Der grüne Esel

[89] Wie oft weiß nicht ein Narr durch töricht Unternehmen

Viel tausend Toren zu beschämen!


Neran, ein kluger Narr, färbt einen Esel grün,

Am Leibe grün, rot an den Beinen,

Fängt an, mit ihm die Gassen durchzuziehn;

Er zieht, und Jung und Alt erscheinen.

»Welch Wunder!« rief die ganze Stadt,

»Ein Esel, zeisiggrün! der rote Füße hat!

Das muß die Chronik einst den Enkeln noch erzählen,

Was es zu unsrer Zeit für Wunderdinge gab!«

Die Gassen wimmelten von Millionen Seelen;

Man hebt die Fenster aus, man deckt die Dächer ab;

Denn alles will den grünen Esel sehn,

Und alle konnten doch nicht mit dem Esel gehn.


Man lief die beiden ersten Tage

Dem Esel mit Bewundrung nach.

Der Kranke selbst vergaß der Krankheit Plage,

Wenn man vom grünen Esel sprach.

Die Kinder in den Schlaf zu bringen,

Sang keine Wärterin mehr von dem schwarzen Schaf;

Vom grünen Esel hört man singen,

Und so gerät das Kind in Schlaf.


Drei Tage waren kaum vergangen:

So war es um den Wert des armen Tiers geschehn.

Das Volk bezeigte kein Verlangen,

Den grünen Esel mehr zu sehn.

Und so bewundernswert er anfangs allen schien:

So dacht' itzt doch kein Mensch mit einer Silb' an ihn.


Ein Ding mag noch so närrisch sein,

Es sei nur neu, so nimmt's den Pöbel ein:

Er sieht und er erstaunt. Kein Kluger darf ihm wehren.

Drauf kömmt die Zeit und denkt an ihre Pflicht;[89]

Denn sie versteht die Kunst, die Narren zu bekehren,

Sie mögen wollen oder nicht.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 89-90.
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