Eher todt als ungetreu

[190] Eher todt als ungetreu!

Dieser Leichentext soll zeigen,

Daß ich, wenn die Wetter steigen,

Gleichwohl Leonorens sey.


Eher todt als ungetreu!

Soll ich dich, mein Kind, nicht heben,

Halt ich alle Lust im Leben

Vor des Himmels Tyranney.
[190]

Eher todt als ungetreu!

Was gewinnt man auf der Erden?

Hofnung, Kummer und Beschwerden

Und zulezt nur späte Reu.


Eher todt als ungetreu!

Irrthum, Sehnsucht und Gedancken

Reißen durch der Jugend Schrancken

Unsre Freude bald vorbey.


Eher todt als ungetreu!

Treue Liebe läst die Plagen

Böser Zeiten noch ertragen

Und erquickt in Sclaverey.


Eher todt als ungetreu!

Du mein Schaz und ich dein Glücke,

So verlachen wir die Stricke

Der vergällten Heucheley.


Eher todt als ungetreu!

Neid und Pöbel kan nicht faßen,

Wenn wir ihm die Güter laßen,

Wie so wohl uns beiden sey.


Eher todt als ungetreu!

Tröste dich mit diesem Spruche,

Neh ihn auf dem Leichentuche

Neben unser Conterfey.


Eher todt als ungetreu!

Glaube das, du treue Seele,

In der finstern Grabeshöhle

Schläft mir auch dein Schatten bey.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 190-191.
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