Der sterbende Vater

[108] Ein Vater hinterließ zween Erben,

Christophen, der war klug, und Görgen, der war dumm.

Sein Ende kam, und kurz vor seinem Sterben

Sah er sich ganz betrübt nach seinem Christoph um.

»Sohn!« fing er an, »mich quält ein trauriger Gedanke;

Du hast Verstand, wie wird dir's künftig gehn?

Hör' an, ich hab' in meinem Schranke

Ein Kästchen mit Juwelen stehn,

Die sollen dein. Nimm sie, mein Sohn,

Und gib dem Bruder nichts davon.«


Der Sohn erschrak und stutzte lange.

»Ach Vater!« hub er an, »wenn ich so viel empfange,

Wie kömmt alsdann mein Bruder fort?« –

»Er?« fiel der Vater ihm ins Wort,

»Für Görgen ist mir gar nicht bange,

Der kömmt gewiß durch seine Dummheit fort.«[108]

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 108-109.
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