Der Maler

[104] Ein kluger Maler in Athen,

Der minder, weil man ihn bezahlte,

Als, weil er Ehre suchte, malte,

Ließ einen Kenner einst den Mars in Bilde sehn

Und bat sich seine Meinung aus.

Der Kenner sagt ihm frei heraus,

Daß ihm das Bild nicht ganz gefallen wollte,

Und daß es, um recht schön zu sein,

Weit minder Kunst verraten sollte.

Der Maler wandte vieles ein;

Der Kenner stritt mit ihm aus Gründen

Und konnt' ihn doch nicht überwinden.


Gleich trat ein junger Geck herein

Und nahm das Bild in Augenschein.

»O!« rief er bei dem ersten Blicke,

»Ihr Götter, welch ein Meisterstücke!

Ach welcher Fuß! O, wie geschickt

Sind nicht die Nägel ausgedrückt!

Mars lebt durchaus in diesem Bilde.

Wie viele Kunst, wie viele Pracht

Ist in dem Helm und in dem Schilde

Und in der Rüstung angebracht!«


Der Maler ward beschämt gerühret

Und sah den Kenner kläglich an.

»Nun«, sprach er, »bin ich überführet!

Ihr habt mir nicht zu viel gethan.«

Der junge Geck war kaum hinaus:

So strich er seinen Kriegsgott aus.


Wenn deine Schrift dem Kenner nicht gefällt:

So ist es schon ein böses Zeichen;

Doch wenn sie gar des Narren Lob erhält:

So ist es Zeit, sie auszustreichen.[104]

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 104-105.
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