber der ganze Handel ist doch so sehr auf die Redlichkeit anderer und auf die Güte der menschlichen Natur berechnet, daß ich bei meinem Eintritt in diese Tätigkeit erstaunt war. Wer ein ehrliches Geschäft hat, kann von unserm Leben nicht schlecht denken; er wird immer Gelegenheit haben, Schönes und Großartiges darin zu finden.«

Bernhard hatte mit gesenkten Augen zugehört, jetzt blickte er schweigend zum Fenster hinaus; und Anton bemerkte, daß er verlegen und bekümmert aussah. Endlich wandte sich Bernhard um und sagte, das Gespräch abbrechend, mit bittender Stimme: »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Wohlfart, so möchte ich mit Ihnen sogleich zum Sprachlehrer gehn. Es ist ein weiter Weg, wir sprechen im Freien mehr miteinander.«

Wie alte Bekannte traten die beiden Jünglinge aus dem finstern Haus in die warme Abendluft. Und als sie nach einer Stunde voneinander schieden, sagte Bernhard angelegentlich: »Ist Ihnen der Verkehr mit mir nicht zu uninteressant, Herr Wohlfart, so besuchen Sie mich doch manchmal in Ihren Freistunden.« Anton versprach das. Beide hatten Behagen aneinander gefunden. Anton wunderte sich noch immer, daß ein Sohn Ehrenthals so wenig Geschäftsmann sein konnte, und Bernhard war glücklich, einen Menschen zu treffen, mit dem er über vieles reden konnte, was er sonst schweigend mit sich herumtrug.

Bernhard trat am Abend vergnügt in die Familienstube und stellte sich hinter den Rücken der Schwester, welche auf einem kostbaren Flügel ein neues Modestück einübte und dabei eine große Fingerfertigkeit entwickelte. Der Bruder küßte sie leise an das Ohr, sie drehte sich schnell um und rief: »Laß mich in Ruh, Bernhard, ich muß das Stück einüben, denn auf den Sonntag ist große Soiree, und sie werden mich auffordern zu spielen.«

»Ich weiß, daß sie dich auffordern werden«, sagte die Mutter, als Bernhard sich schweigend auf das Sofa niedersetzte und ein aufgeschlagenes Buch in die Hand nahm. »Es ist keine Gesellschaft, wo man nicht das Verlangen hat, die Rosalie zu hören.[241]

Wenn du nur einmal dich entschließen könntest, mitzukommen, Bernhard, du bist ein Mann von soviel Geist, du bist gelehrter als alle aus der ganzen Bekanntschaft. Neulich hat der Professor Starke von der Universität mit großer Hochachtung über dich gesprochen und hat gesagt, du würdest ein Stolz werden für die Wissenschaft. Es ist erfreulich für eine Mutter, wenn sie stolz sein kann auf ihre Kinder. Warum kommst du nicht in die Gesellschaft, sie wird so auserlesen sein, wie sie in unserer Stadt nur sein kann.« – »Du weißt, Mutter, ich gehe nicht gern zu fremden Leuten«, sagte der Sohn.

»Und ich will, daß mein Sohn Bernhard hat seinen eigenen Willen«, rief der Vater aus einer Nebenstube, wo er die letzten Worte Bernhards gehört hatte, da in diesem Augenblicke Rosalie von ihren schweren Passagen ausruhte. Herr Ehrenthal trat in seinem verschossenen Schlafrocke zu der Familie: »Unser Bernhard ist nicht, wie andere Leute, und der Weg, den er geht, wird immer sein ein guter Weg. Du siehst aus so bleich«, sagte er zum Sohne und strich mit der Hand über seine braunen Locken. »Du studierst zuviel, mein Sohn. Denke auf deine Gesundheit, der Doktor hat gesagt, daß dir Bewegung nötig ist, und hat dir geraten zu nehmen ein Pferd und darauf zu reiten. Warum willst du nicht nehmen ein Pferd? Ich kann es haben, daß mein Sohn Bernhard auf dem teuersten Pferde reitet, das in der Stadt zu haben ist; tu, was der Arzt sagt, mein Bernhard, ich will dir kaufen ein Pferd.«

»Ich danke dir, lieber Vater«, erwiderte Bernhard, »es würde mir keine Freude machen, und wie ich fürchte, deshalb nicht viel helfen.« Er drückte dankbar die Hand des Vaters, der ihm wehmütig in das faltige Gesicht sah.

»Gebt Ihr dem Bernhard auch immer zu essen, was er gern hat? Laß ihm Pfirsiche holen, Sidonie, es sind neue Pfirsiche angekommen beim Fruchthändler, das Stück kostet zwei gute Groschen; oder willst du haben irgend etwas anderes, so sag's. Du sollst haben, was du gern hast; du bist mein guter Sohn Bernhard, und ich habe meine Freude an dir.«

»Er will ja nie etwas annehmen«, sprach die Mutter dazwischen, »er hat keine andere Freude, als an seinen Büchern; nach Rosalie und mir frägt er manchmal den ganzen Tag nicht.«[242]

»Liebe Mutter!« warf Bernhard bittend ein.

»Er liest zuviel in den Büchern und kümmert sich nicht um die Menschen«, fuhr die erfahrene Frau fort, »deshalb sieht er aus so bleich und verfallen, wie ein Mann von sechzig Jahren. Warum will er nicht gehen auf den Sonntag in die Soiree?«

»Ich werde mitkommen, wenn du es wünschst«, sagte Bernhard traurig und setzte nach einer Weile hinzu: »Ist euch ein junger Mann bekannt, ein Herr Wohlfart, der in Schröters Geschäft ist?«

»Den kenne ich nicht«, sprach der Vater mit bestimmtem Kopfschütteln.

