Als er das, was er liebte, entbehren muste

[19] Etwas lieben und entbehren

Ist ein Schmerz, der heimlich quält;

Wenn die Blicke Zungen wären,

Hätten sie dir längst erzehlt,

Was dein Wesen, kluges Kind,

Über mich vor Macht gewinnt.


Dencke, wie es martern müße,

Wenn ein müder Pilgersmann

Von dem Ufer tiefer Flüße

Keinen Trunck erreichen kan

Und mit Sehnsucht und Verdruß

Wasser sehn und dursten muß.


Deiner Schönheit reife Früchte

Martern mich ja auch zu scharf,

Denn sie sind nur Schaugerichte,

Die mein Mund nicht kosten darf.

O betrübter Appetit,

Der verbothne Früchte sieht!


Schilt dein zorniges Empfinden

Mein verwegen Lüsternseyn,

So vergieb den schönen Sünden,

Denn sie sind hauptsächlich dein,

Weil du gar so reizend bist,

Daß man sich aus Lust vergißt.


So ein feuerreich Gemüthe,

Das die netten Glieder lenckt

Und sowohl Verstand als Güte

Unter Blick' und Küße mengt,

Solches, sag ich, läst nicht zu,

Daß man unempfindlich thu.
[20]

Gleichwohl lern ich mich bescheiden

Und begnüge mich daran,

Wenn dein Bild mein stummes Leiden

Nur im Traume lindern kan

Und ich nachmahls auf den Tag

Dir die Ehrfurcht zeigen mag.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 19-21.
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