Die Frau und der Geist

[160] Vordem, da noch um Mitternacht,

Den armen Sterblichen zu dienen,

Die Geister dann und wann erschienen,

Ließ sich ein Geist in einer weißen Tracht

Vor einer Frau im Bette sehen

Und hieß sie freundlich mit sich gehen

Und ging mit ihr auf einen wüsten Platz.

»Frau«, sprach der Geist, »hier liegt ein großer Schatz;

Nimm gleich dein Halstuch ab und wirf es auf den Platz,

Und morgen um die zwölfte Stunde

Komm her, dann findest du ein Licht,

Dem grabe nach, doch rede nicht;

Denn geht ein Wort aus deinem Munde:

So wird der Schatz verschwunden sein.«


Die Frau fand zur gesetzten Stunde

Die Nacht darauf sich mit dem Grabscheit ein.

Nun die muß recht beherzt gewesen sein!

Ich fände mich gewiß nicht ein,

Und sollt' ich zwanzig Schätze heben.

Wer stünde mir denn für mein Leben?

Die Nacht ist keines Menschen Freund;

Und wenn's der Geist recht ehrlich mit mir meint:

So kann er mir den Schatz ja auf der Stube geben.


Die Frau verschlug das nichts. Sie eilt, den Schatz zu heben.

»Frau«, spricht sie bei sich selbst, »bei Leibe sprich kein Wort,

Sonst rückt der Schatz auf ewig fort.«

Sie hält, was sie sich vorgenommen;[160]

Sie schweigt und gräbt getrost. – Ha, ha, nun klingt es hohl,

Nun wird der rechte Fleck bald kommen:

Hier liegt der Schatz, das dacht' ich wohl.

O seht, ein großer Topf von lauter Golde voll!

O! wenn sie doch dasmal nicht red'te

Und zu dem schweren Topf gleich einen Träger hätte?

Ist denn ihr Geist nicht etwan auf dem Platz?

Er kömmt und hilft den Topf ihr aus der Erde nehmen.

»Ach!« rief sie schnell, »ich muß mich schämen,

Sie zu bemühn –« Weg war der Schatz!

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 160-161.
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