»Vielleicht du, Rosalie? Er ist ein hübscher Mann von gentilem Aussehen. Er scheint mir ein guter Tänzer und Gesellschafter zu sein. Bist du nicht irgendwo ihm begegnet? Ich glaube, er müßte dir aufgefallen sein.«

»Ist er blond?« fragte die Schwester, indem sie ihr Haar vor einem kleinen Handspiegel zurechtstrich.

»Er hat dunkles Haar und blaue Augen.«

»Wenn er aus einem Comtoir ist, werde ich ihn wohl schwerlich kennen«, sagte Rosalie das Haupt zurückwerfend.

»Unsere Rosalie tanzt meist mit Offizieren und Künstlern«, schaltete die Mutter erklärend ein.

»Er ist ein tüchtiger und liebenswürdiger Mensch«, fuhr Bernhard fort; »ich will mit ihm zusammen Englisch treiben und freue mich sehr, daß ich seine Bekanntschaft gemacht habe.«

»Er soll eingeladen werden zu uns«, dekretierte Herr Ehrenthal vom Sofa aufstehend; »wenn er unserem Bernhard gefällt, so soll er willkommen sein in meinem Hause. Laß einen guten Braten machen auf den Sonntag, Sidonie, und laß mir einladen Herrn Wohlfart zum Mittagessen, nicht um ein Uhr, sondern um zwei Uhr! Er soll von jetzt gebeten werden zu allen Gesellschaften, die wir geben; wenn er ein Freund ist von Bernhard, so soll er auch ein Freund sein von unserem Hause.«

»Er hat ja noch nicht seinen Besuch gemacht«, sagte die Mutter wieder, »wir müssen doch abwarten, bis er sein Entree macht bei der Familie?«

»Wozu Entree«, fuhr der Vater auf, »wenn er bekannt ist mit unserem Bernhard, wozu soll er erst Entree machen bei uns?« –[243] »Ich will noch in dieser Woche zu ihm gehen, und wenn du erlaubst, liebe Mutter, ihn auffordern, auf den Sonntag bei uns zu essen.«

Die Mutter gab ihre Einwilligung, und Rosalie setzte sich jetzt zum Bruder und fragte ihn mit größerem Interesse über Person und Wesen des neuen Bekannten aus.

Bernhard schilderte mit Wärme den angenehmen Eindruck, den Anton auf ihn gemacht hatte, so daß die Mutter daran dachte, auf den Sonntag die große Silbervase herauszugeben und aufputzen zu lassen. Rosalie überlegte, in welchem Kleide und durch welche Seite ihrer Bildung sie auf den Fremden Eindruck machen wolle, und der Vater erklärte wiederholt, daß er Herrn Wohlfart zu jeder Tageszeit und bei jedem ausgezeichneten Bratenstück in seinem Hause zu sehen wünsche.

Wie kam es doch, daß Bernhard seiner Familie nicht den Inhalt des Gesprächs mitteilte, welches ihm den neuen Bekannten so lieb gemacht hatte? Wie kam es doch, daß er kurz darauf wieder in trübes Schweigen verfiel und in sein Arbeitszimmer zurückging? Daß er dort seinen Kopf über eine alte Handschrift lehnte und lange auf die krausen Züge hinstarrte, bis ihm große Tränen herabfielen, welche die Tusche der Buchstaben, auf die er soviel hielt, auflösten und verdarben, ohne daß er's merkte? Wie kam es doch, daß der junge Mann, auf den die Mutter so gern stolz sein wollte, und den der Vater so sehr verehrte, allein in seiner Stube saß und die bittersten Tränen vergoß, die ein guter Mensch weinen kann? Und woher kam es, daß er endlich mit rotgeweinten Augen am späten Abend sich zusammenfaßte und eifrig den Kopf in seine Bücher senkte, während seine schöne Schwester in der anderen Ecke der Wohnung noch immer mit ihren runden Fingern über die Tasten fuhr und das schwere Stück einübte, welches bestimmt war, bei der nächsten Soiree zu wirken?

Mit diesem Tage begann für Anton und Bernhard ein Verhältnis, welches für beide Wert erhielt. Bei der Unterhaltung über das Schöne, welches die Kraft eines fremden Volkes geschaffen hatte, genossen sie die Freude, auch das Gute liebzugewinnen, das jeder in dem andern fand. Bernhards Sprachkenntnisse waren größer, und sein Gefühl für das Reizende in fremder Poesie bis zum Übermaß fein, in Antons Seele war alles geordnet und sicher.[244]

Wenn Bernhard für Byron kämpfte, so vertrat Anton die ruhige Klarheit Walter Scotts, und beide waren glücklich, als ihre Begeisterung sich vor dem größten dramatischen Dichter vereinigte.

Anton schilderte die ungewöhnliche Bildung Bernhards dem gleichgültigen Fink. Er freute sich darauf, beide miteinander bekannt zu machen, und als er einst Bernhard zu sich geladen hatte, bat er auch Fink, heraufzukommen.

»Wenn dir's Spaß macht, Tony«, sagte Fink achselzuckend, »so will ich kommen. Ich sage dir aber im voraus, daß ich unter allen Kreaturen Büchereulen am wenigsten leiden kann. Es gibt kein Volk, welches selbstgefälliger über alles mögliche aburteilt, und keines, das sich törichter benimmt, wenn es selbst etwas tun soll. Und vollends ein Sohn des würdigen Ehrenthal! Nimm mir's nicht übel, wenn ich euch bald entlaufe.«

Bernhard saß erwartungsvoll auf dem Sofa Antons und sah mit Befangenheit der Ankunft des berühmten Mannes entgegen, über welchen manche Sage sogar in seine stille Studierstube gedrungen war. Als Fink eintrat und die tiefe Verbeugung Bernhards mit einem leichten Kopfnicken beantwortete, sich einen Stuhl zum Tisch zog und den schwachen Tee, den Bernhard so erbeten hatte, durch allerlei Zutaten trinkbar zu machen suchte, da empfand Anton mit Betrübnis, daß diese beiden schwerlich zueinander passen würden. Kein größerer Gegensatz war möglich, als ihr Wesen. Die magere durchsichtige Hand Bernhards und der kräftige Fleischton in den Muskeln Finks, die gedrückte Haltung des einen, die elastische Kraft des andern, dort ein faltiges Gesicht mit träumerischen Augen, hier stolze Züge mit einem Blick, der dem eines Adlers glich: das paßte nimmermehr zusammen. Doch ging es besser, als Anton gedacht hatte. Bernhard hörte mit Achtung an, was der Jockei erzählte, und da Anton eifrig bemüht war, das Gespräch auf ein Gebiet zu bringen, wo auch Bernhard teilnehmen konnte, blieb die Unterhaltung in Fluß.

»Fink hat auch Indianer gesehen«, sagte Anton zu Bernhard.

»Haben Sie etwas von ihren Liedern gehört?« fragte der Gelehrte.

»Ich habe sie einigemal gehört. Möglich, daß klügere Leute etwas Erbauliches in ihrem Gesang finden, mir ist er nie anders vorgekommen, als kläglich. Schlagen Sie auf ein altes Blech und[245] singen Sie dazu durch die Nase mit allerlei Nebentönen: ›Tum, tum, te – ticke, ticke te, – Och, och, tum, tum, te‹, so haben Sie ihren Gesang, der auf deutsch ungefähr bedeuten würde: ›Guter Geist, gib Büffel, Büffel, Büffel. Dicke Büffel gib uns, guter Geist.‹ « – Seine Zuhören lachten – »Und wozu sollen diese Geschöpfe kunstvolle Lieder machen? Entweder sind sie auf der Jagd, oder sie suchen Skalpe, oder sie essen und schlafen, oder sie halten Parlamentsreden, wozu sie allerdings große Neigung haben.«

»Aber die Frauen?« fragte Bernhard lächelnd.

»Wie es bei den mit der Poesie steht, weiß ich nicht, mir rochen sie immer zu sehr nach Fett. Freilich, wenn man nichts anderes hat, gewöhnt man sich auch daran. Doch ist mit den Männern noch besser zu verkehren. So ein nackter Bursch auf seinem halbwilden Pferd ist kein übler Anblick.«

»Die erste Begegnung muß doch sehr imponieren, ihre auffallende Tracht und ihr stolzes Wesen«, warf Bernhard ein.

»Das kann ich nicht sagen«, versetzte Fink. »Vor Jahren machte ich mit meinem Onkel eine Reise nach der Agentur einer Pelzwaren-Kompanie, bei der er beteiligt war. Als wir aus dem Dampfer ans Ufer stiegen, fanden wir am Landungsplatz eine Gesellschaft der rötlichen Herren, welche stark betrunken war. Ein langer Schlingel schritt auf meinen Onkel zu und hielt ihm eine Rede, die, wie der Dolmetsch erklärte, die Versicherung enthielt, daß sie sämtlich große Krieger wären, und nach jedem Satz bellte die Bande ein lautes Hau, hau, das in ihrer Sprache soviel als ja bedeutet. Es war ein Trupp Schwarzfüße.«

»Es waren Sioux«, verbesserte Bernhard bescheiden.

Fink legte den Teelöffel hin und sah Bernhard groß an. »Ich kalkuliere, Herr, es waren Schwarzfüße.«

»Es waren doch wohl Sioux«, wiederholte Bernhard. »Bei den Schwarzfüßen lautet das Ja anders.«

»Wetter«, rief Fink, »wenn Sie mit den roten Teufeln so bekannt sind, wozu lassen Sie mich hier meine Jagdgeschichten erzählen?«

»Ich habe mich nur ein wenig um ihre Sprache bekümmert«, erwiderte Bernhard, »es ist ein Zufall, daß ich vor kurzem einige Wörterverzeichnisse verschiedener Stämme durchgesehen habe.«[246]

»Und wozu haben Sie sich die unnütze Mühe gemacht? Es wird dort drüben schnell aufgeräumt; bevor Sie eine Sprache erlernen, ist der Stamm ausgerottet, der sie sprach.«

Jetzt wurde Bernhard beredt. Er sagte, daß die Kenntnis der Sprachen für die Wissenschaft die beste Hilfe sei, um das Höchste zu verstehen, was der Mensch überhaupt begreifen könne, die Seelen der Völker.

Die vom Geschäft hörten aufmerksam zu. Als Bernhard sich entfernt hatte, rief Fink noch immer verwundert: »Er geht mit unserm alten Herrgott um, wie mit einem Duzbruder, und konnte vorhin rechts und links nicht unterscheiden.«

Die Folge dieses Abends war, daß Bernhard einige Tage später sogar auf den Polsterstuhl Finks zu sitzen kam und daß er selbst den Mut faßte, mit Anton auch Fink zu sich einzuladen. »Es ist keine Gesellschaft«, fügte er hinzu, »ich möchte nur Sie beide einmal auf meinem Zimmer sehen.«

Fink sagte zu. Darüber entstand in der Familie Ehrenthal große Aufregung. Bernhard stäubte selbst seine Bücher ab und stellte die verkehrten zurecht, und es geschah das Unerhörte, daß er sich um die Wirtschaft kümmerte. »Es muß Tee sein, Abendessen, Wein, auch Zigarren.«

»Du sollst um nichts sorgen«, beruhigte ihn die Mutter, »wenn der Herr von Fink dein Gast ist, so soll er sehn, wie es in unserm Hause zugeht.«

»Die Zigarren werde ich dir kaufen«, rief der Vater, »wie sie rauchen die jungen Herren, etwas Feines, und ich werde dir auch besorgen den Wein. Laß Fasanen holen, Sidonie.«

»Wir wollen einen Lohndiener annehmen«, sagte die Mutter.

