Das Testament

[209] »Sohn«, fing der Vater an, indem er sterben wollte,

»Wie ruhig schlief ich itzt nicht ein,

Wenn ich nach meinem Tod dich glücklich wissen sollte!

Du bist es wert; und wirst es sein.

Hier hast du meinen letzten Willen.[209]

Sobald du mich ins Grab gebracht,

So brich ihn auf und such' ihn zu erfüllen;

So ist dein Glück gewiß gemacht.

Versprich mir dies, so will ich freudig sterben.«


Der Vater starb; und kurz darauf

Brach auch der Sohn das Testament schon auf

Und las: »Mein Sohn, du wirst von mir sehr wenig erben,

Als etwan ein gut Buch und meinen Lebenslauf,

Den setz' ich dir zu deiner Nachricht auf.

Mein Wunsch war meine Pflicht. Bei tausend Hindernissen

Befliß ich stets mich auf ein gut Gewissen.

Verstrich ein Tag, so fing ich zu mir an:

Der Tag ist hin; hast du was Nützliches gethan?

Und bist du weiser als am Morgen?

Dies, lieber Sohn, dies waren meine Sorgen.

So fand ich denn von Zeit zu Zeit

Zu meinem täglichen Geschäfte

Mehr Eifer und zugleich mehr Kräfte

Und in der Pflicht stets mehr Zufriedenheit.

So lernt' ich mich mit Wenigem begnügen

Und steckte meinem Wunsch ein Ziel.

Hast du genug, dacht' ich, so hast du viel;

Und hast du nicht genug, so wird's die Vorsicht fügen.

Was folgt dir, wenn du heute stirbst?

Die Würden, die dir Menschen gaben?

Der Reichtum? Nein! Das Glück, der Welt genützt zu haben;

Drum sei vergnügt, wenn du dir dies erwirbst.

So dacht' ich, liebster Sohn! so sucht' ich auch zu leben.

Und dieses Glück kannst du, mit Gott, dir selber geben.

Vergiß es nicht: Das wahre Glück allein

Ist, ein rechtschaffner Mann zu sein.«

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 209-210.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln und Erzählungen
Poetische Fabeln und Erzählungen: Teil 2
C. F. Gellerts Fabeln und Erzählungen
Fabeln Und Erzaehlungen
Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd.1, Fabeln und Erzählungen
Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen