An Leonoren

[231] Gedenck an mich und meine Liebe,

Du mit Gewalt entrißnes Kind,

Und glaube, daß die reinen Triebe

Dir jezt und allzeit dienstbahr sind

Und daß ich ewig auf der Erde

Sonst nichts als dich verehren werde.


Gedenck an mich in allem Leiden

Und tröste dich mit meiner Treu!

Die Luft mag jezt empfindlich schneiden,

Die Wetter gehn doch all vorbey,

Und nach dem ungeheuren Knallen

Wird auch ein fruchtbahr Regen fallen.


Gedenck an mich in deinem Glück,

Und wenn es dir nach Wuntsche geht,

So seze nie den Freund zurücke,

Der blos um dich in Sorgen steht!

Auch mir kan bey dem besten Leben

Nichts mehr als du Entzückung geben.


Gedenck an mich in deinem Sterben;

Der Himmel halte dies noch auf,

Doch sollen wir uns nicht erwerben

Und zürnt der Sterne böser Lauf,

So soll mir auch das Sterbeküßen

Die Hinfahrt durch dein Bild versüßen.


Gedenck an mich und meine Thränen,

Die dir so oft das Herz gerührt

Und die dich durch mein kräftig Sehnen

Zum ersten auf die Bahn geführt,

Wo Kuß und Liebe treuer Herzen

Des Lebens Ungemach verschmerzen.
[232]

Gedenck auch endlich an die Stunde,

Die mir das Herz vor Wehmuth brach,

Als ich wie du mit schwachem Munde

Die lezten Abschiedsworte sprach;

Gedenck an mich und meine Plagen!

Mehr will und kan ich jezt nicht sagen.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 231-233.
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