»So will ich's nicht«, widersprach Bernhard ängstlich, »die Herren kommen zu mir als gute Freunde, und so sollen sie aufgenommen werden in meiner Stube und ohne fremden Diener.«

Und als die Stunde des Besuchs herankam, wie wurde da Bernhard eifrig, ja er wurde ärgerlich, nichts war ihm in Ordnung. »Wo ist der Teekessel? Noch steht kein Kessel in meiner Stube«, rief er der Mutter zu.

»Ich werde dir den Tee eingießen und hineinschicken, wie sich's bei Herrengesellschaft paßt«, sagte die Mutter, die im neuen Seidenkleide auf und ab rauschte.[247]

»Nein«, entgegnete Bernhard eigensinnig, »ich selbst will den Tee machen, Wohlfart macht ihn, und Herr von Fink macht ihn.«

»Der Bernhard will selbst den Tee machen!« rief die Mutter verwundert Rosalie zu. »Ein Wunder, er will selbst den Tee machen!« rief Ehrenthal in seiner Schlafstube, in der er gerade unter den Stiefeln klapperte. »Er will Tee machen!« rief die Köchin in der Küche und schlug die Hände zusammen.

Und wieder kam Bernhard in die Wohnstube gerannt, eine geschliffene Flasche in der Hand. »Was ist das hier?« fragte er im Eifer.

»Arrak«, sagte die Mutter.

»Es muß Rum sein. Fink trinkt keinen Arrak im Tee.«

»Ich werde selbst gehen, Rum holen«, rief Ehrenthal, ergriff seinen Hut und lief mit der Flasche zum Nachbar Goldstein, dem Weinhändler.

Auf dem Wege sagte Anton zu Fink: »Es ist hübsch von dir, Fritz, daß du mitkommst. Bernhard wird eine große Freude darüber haben.«

»Der Mensch muß Opfer bringen«, erwiderte Fink. »Ich habe mir die Freiheit genommen, im voraus zu Abend zu essen, denn ich habe einen Abscheu vor Gänsefett. Aber das schönste Mädchen der Stadt ist schon eine Entsagung wert. Ich habe sie neulich wieder im Konzert gesehen, ein prachtvoller Leib. Und welche Augen! Ihr Vater, der alte Wucherer, hat nie einen Edelstein unter seinen Händen gehabt, der so funkelt.«

»Wir sind zu Bernhard eingeladen«, versetzte Anton mit leisem Vorwurf.

»Jedenfalls wird doch die Schwester zu sehen sein«, sagte Fink, »wo nicht, so zwingen wir ihn, sie vorzuführen.«

»Ich hoffe, sie wird unsichtbar sein«, seufzte Anton.

Die Tür öffnete sich, das Entree war durch zwei prachtvolle Lampen erleuchtet, Bernhards Stube war festlich geschmückt. Eine große Blumenvase stand auf dem Tisch, daneben buntes Porzellan, vergoldete Löffel auf seidener Tischdecke, und ein großes Bund Imperiales von riesigem Format, wahre Stangen, die man ohne Stütze zwischen den Lippen nicht erhalten konnte. Auf dem Boden war ein neuer Teppich ausgebreitet, es war alles sehr[248] anständig. Und wie liebenswürdig war Bernhard als Wirt. Er machte den Tee. Er bat in rührender Hilflosigkeit Fink um Rat, wieviel Tee er einschütten solle, er drehte den Hahn so künstlich herum, daß lange Zeit gar nichts aus der Öffnung floß, und dann wieder die Flut nicht zu bändigen war. Errötend scherzte er über seine eigene Ungeschicklichkeit, und seine Augen leuchteten vor Freude, als Fink entschied, der Tee sei vortrefflich. Eifrig bot er die Zigarren, andächtig hörte er die Belehrung, die ihm Fink über das schickliche Maß hielt, in welchem diese Erfindung menschlichen Scharfsinnes geformt werden müsse. Und ganz glücklich wurde er, da Anton endlich bat, dem Freund seine Bücherschätze zu zeigen, und da Fink über das Aussehen der fremden Buchstaben humoristische Glossen machte. Als gute Leute saßen die drei zusammen und plauderten eine Stunde in bester Eintracht. Fink war in der menschenfreundlichsten Stimmung, und Anton bat die Götter im stillen, die schöne Schwester nur heut von ihrem Tisch fernzuhalten.

Doch Punkt neun Uhr öffnete sich die Tür des Nebenzimmers, und Frau Sidonie überschritt majestätisch die Schwelle. »Bathseba tritt ein zu König David«, sagte Fink leise zu Anton; erzürnt drückte ihm Anton den Fuß. Bernhard stellte verlegen vor, die Frau vom Hause lud in das Nebenzimmer, Herr Ehrenthal und Rosalie präsentierten sich. Fink trat zu dem schönen Mädchen, nannte sie gnädiges Fräulein und erzählte ihr, daß er eine alte Bekanntschaft erneuere, da er sie bereits in der Akademie gesehen habe. Er setzte sich zwischen Mutter und Tochter zu Tisch, er sagte ihnen im gleichgültigsten Ton so viele Artigkeiten, daß beide bezaubert wurden. Er rühmte gegen die Mutter die entfernte Residenz, gegen welche diese Stadt ein kleinlicher Haufe von Ziegelsteinen sei, er ließ sich mit Rosalien in eine lebhafte Unterhaltung über Musik ein, für die er sonst wenig Herz hatte, er versprach ihr beim nächsten Wettrennen einen guten Platz auf der Tribüne, er erzählte kleine Geschichten aus der besten Gesellschaft, in denen er mit Humor die Schwächen derselben karikierte. Er entzückte dadurch die Frauen, die mit Eifersucht auf die Kreise hinsahen, die sich gegen Leute von Bildung so sehr abschlossen, er erfreute dadurch auch Bernhard, der auf diese Berichte lauschte, wie auf die Kunde aus fremder Welt. Es war von[249] einer Fürstin die Rede, welche für eine berühmte Schönheit galt, Fink war ihr irgendeinmal vorgestellt worden und fand, daß sie dem Fräulein vor ihm zum Verwechseln ähnlich sah, etwas kleiner war die Fürstin, die Gestalt weniger edel; er bewunderte dreist eine Mosaikbrosche an der Brust von Frau Sidonie und verglich sie mit einem kostbaren Kunstwerk in einem Museum. Nur Vater Ehrenthal war für ihn nicht vorhanden. Nach den ersten Begrüßungen mit Anton machte der Händler einige vergebliche Versuche, mit Fink eine Unterhaltung anzuknüpfen. Aber Fink sprach über ihn weg, als ob ein Stück Luft auf dem Stuhl des Hausherrn sitze. Und doch war er nicht unartig, jedem war, als müßte es so sein. Ehrenthal selbst fand sich mit Demut in die bescheidene Rolle, zu der er verurteilt war, und rächte sich dadurch, daß er einen ganzen Fasan verzehrte.

