Das Schicksal

[92] O Mensch! was strebst du doch den Ratschluß zu ergründen,

Nach welchem Gott die Welt regiert?

Mit endlicher Vernunft willst du die Absicht finden,

Die der Unendliche bei seiner Schickung führt?

Du siehst bei Dingen' die geschehen,

Nie das Vergangne recht und auch die Folge nicht;

Und hoffest doch den Grund zu sehen,[92]

Warum das, was geschah, geschieht

Die Vorsicht ist gerecht in allen ihren Schlüssen.

Dies siehst du freilich nicht bei allen Fällen ein;

Doch wolltest du den Grund von jeder Schickung wissen:

So müßtest du, was Gott ist, sein.

Begnüge dich, die Absicht zu verehren,

Die du zu sehn, zu blöd' am Geiste bist;

Und laß dich hier ein jüdisch Beispiel lehren,

Daß das, was Gott verhängt, aus weisen Gründen fließt

Und, wenn dir's grausam scheint, gerechtes Schicksal ist.


Als Moses einst vor Gott auf einem Berge trat

Und ihn von jenem ew'gen Rat,

Der unser Schicksal lenkt, um größre Kenntnis bat:

So ward ihm ein Befehl, er sollte von den Höhen,

Worauf er stund, hinab ins Ebne sehen.

Hier floß ein klarer Quell. Ein reisender Soldat

Stieg bei dem Quell von seinem Pferde

Und trank. Kaum war der Reiter fort,

So lief ein Knabe von der Herde

Nach einem Trunk an diesen Ort.

Er fand den Geldsack bei der Quelle,

Der jenem hier entfiel; er nahm ihn und entwich:

Worauf nach eben dieser Stelle

Ein Greis gebückt an seinem Stabe schlich.

Er trank und setzte sich, um auszuruhen, nieder;

Sein schweres Haupt sank zitternd in das Gras,

Bis es im Schlaf des Alters Last vergaß.

Indessen kam der Reiter wieder,

Bedrohte diesen Greis mit wildem Ungestüm

Und forderte sein Geld von ihm.


Der Alte schwört, er habe nichts gefunden,

Der Alte fleht und weint, der Reiter flucht und droht

Und sticht zuletzt mit vielen Wunden

Den armen Alten wütend tot.


Als Moses dieses sah, fiel er betrübt zur Erden;

Doch eine Stimme rief: »Hier kannst du inne werden,[93]

Wie in der Welt sich alles billig fügt;

Denn wiss': es hat der Greis, der itzt im Blute liegt,

Des Knabens Vater einst erschlagen,

Der den verlornen Raub zuvor davongetragen.«

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 92-94.
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