[Das Leben gleichet einer Schule]

[98] Die gefehrliche Lebensschule, bey Beerdigung des Herrn M. Christian Friedrich Kranewitters, der wittenbergischen Stadtschulen Rectoris.


Das Leben gleichet einer Schule,

Wo die Gefahr ihr Amt beschüzt

Und täglich auf dem Lehrerstuhle

Zur Unterweisung mühsam sizt.

Man fühlet die Verfolgungsruthen

Und wird durch eignen Schaden klug;

Ja, wenn schon Aug und Herzen bluten,

Spricht doch das Unglück nicht: Genug!


Man läst sich durch die Classen führen,

Man lernt das Elends-A. B. C.

Die Wiege lehrt uns buchstabiren,

Hier aber sezt es lauter W.

Denn lesen wir die Klagelieder,

Eh noch die Zunge lesen kan,

Und deuten durch die schwachen Glieder

Gewißer Fälle Zukunft an.


Die andre Classe bringt die Jugend,

Hier schreibet uns der Ehrgeiz vor,

Die Wollust zieht uns von der Tugend

Gar oft in ihr Syrenenchor.

Man lernt des alten Adams Sprache

Aus angebohrner Fähigkeit,

Zumahl wenn man sich im Gelache

Der unerkandten Sünden freut.


Drauf rückt man auf der Creuzbanck höher,

Wenn sich die Lust des Ehstands zeigt;

Da wird man ein Pythagoraeer,

Der die geheime Noth verschweigt.[128]

Der Kummer weckt uns alle Morgen;

Dann giebt uns die Erfahrung ein,

Daß Bücher den vermehlten Sorgen

Voll lauter schwarzer Creuze seyn.


Zulezt kommt uns im Kranckenbette

Die Kunst zu sterben schwerer für,

Als man es je gemeinet hätte:

Da liegen, flehn und ächzen wir,

Da faßen wir am Lebensrande

Den Predger von der Eitelkeit,

Bis uns in dem bedrängten Stande

Das Buch der Gnade Trost verleiht.


Hierinnen weist sich dein Gemüthe,

Wohlseeligster, mehr als geübt,

Da dein erkaltendes Geblüte

Der Seelen willig Abschied giebt.

Du sprichst das schwere Wort: Ich sterbe,

Mit ungezwungner Großmuth aus,

Du läst der Welt ihr armes Erbe

Und ziehst ins rechte Weißheitshaus.


Der Schulstaub machte deinem Rücken

Nicht selten eine schwere Last,

Die du mit unverwandten Blicken

Bey Fleiß und Müh getragen hast.

Jezt kanstu sie in Sarg verschließen

Und nach gethaner Arbeit ruhn,

Da, wo dich Glück und Wollust küßen

Und stets nach deinem Willen thun.


Die Bäume, welche du gezogen

Und in der Schule wohl gepflegt,

Sind treuer Lehrer Ehrenbogen,

Worein sich dein Gedächtnüß prägt.

Hieraus verkrazt der Zeiten Finger[129]

Von deinem Nahmen keinen Strich;

Denn Meister leben durch die Jünger

Auf allen Zungen ewiglich.


Betrübte Wittwe, dein Vergnügen

Wird mit der Baare fortgeschickt;

Du siehst dein Herz im Grabe liegen,

Das dir den halben Geist entrückt.

Allein es sind die festen Schlüße,

Die niemand hintertreiben kan;

Drum stille deine Thränengüße:

Der Herr hat alles wohl gethan.[130]

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 6, Leipzig 1937.
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