Als Fink merkte, daß es ein wenig unbequem war, die Frauen zu lebhafter Teilnahme an der Unterhaltung heranzuziehen, fing er an, in seiner Weise mit Worten zu phantasieren.

Die Mutter klagte gegen ihn über Bernhards Stubensitzen.

»Er ist ein Aristokrat«, antwortete Fink gutmütig. »Der zehnte Mensch ist ihm nicht recht. Die Herren Gelehrten haben alle diese Eigentümlichkeit. Wenn ich meinem Schöpfer für etwas dankbar bin, so ist es dafür, daß er mich zu einem einfachen bescheidenen Mann gemacht hat, dessen Kopf nicht stark genug ist, große Weisheit zu vertragen. Uns gewöhnlichen Menschen wird es am leichtesten, mit dieser Welt fertig zu werden, wir sind genötigt, uns in andere zu schicken. Wer aber berechtigt ist, große Ansprüche zu machen wegen seines Wissens oder wegen seiner Schönheit« – hier neigte er sich mit überzeugender Ehrlichkeit gegen die Tochter vom Hause – »der findet leicht die Welt nicht so, wie er sie fordert, während ich und meinesgleichen die Überzeugung haben, daß sie ganz vortrefflich eingerichtet ist.«

»Es ist doch viel Gemeines auf der Erde«, sagte Madame Ehrenthal.

»Daß ich nicht wüßte«, rief Fink lachend. »Ich gebe Ihnen zu, daß einige Insekten einen gemeinen Charakter haben, und daß es gemein ist, sich in Branntwein zu betrinken. Im übrigen kommt vieles auf Ansichten an. Sehen Sie diese Auster. Ich wette, es gibt zahlreiche Fische und Erdbewohner, welche dies holde Geschöpf[250] für etwas Gemeines halten, mir erscheint sie als eine der vornehmsten Erfindungen der Natur. Was verlangen wir von einem Vornehmen? Die Auster hat alles: sie ist ruhig, sie ist still, sie sitzt fest auf ihrem Grund und Boden. Sie schließt sich ab gegen die Außenwelt, wie kein anderes Geschöpf. Wenn sie ihre Schalen zuklappt, so deutet sie auf das Entschiedenste an: Ich bin für niemand zu Hause; wenn sie ihr perlmutternes Haus öffnet, so zeigt sie den bevorzugten Ebenbürtigen ein zartes gefühlvolles Wesen. Wenn der Mensch das Recht hat, etwas Geschaffenes zu beneiden, so ist es die Auster. Sie werden sagen, daß das Seewasser kein ansprechendes Element ist. Aber da muß ich widersprechen. Wer auf die schlechte Gewohnheit verzichten kann, alle Augenblicke nach Luft zu schnappen, wie wir leider tun müssen, für den muß es dort unten auf dem Meeresgrund sehr gemütlich sein.« Er wandte sich zu Rosalie: »Nur die musikalische Bildung der Auster ist, wie ich fürchte, ungenügend. Außer dem Heulen des Sturmwinds und dem Gerassel des Dampfschiffs dringen nicht viele Töne in ihre Behausung.«

»Treiben Sie Musik?« fragte Rosalie.

»Kaum darf ich das zugeben«, erwiderte Fink verbindlich. »Ich klimpere ein wenig auf dem Flügel herum, und wenn ich zu singen versuche, meide ich Menschenwohnungen. Aber ich stehe zur Musik in dem Verhältnis eines unglücklichen Liebhabers. Ich habe ein Instrument, das ich schwärmerisch verehre, und ich würde viel darum geben, wenn ich imstande wäre, dasselbe mit Meisterschaft zu spielen.«

»Die Violine?« fragte Rosalie.

