[Zeuch aus, gefangne Seele]

[57] [57] Den seeligen Hintritt der Fr. Agneta Philippina Rüdigern, des Herrn Christ. Heinr. Rüdigers, Bürgers und Papiermachers in Schweidniz, innigst-geliebten Eheliebsten, bediente den 28. Febr. A. 1715. als am Tage der Beerdigung mit der begehrten Abschiedsaria.


J. C. G.


Zeuch aus, gefangne Seele,

Weil Stahl und Kercker bricht,

Des Leibes Jammerhöhle

Hemmt deine Freyheit nicht;

Das Grab, mein Ruheküßen,

Begräbt die Sclaverey;

Da nun der Strick zerrißen,

So wird der Vogel frey.


Du lezter meiner Tage,

Wie sehnlich und wie oft

Hab ich bey Angst und Plage

Nicht auf dein Licht gehoft!

Ich rief im Unglückswetter:

Ach, Herr, erbarme dich,

Dein Arm sey mein Erretter,

Wo nicht, so tödte mich!


Die Hofnung sieht ihr Ende,

Mein Wuntsch erreicht sein Ziel;

Verwerft, entbundnen Hände,

Was euch beschwerlich fiel!

Die Folterbanck der Glieder

Zerschmeist der Leichenstein;

Drum müst ihr Sterbelieder

Mein Halleluja seyn.
[58]

Nach so viel Marterwochen

Erscheint das Jubeljahr,

Gott hat das Holz zerbrochen,

Das mir manch Creuz gebahr.

Mein Fuß verläst mit Freuden

Den Schauplaz dieser Welt,

Wo ich nebst meinem Leiden

Die Rahel vorgestellt.


Mein Ohr vernimmt das Zeichen,

So mir zu Schife ruft;

Last nun die Seegel streichen,

Der Hafen meiner Gruft

Macht, daß ich nicht mehr strande,

Der Himmel wird mein Haus;

Wohlan, wir sind am Lande,

Steig, müder Geist, steig aus!


Du Hälfte meines Herzens,

Mein Ehschaz, gute Nacht,

Vergiß des herben Schmerzens,

Der dich zum Wittwer macht;

Das Feuer unsrer Liebe

Verlöscht kein Thränenguß,

Jezt reicht dir deine Riebe

Den lezten Abschiedskuß.


Ihr mutterlosen Erben,

Die meine Brust gesäugt

Und die mein frühes Sterben

Fast zu der Erde beugt,

Euch las ich meinen Seegen;

Wo er bekleiben soll,

So geht auf Gottes Wegen;

Ihr Kinder, lebet wohl!
[59]

Du, dem ich, weil ich lebe,

Mich selber schuldig bin,

Nimm auch von deiner Rebe

Die Pflicht der Ehrfurcht hin.

Dein väterliches Sorgen

Muß mir das Lösegeld

Bis auf den Tag noch borgen,

Der allen Rechnung hält.


Ihr Freunde vom Geblüte,

Die ihr mich Schwester nennt,

Ertragt auf meine Bitte,

Was ihr nicht ändern könt.

Erwegt bey meinem Falle,

Der Höchste hats gethan.

Ihr folgt mir endlich alle;

Genung, ich geh voran.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 5, Leipzig 1935, S. 57-60.
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