Die Lerche und die Nachtigall

[189] Oft ließ der Kunst und seinem Wirt zu Ehren

Sich der Kanarievogel hören

Und freute sich, wenn durch ihr schmetternd Lied

Die Lerche minder Kunst verriet.

»O«, sprach sie, »wenn ich doch ein Lied

Gleich seinen hohen Liedern sänge!«

Und sang, indem sie dieses sprach,

Dem Nachbar eifersüchtig nach,

Verliebte sich in seine fremden Gänge

Und quälte sich, den angebornen Ton

Durch den erlernten zu verdringen,

Und trug nach vieler Müh' zuletzt das Glück davon,

Kanarisch fehlerhaft zu singen.


»O!« sprach die Nachtigall, die lang ihr zugehört,

»Wie sinnreich bist du nicht, mein Ohr und deins zu quälen!

Dich hatte die Natur vortrefflich sein gelehrt,

Und sieh, nun lehrt der Zwang dich fehlen.«


Elpin schreibt niedrig und schreibt schön;

Kleanth schreibt hoch. Elpin wünscht ihm zu gleichen.

Wie teuer kömmt es ihm zu stehn!

Er sucht Kleanthen zu erreichen

Und äfft ihn nach und muß ihm weichen,

Er schreibt und denkt für keinen Menschen schön.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 189.
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