»Vergebung, die Pauke. Ich frage Sie, was heißt spielen auf den andern Instrumenten? Es ist ein ewiges unruhiges Umherrasen von der Höhe zur Tiefe und wieder umgekehrt, eine ungemütliche Anstrengung in allen möglichen Schnelligkeiten, Triolen, Trillern, Tremolos und wie die Quälereien alle heißen. Nur selten erscheint eine lange, dicke, ruhige Note, ein solider Ton, welcher aushallt und nicht von der nächsten Note seinen Fußtritt bekommt. Nehmen Sie dagegen den Ton der Pauke. Welche Kraft, welche Feierlichkeit und welche Wirkung! Und erst der Glückliche, dem ein solches Instrument anvertraut wird! Man sagt den übrigen Virtuosen nach, daß sie reizbar und empfindlich sind, der[251] Pauker wird ein Held, ein großer Charakter, er bekommt eine Weltanschauung, wie sie nur auf dem erhabensten Standpunkt möglich ist. Er pausiert dreißig, fünfzig Takte, unterdes rennt und quiekt das Volk der übrigen Töne durcheinander, wie die Mäuse, wenn die Katze nicht zu Hause ist. Er allein steht in einsamer Größe, scheinbar mit nichts beschäftigt, er nimmt vielleicht eine Prise oder sucht sich lächelnd die schönsten Damen im Zuhörerraum. Aber innerlich denkt er: 27, wartet nur, ihr ruppiges Notengesindel, 28, ich werde euch sogleich eins auf den Kopf geben, 29, diese Geige wird naseweis, 30, bum! er schlägt auf, und die andern Instrumente fahren aufgeregt zusammen, sie fühlen die Sprache ihres Herrn und Meisters, und alle Zuhörer atmen tief auf, das große Wort ist gesprochen.« – Rosalie lachte.

»Ich lasse mir nächstens ein paar Pauken bauen und werde mir die Ehre geben, ein Duett für Pauke und Fortepiano zu schreiben und Ihnen, mein Fräulein, zu widmen, am liebsten ein gefühlvolles Notturno. – Beim Apoll, ein vortrefflicher Wein! Was für ein Landsmann? Ich habe noch nicht die Ehre seiner persönlichen Bekanntschaft.«

»Es ist ein Ungarwein, alter Menes«, rief Vater Ehrenthal über den Tisch, »er hat fünfzig Jahre gelegen im Keller.«

»Kennen Sie die Sorte, Herr Bernhard?« fragte Fink, die Worte des Vaters überhörend.

»Ich verstehe wenig vom Wein«, sagte Bernhard.

»Schade«, erwiderte Fink. »Wer ein Gönner der Poesie ist, wie Sie, der sollte auch etwas auf seinen Weinkeller halten. Aber da wir von Musik sprechen, müssen Sie uns wenigstens sagen, wie Ihre persischen Freunde, die Herren Jussuf und Sadi, ihre Lieder den schwarzäugigen Schönen vorsingen. Bitte, rezitieren Sie uns ein Gedicht auf persische Weise.«

Bernhard setzte ernsthaft auseinander, daß die Musik des Orients für unser Ohr manches Auffallende habe, und hatte lange zu tun, um die angelegentlichen Bitten Finks abzuwehren, welcher durchaus einen Vortrag in Originalsprache und Melodie von ihm hören wollte.

So zog er die Tafel hin bis nach Mitternacht, zuletzt mußte Rosalie sich an den Flügel setzen, dann fuhr auch er mit den Fingern über die Tasten und sang ein wildes Lied in spanischer Sprache.[252]

Als die Gäste sich entfernten, war die Familie entzückt. Rosalie eilte wieder an den Flügel und suchte die Melodie des fremden Gassenhauers zu wiederholen, die Mutter war unerschöpflich im Ruhme des vornehmen Wesens; auch der von den Stühlen der Menschheit gestrichene Vater war über den Besuch des reichen Erben begeistert und wiederholte in angenehmer Weinlaune, daß er über eine Million schwer sei. Selbst Bernhards unschuldige Seele war durch die Art des gewandten Mannes mächtig gefesselt. Wohl hatte er bei den Reden Finks zuweilen ein leichtes Mißbehagen gefühlt, es war ihm vorgekommen, als mache der Fremde sich über ihn und die Seinen lustig, aber er war zu unerfahren, um das vollständig zu übersehen, und beruhigte sich damit, daß solche Gleichgültigkeit zum Wesen der Weltleute gehöre.

Nur Anton war unzufrieden mit dem Freunde und sagte ihm das auf dem Heimwege.

»Du hast gesessen wie ein Stock«, erwiderte Fink, »ich habe die Leute unterhalten, was willst du mehr? Laß dich in eine Maus verwandeln und kriech in die Löcher der aufgeputzten Stube, und du wirst hören, wie sie jetzt mein Lob singen. Kein Mensch kann mehr verlangen, als daß man ihn so behandelt, wie ihm selbst behaglich ist.«

»Ich meine«, sagte Anton, »man soll ihn so behandeln, wie es der eigenen Bildung würdig ist. Du hast dich benommen, wie ein leichtsinniger Edelmann, der morgen bei dem alten Ehrenthal eine Anleihe machen will.«

»Ich will leichtsinnig sein«, rief Fink lustig, »vielleicht will ich auch eine Anleihe bei dem Hause Ehrenthal machen. Schweig jetzt mit deinen Bußpredigten, es ist ein Uhr vorüber.«

Einige Tage später erinnerte sich Anton nach dem Schluß des Comtoirs, daß er dem jungen Gelehrten die Übersendung eines Buches versprochen hatte. Da Fink schon vor einer Stunde weggegangen war und, wie er oft tat, den Paletot Antons mitgeführt hatte, so wickelte dieser sich in Finks Burnus, der auf seiner Stube lag, und eilte in Ehrenthals Haus. Er trat an die weiße Tür und war nicht wenig verwundert, als die Tür geräuschlos aufging und eine verhüllte Gestalt herausschlüpfte. Ein weicher Arm legte sich in den seinen und eine leise Stimme sprach: »Kommen Sie schnell, ich erwarte Sie schon lange.« Anton erkannte Rosaliens Stimme.[253]

