An die Phillis

[247] Ich verschmachte vor Verlangen,

Meine Phillis zu umfangen.

Harter Himmel, zürnst du noch?

Faule Stunden, eilet doch!

Eilet doch, ihr faulen Stunden,

Und erbarmt euch meiner Noth!

Wird der Riß nicht bald verbunden,

Blutet sich mein Herze todt.


Liebste Seele, las dich finden!

Ich spaziere durch die Linden,

Durch die Thäler, durch den Hayn

In Begleitung süßer Pein;

Ich durchkrieche Strauch und Höhlen,

Such in Wäldern weit und nah

Die Vertraute meiner Seelen,

Dennoch ist sie nirgends da.


Ich beschwöre selbst die Hirten

Bey den Heerden, bey den Myrthen,

Die vielleicht der Liebe Pflicht

Um die bunten Stöcke flicht:

Wist ihr nicht der Phillis Spuren?

Habt ihr nicht mein Kind erblickt?

Kommt sie nicht mehr auf die Fluren,

Wo wir manchen Strauß gepflückt?


Die ihr alles hört und saget,

Luft und Forst und Meer durchjaget,

Echo, Sonne, Mond und Wind,

Sagt mir doch, wo steckt mein Kind?

Soll sie schon vergöttert werden,

Beth ich sie vielleicht herab,

Oder ziert sie noch die Erden,

O so reis ich bis ans Grab.
[248]

Sage selbst, entrißne Seele,

Welcher Weinberg, welche Höhle,

Welcher unbekandte Wald

Ist anjezt dein Aufenthalt?

Sage mir, damit ich folge,

Wär es auch des Nilus Strand,

Wär es auch die kalte Wolge,

Zög ich gern durch Eiß und Sand.


Weis mir nichts Bericht zu geben?

O was ist das vor ein Leben,

Das ich jezo ohne sie

Als mein Joch zur Baare zieh!

Himmel, las dir nicht erst fluchen,

Ich begehre sie von dir –

Bin ich nicht ein Thor im Suchen?

Phillis lebt ja selbst in mir.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 247-249.
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