Der arme Schiffer

[91] Ein armer Schiffer stak in Schulden

Und klagte dem Philet sein Leid.

»Herr!« sprach er, »leiht mir hundert Gulden;

Allein zu Eurer Sicherheit

Hab' ich kein ander Pfand als meine Redlichkeit.

Indessen leiht mir aus Erbarmen

Die hundert Gulden auf ein Jahr.«


Philet, ein Retter in Gefahr,

Ein Vater vieler hundert Armen,

Zählt ihm das Geld mit Freuden dar.

»Hier«, spricht er, »nimm es hin und brauch' es ohne Sorgen;

Ich freue mich, daß ich dir dienen kann;

Du bist ein ordentlicher Mann,

Dem muß man ohne Handschrift borgen.«


Ein Jahr und noch ein Jahr verstreicht;

Kein Schiffer läßt sich wieder sehen.

Wie? sollt' er auch Phileten hintergehen

Und ein Betrüger sein? Vielleicht.


Doch nein! Hier kömmt der Schiffer gleich.

»Herr!« fängt er an, »erfreuet Euch!

Ich bin aus allen meinen Schulden;

Und seht, hier sind zweihundert Gulden,

Die ich durch Euer Geld gewann.

Ich bitt' Euch herzlich, nehmt sie an;

Ihr seid ein gar zu wackrer Mann.«[91]

»O!« spricht Philet, »ich kann mich nicht besinnen,

Daß ich dir jemals Geld geliehn.

Hier ist mein Rechnungsbuch, ich will's zu Rate ziehn;

Allein ich weiß es schon, du stehest nicht darinnen.«


Der Schiffer sieht ihn an und schweigt betroffen still

Und kränkt sich, daß Philet das Geld nicht nehmen will.

Er läuft und kömmt mit voller Hand zurücke.

»Hier«, spricht er, »ist der Rest von meinem ganzen Glücke,

Noch hundert Gulden! nehmt sie hin

Und laßt mir nur das Lob, daß ich erkenntlich bin.

Ich bin vergnügt, ich habe keine Schulden;

Dies Glücke dank' ich Euch allein;

Und wollt Ihr ja recht gütig sein,

So leiht mir wieder fünfzig Gulden.«


»Hier«, spricht Philet, »hier ist dein Geld!

Behalte deinen ganzen Segen:

Ein Mann, der Treu' und Glauben hält,

Verdient ihn seiner Treue wegen.

Sei du mein Freund! Das Geld ist dein;

Es sind nicht mehr als hundert Gulden mein,

Die sollen deinen Kindern sein.«


Mensch! mache dich verdient um andrer Wohlergehen;

Denn was ist göttlicher, als wenn du liebreich bist

Und mit Vergnügen eilst, dem Nächsten beizustehen,

Der, wenn er Großmut sieht, großmütig dankbar ist?

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 91-92.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln und Erzählungen
Poetische Fabeln und Erzählungen: Teil 2
C. F. Gellerts Fabeln und Erzählungen
Fabeln Und Erzaehlungen
Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd.1, Fabeln und Erzählungen
Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon