[196] Zween Wandrer überfiel die Nacht,
»O Velten, nimm dich ja in acht«,
Sprach Kunz, von Schrecken eingenommen,
»Damit wir nicht vom Wege kommen.
Dort läßt sich schon ein Irrlicht sehn.
Nur daß wir uns nicht selber blenden
Und uns nach diesem Lichte wenden;
Sonst ist es um den Weg geschehn!«
»Schon gut!« rief Velten, »eile nur.
Doch, Bruder, wenn ich die Natur,
Und was ein Irrlicht sagen wollte,
Nur einmal recht verstehen sollte!
Studierte nennen es die Dunst,
Die aus den Sümpfen aufgestiegen.
Ich weiß nicht, ob die Leute lügen;
Denn oft ist Lügen ihre Kunst.«
»Sprich, Velten, ob du töricht bist;
Du weißt nicht, was ein Irrlicht ist?
O dürft' ich's nur bei Nachtzeit wagen!
Ich wollte dir's wohl anders sagen.
Ist's wahr, daß du kein Irrlicht kennst,
Und bist schon nah' an dreißig Jahre?[196]
Ein Irrlicht, daß mich Gott bewahre!
Ein Irrlicht, das ist ein Gespenst.
»Den Drachen hast du doch gesehn,
Der, wie zu Steffens Zeit geschehn,
Bei Kleindorf im Vorüberziehen
Getreid' und Kälber ausgespieen.
Das, was der Drach' im Großen heißt,
Nenn' ich das Irrlicht gern im Kleinen;
Denn da sie nur bei Nacht erscheinen,
So sind sie wohl kein guter Geist.«
»Nein, Kunz, nein! sag' ich! Nimmermehr!
Ein Irrwisch ist kein wütend Heer.
Ich, ohne, Kunz, dich dumm zu nennen,
Muß die Gespenster besser kennen.
Ein Rübezahl, ein solches Tier,
Als zu Gehofen ehedessen
Die Küch' im Edelhof besessen,
Dies sind Gespenster, glaube mir!
Ein Irrwisch muß was anders sein.«
K. »Wie, Velten, nennst du diesen Schein?«
V. »Ich nenn' ihn Irrwisch.« K. »Ist's erhöret?
Wer hat dich wieder das gelehret?
Ein Irrlicht heißt's, kein Irrwisch nicht;
So spricht man ja mein Lebetage.«
V. »So spräche man? Nein, Kunz, ich sage,
Daß alle Welt ein Irrwisch spricht.«
K. »Schweig, Velten, das klingt lügenhaft.
Ich hab' es auf der Wanderschaft
Und, Bruder, ohne viel zu schwören,
Von Meistern Irrlicht nennen hören.«
So stritten sie noch lange Zeit
Itzt um die Sach', itzt um den Namen,
Bis sie zuletzt vom Wege kamen;
Und schimpfend schlossen sie den Streit.
[197]
So streiten unstudierte Velten
Um Sachen, die sie nicht verstehn,
Und endigen den Streit mit Schelten.
Die Toren sollten erst zu den gelehrten Velten
Und Kunzen in die Schule gehn!
Die streiten dialektisch schön
Und ohne Wortkrieg, ohne Schelten
Um Dinge, die sie ganz verstehn,
Und fehlen ihres Weges selten,
Weil sie den Weg der Schulen gehn;
Denn da läßt sich kein Irrlicht sehn.
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln und Erzählungen
|
Buchempfehlung
Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.
114 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro