Als er über den Lauf der jezigen Welt sich beklagete

[176] Wem die Welt von allen Seiten

Und der Lauf der lezten Zeiten

Täglich in die Augen fällt,

Diesem kan man nicht verdencken,

Wenn ihm Ärgernüß und Kräncken

Alles Lebens Lust vergällt.


Soll man ja die Warheit sagen,

Hat man in den Kindheitstagen

Freylich noch die göldne Zeit;

Schlafen, Spielen, Scherz und Lachen

Und kein Kummer toller Sachen

Geben uns Zufriedenheit.


Aber diese kurze Freude

Wird hernach zu größerm Leide

Und vergeht auch wie ein Traum;

Denn so bald die Jugend blühet

Und uns unter Umgang ziehet,

Finden schon die Sorgen Raum.


Last den Hochmuth hizig rennen

Und nach hohem Range brennen –

Was gewinnt er? Furcht und Last.

Unruh liegt im Ehrenbette,

Und der Sorgen Sclavenkette

Hält auch Fürsten oft umfast.


Schäze, die man sich erschwizet,

Bringen den, der sie besizet,

Oft um manche gute Nacht;

Lehnt man sie der Welt zum Besten,

Wird man von des Undancks Gästen

Noch mit Schaden ausgelacht.
[177]

Täglich in Gesellschaft leben

Heist sich auf ein Meer begeben,

Wo ein steter Sturm regiert;

Wer nur etwan halb geglitten,

Wird beredt, verhöhnt, verschnidten,

Ja wohl gröber abgeführt.


Die uns vorwärts freundlich küßen,

Reißen mit Verleumdungsbißen

Heimlich unser Ehrenkleid;

Schäzt und ehrt man uns vor andern,

Muß man gleich auf Dörnern wandern,

Die der Feind verdeckt gestreut.


Auch die allerbesten Schwestern

Schämen sich nicht, die zu lästern,

Der sie sich sonst selbst vertraun;

Mienen, Kleider und Gebehrden

Müßen arme Sünder werden,

Welchen viel den Richtplaz baun.


Schweigt man still, so heist's gezwungen,

Giebt man zu, so sind die Zungen

Der Verleumder noch so scharf,

Daß sie mehr zur Rache lügen,

Bis wir Zanck und Händel kriegen,

Die man auch nicht ahnden darf.


Schonen uns auch fremde Gloßen,

Geben gar die Hausgenoßen

Unsern Feinden Zung und Wind,

Bis die Lehrer eingenommen

Und wir auf den Holzstoß kommen,

Wo die Flüche Flammen sind.


Wär auch alles zu verschmerzen,

So ist dies ein Stein im Herzen,[178]

Daß auch ehrlich nicht mehr gilt;

Hat man noch so treue Sinnen,

Wird man doch nur Spott gewinnen,

Wo man nicht wie andre schilt.


Freunde, die uns Farbe halten,

Schlafen längst mit unsern Alten

Und sind jezo nur verstellt.

Bey dergleichen eitlen Sachen

Dürft ich fast den Ausspruch machen:

Einsam oder von der Welt!


Doch was einsam? Misgunstsblicke

Schleichen sich mit Gift und Tücke

In den tiefsten Winckel ein;

Soll uns nun kein Neid entdecken,

Muß man sich wohin verstecken?

Unter einen Leichenstein.


Sichre Freyheit vor dem Jammer,

Holde Gruft, Vergnügungskammer,

Sanftes Lager lezter Ruh!

Deine Gegend bald zu füllen,

Eilt mein Geist mit Lust im Stillen

Schon in Hofnung freudig zu.


Dieser Raum von wenig Ellen

Schüzt mich vor den bösten Fällen,

Die im Leben weh gethan;

Hier verstummt des Neides Toben

Und da fängt er an zu loben,

Was er nicht mehr drücken kan.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Leipzig 1931, S. 176-179.
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