9.

[402] Spanisches bringt mir die Post? Was seh' ich! Die eigenen Lieder

Sind's; im kastilischen Vers staunend erkenn' ich mich selbst.

Was ich als Jüngling sang, wie vertraulich zugleich und wie fremd doch

Grüßt es mich hier und erscheint frischer und zierlicher fast,

Wie mein Töchterchen jüngst, zum Faschingsballe gerüstet

In des Zigeunergewands Flittern mir doppelt gefiel.


Harmlos warf ich euch hin, ihr Gesänge der Jugend, und immer

Blieb mir ein Rätsel die Gunst, die man so reich euch gewährt;

Denn leichtwiegend erscheint ihr zumeist dem gereifteren Urteil;

Nur im melodischen Hauch schwebt ihr gefällig dahin.

Aber ich darf mich rühmen, daß nie der Erfolg mich verblendet,

Daß ich des Kranzes Geschenk treu zu verdienen gestrebt.

In die Tiefen der Brust und des Weltlaufs sucht' ich zu dringen,

Und mit heiligem Ernst rang ich zum Gipfel der Kunst.

Viel zwar blieb mir versagt, doch reift auch manches im stillen,

Dran sich ein deutsches Gemüt wohl zu erfreuen vermag,

Wenn ich die Rätsel der Zeit und des Herzens im Liede zu deuten

Oder im ernsten Kothurn festlich zu schreiten gewagt.[402]

Und so bitt' ich: Verzeiht, was wild und jugendlich aufschoß,

Und im wuchernden Laub laßt euch gefallen die Frucht!


Durchs Helldunkel der Nacht hinschreit' ich am Hafen; die feine

Sichel des Halbmonds schwebt über den Giebeln der Burg.

Rings in der Stadt kein Laut! Nur fern in den Lüften ein Brausen

Hör' ich, und unter dem Eis schluchzen die Wasser des Stroms,

Und im gelinderen Hauch, der plötzlich Wangen und Stirn mir

Anrührt, flattert ein Gruß, nahender Frühling, von dir.


Aus dem erwachenden Forst heimkehrend bringt mir ein holdes

Kind Schneeglöckchen zum Fest, frisch an der Halde gepflückt.

O willkommen im Strauß, ihr Erstlingskinder der Sonne!

Euer gewürziger Hauch duftet wie Jugend mich an,

Und, den gemessenen Ernst abstreifend der Wintergedanken,

Sehnt sich nach freierem Spiel, vollerem Klange das Herz.

Liegt, ihr Glöckchen, denn hier bei dem letzten der Distichen! Morgen

Spann' ich zu Lenzmelodien andere Saiten mir auf.[403]

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 402-404.
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