Er stand starr wie eine Bildsäule und erwiderte endlich mit dem Erstaunen, das in solcher Lage verzeihlich ist: »Sie verkennen mich, mein Fräulein.« Mit einem unterdrückten Schrei huschte die junge Dame die Stufen hinab, Anton trat kaum weniger erschrocken in Bernhards Zimmer. Er hatte in der Verwirrung den Mantel nicht abgenommen, und erlebte jetzt das Leid, daß der kurzsichtige Bernhard auf ihn zutrat und ihn Herr von Fink anredete. Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf, er schützte gegen Bernhard große Eile vor und trug den unglücklichen Mantel schnell nach Hause über einem Herzen voll Schmerz und Ärger. Wenn es Fink war, der von der schönen Tochter Ehrenthals zu so vertraulichem Abholen erwartet wurde! Je länger Anton auf den Abwesenden wartete, desto höher stieg sein Unwille. Endlich hörte er Finks Tritt auf den Steinen des Hofes und eilte mit dem Mantel zu ihm hinab. Er erzählte kurz, was ihm begegnet war, und schloß mit den Worten: »Sieh, ich hatte deinen Mantel um, und es war dunkel, ich habe den häßlichen Verdacht, daß sie mich für dich gehalten hat, und daß du das Vertrauen Bernhards in unverantwortlicher Weise mißbraucht hast.«

»Ei, ei«, sagte Fink kopfschüttelnd, »da sieht man, wie schnell der Tugendhafte bereit ist, seine Steine auf andere zu werfen. Du bist ein Kindskopf. Es gibt mehr weiße Mäntel in der Stadt, wie kannst du beweisen, daß es gerade mein Mantel war, der erwartet wurde? Und dann erlaube mir die Bemerkung, daß du selbst dich bei diesem Abenteuer in einer Weise benommen hast, die weder artig, noch entschlossen, noch irgend etwas anderes war als täppisch. Warum hast du nicht das Fräulein die Treppe heruntergeführt? Und wenn die Verwechselung unten nicht mehr zu verbergen war, konntest du nicht sagen: Zwar bin ich nicht der, für den Sie mich halten, aber ich bin ebenfalls bereit, in Ihrem Dienst zu sterben, und so weiter.«

»Du täuschst mich nicht«, erwiderte Anton. »Ich traue nicht, daß du mir die Wahrheit sagst. Wenn ich mir alles recht überlege, so kann ich, trotz deinem Leugnen, den Verdacht nicht loswerden, daß du doch der Erwartete warst.«

»Du bist ein kleiner Schlaukopf«, sagte Fink gemütlich, »du wirst mir aber ebenfalls zugestehn, daß ich, da eine Dame im Spiel ist, nichts anderes tun kann, als leugnen. Denn siehst du, mein[254] Sohn, wenn ich dir Geständnisse machte, so würde ich ja die schöne Tochter des ehrenwerten Hauses kompromittieren.«

»Leider fürchte ich«, rief Anton, »daß sie sich ohnedies kompromittiert fühlt.«

»Na«, sagte Fink ruhig, »sie wird's ertragen.«

»Aber Fritz«, rief Anton die Hände ringend, »hast du denn gar keine Empfindung für das Unrecht, das du an Bernhard begehst? Du verleitest die Schwester eines gebildeten und feinfühlenden Menschen zu Torheiten, die für sie verhängnisvoll werden müssen. Gerade daß sein reines Herz in einer Umgebung schlägt, die er nur ertragen kann, weil er so voll Vertrauen ist und so wenig erfahren, gerade das macht dein Unrecht für mich so bitter.«

»Deshalb wirst du am klügsten tun, wenn du das große Zartgefühl deines Freundes schonst und seiner Schwester Verschwiegenheit gönnst.«

»Nein«, erwiderte Anton zornig, »meine Pflicht gegen Bernhard zwingt mich zu etwas anderem. Ich muß von dir fordern, daß du dein Verhältnis zu Rosalie, von welcher Art es auch sei, auf der Stelle abbrichst und dich bemühst, in ihr nur das zu sehen, was sie dir immer hätte sein sollen, die Schwester meines Freundes.«

»So?« entgegnete Fink spöttisch, »ich habe nichts dawider, daß du diese Forderung stellst. Wenn ich aber nicht darauf eingehe, wie dann? Immer vorausgesetzt, was ich überhaupt leugne, daß ich der glückliche Erwartete war.«

»Wenn du nicht darauf eingehst«, rief Anton in großer Bewegung, »so kann ich dir diesen Streich niemals verzeihen. Das ist nicht mehr Mangel an Zartgefühl, es ist etwas Schlimmeres.«

»Und was, wenn's beliebt?« fragte Fink kalt.

»Es ist schlecht«, rief Anton. »Es war schon schlimm genug, daß du die Koketterie des Mädchens benutztest, aber es ist doppelt schlecht, daß du auch jetzt nicht daran denken willst, wie du sie kennengelernt hast, nicht an ihren Bruder und nicht an mich, der ich diese unglückliche Bekanntschaft vermittelt habe.«

»Und du laß dir sagen«, erwiderte Fink, die Lampe seiner Teemaschine anzündend, »daß ich dir durchaus nicht das Recht einräume, mir solche Vorträge zu halten. Ich habe keine Lust, mit dir zu zanken, aber ich wünsche über diesen Gegenstand kein Wort weiter von dir zu hören.«[255]

»Dann muß ich dich verlassen«, sagte Anton, »denn es ist mir unmöglich, mit dir über anderes zu sprechen, solange ich die Empfindung habe, daß du frevelhaft handelst.«

Er ging zur Tür. »Ich lasse dir die Wahl, entweder du brichst mit Rosalie, oder, so furchtbar mir ist, das auszusprechen, du brichst mit mir. Wenn du mir bis morgen abend nicht die Versicherung gibst, daß deine Intrige zu Ende ist, so gehe ich zu Rosaliens Mutter.«

»Gute Nacht, du dummer Tony«, sagte Fink.

