Die unwiederbringliche Zeit

[114] Ich weis noch wohl die liebe Zeit,

In der ich mich genug erfreut;

Was waren das vor süße Tage!

Die Schläfe trugen Blum und Glut

Und kannten weder Wuntsch noch Plage

Noch was den Greisen bange thut.


Mein Sorgen gieng auf Lust und Scherz;

Mein Herz war Amianthens Herz,

Wir zehlten weder Kuß noch Stunden,

Tanz, Schauplaz, Gärthe, Spiel und Wein

Und aller Vortheil der Gesunden

Nahm Blut und Geist mit Wollust ein.


Wie? Was? Erzehl ich einen Traum?

Zum wenigsten gedenckt mich's kaum,

Mein Gott, wie ist die Zeit entronnen!

Was hastu, Herz, von aller Lust?

Dies, daß du Reu und Leid gewonnen

Und wißen und entbehren must.


Ihr, die ihr die Natur versteht

Und durch die Kunst oft höher geht,

Ihr könt euch mir recht sehr verbinden:

Ach sagt mir doch, ich fleh euch an,

Wie soll ich die Maschine finden,

Die Zeit und Jugend hemmen kan?

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Leipzig 1931, S. 114-115.
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