Ode

[181] Damon.


Als Lenchen noch mit treuem Herzen

Allein an Damons Lippen hing

Und durch kein frech und eitles Scherzen

Bey andren Buhlern naschen gieng,

Da hätt ich mit dem grösten Kayser

Warhaftig keinen Tausch gethan,

Da sah ich auch die reichsten Häuser

Ohn Ärgernüß und Sehnsucht an.


Lenchen.


So lang als Damons rein Gewißen

Mir freundlich unter Augen trat,

So lange noch kein andres Küßen

Dem armen Lenchen Eintrag that,

So lange machte mein Gerüchte

Bey zärtlicher Zufriedenheit

Den Ruhm Penelopens zu nichte;

Allein was ändert nicht die Zeit?


Damon.


Jezt tröst ich mich mit Leonoren

In heiß- und angenehmer Pein,

Mein Vers ergözt ihr Geist und Ohren

Und bringt mir manche Nachtlust ein.

Sie ist ein Kind von edlen Sitten,

Und eh ich sie verlieren kan,

Eh will ich selbst den Himmel bitten,

Er fang an mir die Trennung an.


Lenchen.


Mich feßeln auch Selanders Blicke,

Und ihn entzückt mein weicher Arm,

Die Eintracht schenckt uns Ruh und Glücke

Und macht uns unter Rosen warm.

Ich weis, wie viel ich an ihm habe,

Wir sind ein Herz und auch ein Sinn;

Erlöst ich ihn dadurch vom Grabe,

So fiel ich selber zehnmahl hin.


[182] Damon.


Wie, wenn ich Leonoren haste?

Wie, wenn ich dich, mein erstes Licht,

Mit neuer Reu und Huld umfaste?

Ach, alte Liebe rostet nicht.

Wie, wenn es zur Versöhnung käme

Und Lenchen vor Selanders Brust

Den treuen Damon wieder nähme?

Ein kurzer Krieg mehrt oft die Lust.


Lenchen.


So scharf ich gegen ihn entbrenne,

So schön, galant und treu er ist,

So gut ich deine Regung kenne

Und weis, was vor ein Rohr du bist,

So wenig kan ich mich bezwingen,

Dem Damon länger gram zu seyn.

Komm, las uns miteinander singen:

Ich leb und sterbe dir allein.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 181-183.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gesammelte Gedichte
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Gedichte Von Johann Christian Günther (German Edition)

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon