An die Doris, welcher er seine Liebe bey Gelegenheit eines Traumes entdeckte

[109] Auf der blumenvollen Heide,

An der schattenreichen Bach

Sann ich jezt der Augenweide

Des vergangnen Traumes nach,

Der mich darum drückt und quält,

Weil mir nunmehr wachend fehlt,

Was mir deine Lust vermehlt.


O was waren das vor Glieder!

O welch schöner Selbstbetrug

Riß mich vor Entzückung nieder!

O da küst ich kaum genug,

Bis die Morgenröthe kam

Und aus Misgunst oder Scham

Bildnüß, Lust und Schlummer nahm.


Unaussprechliches Ergözen,

Soll ich dich nicht wiedersehn?

Nein, nach solchen theuren Schäzen

Darf ich wohl nicht wachend flehn.

Sezt dein Schatten meiner Ruh,

Schönste Doris, schon so zu,

Dencke, was dein Antliz thu.


Deiner Augen scharfes Blicken

Zeigt mir einen hohen Geist,

Der zum Herrschen und Entzücken

Gleiche Kraft und Anmuth weist;

Dieses ward ich mit Gefahr

Meiner Freyheit nechst gewahr,

Als dein Strahl die Glut gebahr.


Doris, halt es nicht vor Scherzen;

Ich verachte Spott und Neid,[110]

Hätt ich auch noch tausend Herzen,

Blieben alle dir geweiht.

Trag ich einen Tropfen Blut,

Welcher dir kein Opfer thut,

So verzehr ihn Gift und Glut.


Die Vergnügung wahrer Liebe

Ist nicht eben so gemein,

Der Gemüther gleiche Triebe

Müßen ihre Quellen seyn;

Prüfe mich und sey vergnügt,

Daß ein Herz, so du besiegt,

Auch mit Ehrfurcht vor dir liegt.


Von der Wiege bis zur Baare

Ist gar oft ein kurzer Schritt.

Doris, nimm die besten Jahre

Und die Lust der Jugend mit,

Eh der Lippen May verblüht

Und die Zeit, so plözlich flieht,

Farbe, Muth und Lust entzieht.


Kommt mein Ziel an Lebensschrancken,

Wüntsch ich von der Phantasie,

Daß dein Bildnüß in Gedancken

Mich der Welt vergnügt entzieh;

Dieses wüntsch ich und dabey,

Daß der Spruch der Grabschrift sey:

Klug, verschwiegen und getreu.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 109-111.
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