Anton verließ den leichtsinnigen Freund. Es war der erste ernsthafte Streit zwischen ihm und Fink. Er war sehr unglücklich über Finks Leichtsinn und schritt bis tief in die Nacht in seinem Zimmer trostlos auf und ab. Dem harmlosen Bernhard etwas zu sagen, erschien ihm bei der Persönlichkeit des Gelehrten bedenklich, er fürchtete, ihn im tiefsten Herzen zu verwunden, und traute ihm wenig Einfluß auf die Schwester zu. Auch Fink war ärgerlich über den Zufall. Er trank seinen Grog diesmal allein und dachte vielleicht mehr an Antons Groll, als an den Schreck der schönen Rosalie.

Der nächste Tag war grau für beide. Sonst, wenn Fink ins Comtoir trat, nickte er dem Freunde, der ihm seit einiger Zeit gegenüber saß, freundlich zu, und Anton kam dann schnell an den Stuhl des andern und fragte leise, wie Fink den letzten Abend verlebt hatte. Heut saß Anton stumm auf seinem Platz und beugte sich tief auf den Brief hinab, als Fink sich ihm gegenüber setzte. Jeder mußte, wenn er aufsah, in das Gesicht des andern blicken, heut hatten beide die Aufgabe zu tun, als ob ihnen gegenüber ein leerer Raum sei. Es war Fink leicht gewesen, den Vater Ehrenthal als Luft zu behandeln, bei Anton war auch ihm das lästig, und Anton, der keine solche Gewandtheit im Übersehen fremder Körper hatte, fühlte sich höchst unglücklich, wenn er nach rechts und links ausschauen mußte, bei dem Kopf des andern vorbei, über ihn weg, immer gleichgültig, wie der Kriegsbrauch zwischen Schmollenden nötig macht. In der Mitte des Vormittags kam das Frühstück in das Comtoir, dann wurde eine kurze Pause gemacht, die Herren standen von ihren Plätzen auf und traten zusammen. Heut blieb Anton sitzen, weil sein Platz der einzige Ort war, welcher ihn vor der Berührung mit Fink sicherte.[256] Alles verschwor sich, beiden ihre Rolle schwerzumachen. Schmeie Tinkeles erschien im Comtoir, und Fink hatte wieder eine lächerliche Verhandlung. Alle Herren sahen auf Fink und sprachen mit ihm; sonst hatte Anton dem Freunde fröhliche Zeichen des Einverständnisses gemacht, jetzt starrte er vor sich hin, als ob Tinkeles hundert Meilen entfernt wäre. Herr Schröter gab Anton einen Auftrag, bei dem er Fink um Auskunft fragen mußte. Anton war genötigt, sich vorher stark zu räuspern, damit seine Stimme nicht gepreßt klang, und als Fink eine kurze Antwort gab, kränkte ihn das, und sein Zorn gegen den Verstockten loderte wieder zu heller Flamme auf. Zum Mittagessen waren die beiden immer zusammen gegangen, Fink hatte regelmäßig gewartet, bis Anton ihn abholte. Heut kam Anton nicht. Fink ging mit Herrn Jordan ins Vorderhaus, so daß Jordan verwundert fragte: »Wo bleibt denn Wohlfart?« und Fink mußte sagen: »Wo er will.«

Am Nachmittag konnte Anton sich nicht enthalten, einigemal heimlich von seinem Briefe aufzusehen und den Kopf und das stolze Angesicht des andern zu betrachten. Dabei mußte er denken, wie fürchterlich es für ihn sei, von jetzt ab dem Manne fremd zu werden, an dem er so sehr hing. Aber er blieb fest. Auch jetzt, wo der erste Zorn verraucht war, fühlte er, daß er nicht anders handeln konnte. Diese Überzeugung rührte ihm das Herz. Und in solcher Stimmung vermied er nicht mehr auf den Platz des verlornen Freundes zu schauen. Als Fink aufblickte, sah er das Auge Antons voll Trauer auf seinem Gesicht ruhen. Der schmerzliche Ausdruck beunruhigte den Rücksichtslosen mehr als der frühere Zorn. Er erkannte daraus, daß Anton fest war, und die Waagschale, worin Rosalie saß, fuhr in die Höhe. Wenn Anton in seiner Spießbürgerlichkeit zu Rosaliens Mutter ging, so wurde ihm das Abenteuer doch verdorben. Zwar um den Zorn der Mutter kümmerte er sich wenig, Rosalie mochte sehn, wie sie mit ihr fertig wurde, aber der Gedanke an den harmlosen Bernhard war ihm unbehaglich. Und was das Schlimmste war, sein eigenes Verhältnis zu Anton war für immer zerstört, sobald dieser erst mit einer dritten Person über die Liaison gesprochen hatte. Diese Erwägung zog ihm die Stirn in Falten.

Kurz vor sieben Uhr fiel ein Schatten auf Antons Papier. Anton[257] sah auf, Fink hielt ihm schweigend einen kleinen Brief über das Pult, die Aufschrift war an Rosalie. Anton sprang von seinem Sitz auf.

»Ich habe an sie geschrieben«, sprach der andere mit eisiger Kälte; »da deine Freundschaft mir nur die Wahl läßt, entweder das Mädchen zu kompromittieren oder meine Studien über eine interessante Völkerseele aufzugeben, so muß ich mich zu dem letzteren verstehen. Hier ist der Brief. Ich habe nichts dagegen, daß du ihn liest. Es ist ihr Laufpaß.«

Anton nahm den Brief aus der Hand des Sünders, siegelte ihn in der Eile mit dem kleinen Comtoirstempel und übergab ihn einem Hausknecht zur schleunigen Abgabe auf der Stadtpost.

So war die Gefahr beseitigt, aber es blieb seit diesem Tage eine Spannung zwischen den beiden Verbündeten. Fink grollte, und Anton konnte nicht vergessen, was er Verrat an seinem Freund Bernhard nannte. Und Fink trank durch einige Wochen seinen Tee nicht in Antons Gesellschaft.

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 236-258.
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