Die beiden Schwalben

[105] Zwo Schwalben sangen um die Wette

Und sangen mit dem größten Fleiß;

Doch wenn die eine schrie, daß sie den Vorzug hätte,

Gab doch die andre sich den Preis.

Die Lerche kömmt. Sie soll den Streit entscheiden;

Und beide stimmen herzhaft an.

»Nun«, hieß es, »sprich, wer von uns beiden

Am meisterlichsten singen kann?« –

»Das weiß ich nicht«, sprach sie bescheiden,

Und sah sie ganz mitleidig an

Und wollte sich nach ihrer Höhe schwingen.

Doch nein, sie suchten ihr den Ausspruch abzuzwingen.

»So«, sprach sie, »will ich's denn gestehn:

"Die kann so gut wie jene singen,

Doch singt, so lang ihr wollt, es singt doch keine schön.

Hört man das Lied geistreicher Nachtigallen:

So kann uns eures nicht gefallen.«


Ihr mittelmäßigen Skribenten,

O! wenn wir euch doch friedsam machen könnten!

Ihr zankt, wer besser denkt? Laßt keinen Streit entstehn.

Wir wollen keinen von euch kränken;

Der eine kann so gut wie jener denken;

Doch keiner von euch denket schön.

Ihr Schwätzer! zankt nicht um die Gaben

Der geistlichen Beredsamkeit.

So lange wir Mosheime haben:

So sehn wir ohne Schwierigkeit,

Daß ihr beredte Kinder seid.

Zankt nicht um eure hohen Gaben,

Ihr Gründlichen, o bleibt in Ruh'!

Du demonstrierst wie er, und er so fein wie du;

Allein so lange wir Leibnize vor uns haben:

So hört euch keine Seele zu.[105]

O zankt nicht um des Phöbus Gaben,

Reimreiche Sänger unsrer Zeit!

Ihr alle reimt mit gleicher Fertigkeit;

Allein so lange wir noch Hagedorne haben:

So denkt man nicht daran, daß ihr zugegen seid.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 105-106.
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