Ermunterung, die Schrift zu lesen

[282] Soll dein verderbtes Herz zur Heiligung genesen,

Christ, so versäume nicht, das Wort des Herrn zu lesen;

Bedenke, daß dies Wort das Heil der ganzen Welt,

Den Rat der Seligkeit, den Geist aus Gott enthält.


Merk auf, als ob dir Gott, dein Gott, gerufen hätte;

Merk auf, als ob er selbst zu dir vom Himmel redte!

So lies; mit Ehrfurcht lies, mit Lust und mit Vertraun,

Und mit dem frommen Ernst, in Gott dich zu erbaun.


Sprich fromm: O Gott! vor dem ich meine Hände falte,

Gib, daß ich dein Gebot für dein Wort ewig halte;

Und laß mich deinen Rat empfindungsvoll verstehn,

Die Wunder am Gesetz, am Wort vom Kreuze sehn!


Er, aller Wahrheit Gott, kann dich nicht irren lassen.

Lies, Christ, sein heilig Buch, lies oft; du wirst es fassen,

So viel dein Heil verlangt. Gott ist's, der Weisheit gibt,

Wenn man sie redlich sucht und aus Gewissen liebt.


Lies, frei von Leidenschaft und ledig von Geschäften,

Und sammle deinen Geist mit allen seinen Kräften.

Der beste Teil des Tags, des Morgens Heiterkeit,

Und dann der Tag des Herrn, der sei der Schrift geweiht.


Rührt dich ein starker Spruch: so ruf ihn, dir zum Glücke,

Des Tags oft in dein Herz, im stillen oft, zurücke;[282]

Empfinde seinen Geist, und stärke dich durch ihn

Zum wahren Edelmut, das Gute zu vollziehn.


Um tugendhaft zu sein, dazu sind wir auf Erden.

Tu, was die Schrift gebeut; dann wirst du inne werden,

Die Lehre sei von Gott, die dir verkündigt ist,

Und dann das Wort verstehn, dem du gehorsam bist.


Spricht sie geheimnisvoll: so laß dich dies nicht schrecken.

Ein endlicher Verstand kann Gott nie ganz entdecken;

Gott bleibt unendlich hoch. Wenn er sich dir erklärt:

So glaube, was er spricht, nicht was dein Witz begehrt.


Sich seines schwachen Lichts bei Gottes Licht nicht schämen,

Ist Ruhm; und die Vernunft alsdann gefangen nehmen,

Wenn Gott sich offenbart, ist der Geschöpfe Pflicht;

Und weise Demut ist's, das glauben, was Gott spricht.


Drum laß dich, frommer Christ, durch keine Zweifel kränken.

Hier bist du Kind; doch dort wird Gott mehr Licht dir schenken.

Dort wächst mit deinem Glück dein Licht in Ewigkeit;

Dort ist die Zeit des Schauns, und hier des Glaubens Zeit.


Verehre stets die Schrift; und siehst du Dunkelheiten:

So laß dich deinen Freund, der mehr als du sieht, leiten.

Ein forschernder Verstand, der sich der Schrift geweiht,

Ein angefochtnes Herz, hebt manche Dunkelheit.


Halt fest an Gottes Wort; es ist dein Glück auf Erden,

Und wird, so wahr Gott ist, dein Glück im Himmel werden.

Verachte christlich groß des Bibelfeindes Spott;

Die Lehre, die er schmäht, bleibt doch das Wort aus Gott.


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 282-283.
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