Wie König Sigurd Alfsonnen traf

[382] Lenz war gekommen. Der lichte Schnee zerschmolz

An den Bergeshalden, in Veilchen stand das Holz;

Die blaue Meereswoge glänzte frei von Eis,

Da ging zu Schiffe Sigurd, der königliche Greis.[382]


Umfahrt wollt' er halten von Upsalas Strand

Entlang die hohen Küsten, daß überall am Land

Er nähme Schoß und Gaben und mit Spruch und Schwert

Des alten Rechtes pflegte, so jemand hätte des begehrt.


Es war der neunte Morgen, seit die Fahrt begann;

Gehalten war der Frühtrunk von Skald' und Rittersmann,

Die Segel und die Taue rauschten allzumal

Vom lauen Maienwinde: da kamen sie gen Skiris-Sal.


Als das Schiff gelandet, da sprach der König gut:

»Wie singt mein Herz so fröhlich, wie fleugt so hoch mein Mut!

Ich weiß nicht, tut's der Frühling, oder tut's der Wein;

Mir ist, als sollt' ich heute ein Jüngling wieder sein.«


Sie schritten hastig fürder auf gelbem Ufersand,

Das Land in acht zu nehmen; da trafen sie am Strand

Eine Schar von Mägden, die am Erlenbusch,

Wo in das Meer ein Bach ging, Gewand und Linnen wusch.


Es lachten und es sangen bei der Arbeit frei

Die frohgemuten Dirnen, eine Jungfrau stand dabei;

Aller Herrin schien sie, da sie des Werks vergaß.

Auch trug sie güldne Spangen; ein Falk auf ihrer Schulter saß.


Sie stand in süßer Jugend; ihr rosig Antlitz war

Wie die Morgenfrühe, es floß ihr goldenes Haar

In langen Ringeln schimmernd herab auf ihr Gewand,

Daß schier der lichten Spangen Gefunkel davor schwand.


Da dachte Sigurd bei sich in seinem Sinn:

»Holdselig ist die Jungfrau, so wahr ich König bin!

Trotz meiner achtzig Jahre die führ' ich heim als Braut.

Sonst bricht mein Herz vor Liebe.« Doch sagt' er das nicht laut.


Nach ihr den Skalden fragt' er. Der sprach: »Herr König, wißt,

Daß sie Alfs des Weisen vielhohe Tochter ist;[383]

Ihr Leib ist frisch und wonnig, die schönste wohl im Land,

Ihr Goldhaar strahlt sonnig. Alf-Sonne ist sie drum genannt.


Mit wundersamer Tugend gegürtet ist die Maid;

Es pflegen ihrer Jugend ihre Brüder beid',

Alf geheißen Blondbart und Erek Harfenschall,

Seit Alf der Weise zechet mit Odin in Walhall.«


Zur Jungfrau sprach da Sigurd: »Gesegnet sei die Frist,

Da du Minnigliche mir begegnet bist!

Doch darf ich eins dich bitten, so bring' im Kruge dein

Einen kühlen Trunk mir. Dort oben quillt das Bächlein rein.«


Alfsonne ging und schöpfte; den Krug hielt sie dar;

Langsam trank der König. Da deucht' es ihm fürwahr,

Als tränk' er Lieb' und Jugend, der eisgraue Mann;

Wohl keiner je aus Wasser solche Lust gewann.


Und lächelnd sprach er weiter: »Nun sollst du haben Dank,

Daß du mich so erquicket; doch wüßt' ich süßern Trank,

Das ist von deinen Lippen der rote Freudenwein,

Labsal für Heldenherzen, die Minne schenkt ihn ein.


Hei, daß ich davon zechte! Mir wär' es wohlgetan

Bei Tag und in den Nächten.« – Da sah ihn finster an,

Rot vor Scham und Zorne, die wonnigliche Maid:

»Ich merke«, rief sie scheltend, »daß Ihr aus weiter Fremde seid;


Wie möchtet Ihr sonst reden zu einem Edelkind

Als ein lockrer Bube, der um Dirnen minnt!

Und wärt Ihr selbst ein Recke oder ein König gar:

Solch Schwatzen dünkt mich Schande für Euer graues Haar.«


Sie warf in ihrem Zürnen in den Bach den Krug,

Daß er auf den Kieseln zu tausend Scherben schlug

Und hoch das Wasser spritzte. Dann floh sie längs der Bucht

Gleich einer weißen Hinde mit windschneller Flucht.[384]


Nachflog ihr der Falke. Erstaunt blieb Sigurd stehn;

Ihm war's, er hätte nimmer so reizend sie gesehn

Denn in ihrem Schelten. Dann strich er sich den Bart:

»Wohlauf, ihr wackern Degen! Gen Alfheim geht die Fahrt.«

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 382-385.
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