An seine Leonore

[202] Bistu denn noch Leonore,

Der so manch verliebter Schwur

(Sinne nach, bey welchem Thore!)

Unter Kuß und Schmerz entfuhr,

Ach, so nimm die stummen Lieder

Eben noch mit dieser Hand,

Die mir ehmahls Herz und Glieder

Mit der stärcksten Reizung band.


Durch dein sehnliches Entbehren

Werd ich vor den Jahren grau,

Und der Zufluß meiner Zähren

Mehrt schon lange Reif und Thau;

Meine Schwachheit, mein Verbleichen

Und die Brust, so stündlich lechst,

Wird des Kummers Siegeszeichen,

Der aus unsrer Trennung wächst.


Lust und Muth und Geist zum Dichten,

Feuer, Jugend, Ruhm und Fleiß

Suchen mit Gewalt zu flüchten

Und verlieren ihren Preis,

Weil der Zunder deiner Küße

Meinen Trieb nicht mehr erweckt

Und die Führung harter Schlüße

Ein betrübtes Ziel gesteckt.


Alle Bilder meiner Sinnen

Sind mir Eckel und Verdruß,

Da sie nichts als Gram gewinnen,

Weil ich dich noch suchen muß;

Nichts ergözt mich mehr auf Erden

Als das Weinen in der Nacht,

Wenn es unter viel Beschwerden

Dein Gedächtnüß munter macht.
[203]

Jedes Blat von deinen Händen

Ist ein Blat voll Klag und Weh,

Und ich kan es niemahls wenden,

Daß kein Stich ans Herze geh;

Die Versichrung leerer Zeilen

Giebt den Leibern wenig Kraft,

Welche Luft und Ort zertheilen.

O bedrängte Leidenschaft!

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 202-204.
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