Der Tartarfürst

[143] Ein Tartarfürst, von dem man in Geschichten preist,

Daß er als Prinz Europa durchgereist,

Befahl, weil er sein Volk galanter machen wollte,[143]

Daß kein vornehmes Weib ihr Kind selbst stillen sollte.

Die wilden Damen lachten nur;

Sie nährten nach wie vor ihr Kind mit ihren Brüsten

Und glaubten, daß sie der Natur

Und ihren Müttern folgen müßten.

Der Chan fing an, sich zu entrüsten,

Gab ein sehr scharf Mandat und schwur,

Daß jede Frau vom Stande sterben sollte,

Die für ihr Kind nicht Ammen halten wollte.

Und weil sie sich gezwungen sahn:

So nahmen sie denn Ammen an.

Allein sie konnten sich des Triebs nicht lang erwehren,

Ihr eigen Blut an ihrer Brust zu nähren

Die meisten fingen an, dem Chan den Tod zu schwören.


Einst als der Tartarfürst sich ganz allein befand,

Kam mit dem Degen in der Hand

Ein vornehm Weib auf ihn gerannt

Und sprach, von edlem Grimm entbrannt:

»Hör' auf, mein Kind mir abzudringen,

Sonst bin ich hier, dich umzubringen.

Ich säug' es selbst, und säug' es mir zur Lust,

Deswegen hab' ich diese Brust.

In dieser Pflicht, mein Kind daran zu nehmen,

Soll mich, o Fürst, kein Tier beschämen.«


Der gute Tartarfürst erschrak,

Und unterließ, um nicht sein Leben zu verlieren,

Den europäischen Geschmack

In seinen Horden einzuführen.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 143-144.
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