Die Musik für mich

[70] Ich kann das Wesen und Weben der Musik nicht verstehn, ihre innern Gesetze bleiben mir verborgen, auch ist mein Urtheil über das was in ihr vortreflich[70] ist, und was nicht, schwankend, und trüglich. Meine Aufmerksamkeit kann eine schöne Musik nicht in ihrer Bahn begleiten; Ich höre eine Weile zu, bald aber verliehrt sich mein Geist in einer Reihe kommender und gehender Bilder, die den wechselnden Vorstellungen, bunter Träume gleich komen, bald sehe ich dunkle Wolken von brausenden Stürmen eilend dahingetragen, dann ein dunkles Meer von bleichem Mondschein erhellt, das sich schäumend an schwarzen Felsen bricht. Diese und viele andre Vorstellungen zum Theil aus meinem Leben, gehn schnell auf- und abwoogend, an meiner Seele vorüber; und dies Leben das die Musik in mir erwekt wird mir so mächtig daß ich sie nicht mehr vernehme; und eine Musik die nicht ähnlich auf mich wirkt macht mir wenig Freude. Der Sturm ist mir ein wahrer Auferwecker von den Todten. Denn wenn ich sein Brausen vernehme gehn mir die Bilder der Vergangenheit aus ihren Gräbern hervor, und ich wandle noch einmal unter ihnen.

Quelle:
Karoline von Günderrode: Gesammelte Werke. Band 1–3, Band 3, Berlin-Wilmersdorf 1920–1922, S. 70-71.
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