Der Freigeist

[134] Ihr, die ihr nach der Tugend strebet,

Ihr, die ihr dem gehorsam seid,

Was die Vernunft und was die Schrift gebeut,

Ein Freigeist lacht euch aus, daß ihr so sklavisch lebet.

»Was sucht ihr?« fragt er euch; »nicht die Zufriedenheit?

Ist's möglich, sich so zu betrügen?

Um euch vergnügt zu sehn, raubt ihr euch das Vergnügen?

Ihr sucht die Ruh' und find't sie in der Last,

Haßt, was ihr liebt, und liebet, was ihr haßt.

Habt ihr Vernunft? Ich zweifle fast.

Die Freiheit in der Tugend finden,

Das heißt, um frei zu sein, sich erst an Ketten binden.


Dringt durch des Aberglaubens Nacht,

Die euch zu finstern Köpfen macht:

Folgt der Natur, genießt, was sie euch schenket;

Sucht nichts, als was ihr wünscht; flieht nichts, als was euch kränket;

Denkt frei und lebet, wie ihr denket,

Und gebt nicht auf die Thoren acht.

Der Pöbel ist der größte Hauf' auf Erden:

Von diesem reißt euch los. Er weiß nicht, was er glaubt,

Hält seinen Trieb für unerlaubt

Und sieht nicht, daß er sich sein Glück aus Milzsucht raubt,

Sonst würd' er nicht so abergläubisch werden.


Drum faßt den kurzen Unterricht:

Was viele glauben, glaubet nicht!

Sie glauben es aus Trägheit, nicht zu prüfen;

Doch ein Vernünftiger dringt in der Wahrheit Tiefen.

Was ist die Schrift? Was lehret sie?

Ein traurig Leben, reich an Müh',

Und Rätsel, die wir aufzuschließen

Erst der Vernunft entsagen müssen.

Was ist das mächtige Gewissen?

Ein Ding, das die Erziehung schafft,

Ein heilig Erbteil aller Blöden;

Doch die, die wissen, was sie reden,

Empfinden nichts von seiner Kraft.
[134]

Folgt der Natur. Sie ruft; was kann sie anders wollen,

Als daß wir ihr gehorchen sollen?

Die Furcht erdachte Recht und Pflicht

Und schuf den Himmel und die Hölle.

Setzt die Vernunft an ihre Stelle:

Was seht ihr da? den Himmel und die Hölle?

O nein! ein weibisches Gedicht.

Laßt doch der Welt ihr kindisches Geschwätze.

Was jeden ruhig macht, ist jedes sein Gesetze:

Mehr glaubt und braucht ein Kluger nicht.«


Dies war der Witz, mit dem in seinem Leben

Ein Freigeist sein System erwies,

Die Tugend von dem Throne stieß,

Um nur sein Laster drauf zu heben.

Sein böses Herz war ihm Vernunft und Gott,

Und der am Kreuze starb, war oft des Frechen Spott.


Sein Ende kam. Und der, der nie gezittert,

Ward plötzlich durch den Tod erschüttert.

Das Schrecken einer Ewigkeit,

Ein Richter, der als Gott ihm fluchte,

Ein Abgrund, welcher ihn schon zu verschlingen suchte,

Zerstörte das System tollkühner Sicherheit.

Und der, der sonst mit seinen hohen Lehren

Der ganzen Welt zu widerstehn gewagt,

Fing an, der Magd geduldig zuzuhören,

Und ließ von seiner frommen Magd,

Zu der er tausendmal »Du christlich Tier!« gesagt,

Sich widerlegen und bekehren.


So stark sind eines Freigeists Lehren!

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 134-135.
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