Das Kartenhaus

[67] Das Kind greift nach den bunten Karten;

Ein Haus zu bauen, fällt ihm ein.

Es baut und kann es kaum erwarten,

Bis dieses Haus wird fertig sein.


Nun steht der Bau. O welche Freude!

Doch ach! Ein ungefährer Stoß

Erschüttert plötzlich das Gebäude,

Und alle Bänder reißen los.


Die Mutter kann im Lomberspielen,

Wenn sie den letzten Satz verspielt,

Kaum so viel banges Schrecken fühlen,

Als ihr bestürztes Kind itzt fühlt.


Doch wer wird gleich den Mut verlieren?

Das Kind entschließt sich sehnsuchtsvoll,

Ein neues Luftschloß aufzuführen,

Das dem zerstörten gleichen soll.


Die Sehnsucht muß den Schmerz besiegen;

Das erste Haus steht wieder da.

Wie lebhaft war des Kinds Vergnügen,

Als es sein Haus von neuem sah!


Nun will ich mich wohl besser hüten,

Damit mein Haus nicht mehr zerbricht.

»Tisch!« ruft das Kind, »laß dir gebieten,

Und stehe fest, und wackle nicht!«


Das Haus bleibt unerschüttert stehen,

Das Kind hört auf, sich zu erfreun;

Es wünscht, es wieder neu zu sehen,

Und reißt es bald mit Willen ein.


Schilt nicht den Unbestand der Güter,

Du siehst dein eigen Herz nicht ein;[67]

Veränderlich sind die Gemüter,

So mußten auch die Dinge sein.


Bei Gütern, die wir stets genießen,

Wird das Vergnügen endlich matt;

Und würden sie uns nicht entrissen,

Wo fänd' ein neu Vergnügen statt?

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 67-68.
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