Trost eines schwermütigen Christen

[296] Du klagst, o Christ! in schweren Leiden,

Und seufzest, daß der Geist der Freuden

Von dir gewichen ist.

Du klagst und rufst: Herr, wie so lange?

Und Gott verzeiht, und dir wird bange,

Daß du von Gott verlassen bist.


Sind meine Sünden mir vergeben;

Hat Gott mir Sünder Heil und Leben

In seinem Sohn verliehn:

Wo sind denn seines Geistes Triebe?

Warum empfind ich nicht die Liebe,

Und hoffe nicht getrost auf ihn?


Mühselig, sprichst du, und beladen

Hör ich den Trost vom Wort der Gnaden,

Und ich empfind ihn nicht;[296]

Bin abgeneigt, vor Gott zu treten;

Ich bet, und kann nicht gläubig beten;

Ich denke Gott, doch ohne Licht.


Sonst war mir's Freude, seinen Willen

Von ganzem Herzen zu erfüllen;

Sein Wort war mir gewiß.

Itzt kann ich's nicht zu Herzen fassen,

Und meine Kraft hat mich verlassen,

Und meinen Geist deckt Finsternis.


Oft fühl ich Zweifel, die mich quälen,

Heul oft vor Unruh meiner Seelen;

Und meine Hülf ist fern.

Ich suche Ruh, die ich nicht finde;

In meinem Herzen wohnt nur Sünde,

Nur Unmut, keine Furcht des Herrn.


Zag nicht, o Christ! denn deine Schmerzen,

Sind sichre Zeugen beßrer Herzen,

Als dir das deine scheint.

Wie könntest du dich so betrüben,

Daß dir die Kraft fehlt, Gott zu lieben,

Wär nicht dein Herz mit ihm vereint?


Kein Mensch vermag Gott zu erkennen,

Noch Jesum einen Herrn zu nennen,

Als durch den heilgen Geist.

Hast du nicht diesen Geist empfangen?

Er ist's, der dich nach Gott verlangen,

Und sein Erbarmen suchen heißt.


Vertrau auf Gott. Er wohnt bei denen,

Die sich nach seiner Hülfe sehnen;

Er kennt und will dein Glück.

Er höret deines Weinens Stimme;

Verbirgt er gleich in seinem Grimme

Sich einen kleinen Augenblick.
[297]

Gott ließ so manchen seiner Frommen

In dies Gefühl des Elends kommen,

Und stund ihm mächtig bei.

Du sollst dein Nichts erkennen lernen,

Sollst das Vertraun auf dich entfernen,

Und sehn, was Gottes Gnade sei.


Vor Sicherheit dich zu bewahren,

Läßt er dich seine Streng erfahren,

Und schickt dir diese Last.

Er reinigt dich wie Gold im Feuer,

Macht dir das Heil der Seele teuer,

Damit du haltest, was du hast.


So wie ein Vater über Kinder,

Erbarmet Gott sich über Sünder,

Die seinen Namen scheun.

Dein Seufzen ist ihm nicht verborgen.

So fern der Abend ist vom Morgen,

Läßt er von dir die Sünde sein.


Zwar ist um Trost dir itzo bange;

Denn alle Züchtigung, so lange

Sie da ist, scheint uns hart.

Doch nachmals wird sie friedsam geben

Frucht der Gerechtigkeit und Leben

Dem, der durch sie geübet ward.


Fahr fort zu beten und zu wachen.

Gott ist noch mächtig in den Schwachen,

Ist Güte für und für.

Laß dir an seiner Gnade gnügen.

Sein Wort ist wahr, und kann nicht trügen:

Ich stärke dich, ich helfe dir!


Auf, fasse dich in deinen Nöten!

Sprich: Wollte mich der Herr auch töten:

So harr ich dennoch sein.

Mir bleibt das Erbteil der Erlösten;[298]

Und will mich Gott nicht eher trösten,

Wird er mich doch im Tod erfreun.


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 296-299.
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