CXV
DIE KLEINEN ALTEN
1

[133] In alten städten in winkliger viertel nähe

Wo alles · sogar das entsetzen · in zauber sich kehrt

Gehorch ich meinen verderblichen launen und spähe

Nach wesen seltsam bestrickend · schwach und verzehrt.


Einst waren es frauen · die zerrbilder aufgerieben ·

Epona und Laïs! zerrbilder verschlissen krumm

Verschrumpft – es sind noch seelen · wir müssen sie lieben!

In ihren durchlöcherten kleidern kommen sie stumm[134]


Die strasse einher von den boshaften winden geschlagen

Im rollenden lärme der wagen zitternd geknickt

Und wie ein heiliges überbleibsel tragen

Sie bei sich ein säckchen mit blumen und schnörkeln bestickt.


Sie trippeln ähnlich wie die Polichinellen ·

Sie schleppen sich wie verwundete tiere fort

Und ohne zu wollen tanzen sie – arme schellen

Daran sich ständig ein dämon hängt! so verdorrt


Sie auch sind: ihre stechenden augen bestricken

Und glitzern wie ruhende wasserhöhlen bei nacht

Und sind wie die eines mädchens mit göttlichen blicken

Das alles bestaunt und zu allem erglänzenden lacht.


– Habt ihr bemerkt: manche särge der alten waren

Wie die eines kindes – beinah ebenso klein?

Der weise tod legt in diese gleichheit der bahren

Ein sinnbild von seltsam ergreifender laune hinein.


Und seh ich an mir vorüber eins von den matten

Gespenstern durch das wimmelnde treiben fliehn

So scheint es mir immer dass diese gebrechlichen schatten

Ganz leis einer neuen wiege entgegenziehn.[135]


Ich denke dann über die messkunst nach und ich zähle

Vom anblick dieser verschrobenen glieder erfasst

Wie oft der handwerker andere formen wol wähle

Damit die kiste für jeden der körper passt. –


Und brunnen sind ihre augen · tief unabsehlich ·

Sind tiegel beschlagen mit einem erkalteten erz ·

Und voll von geheimnissen fesseln sie unwiderstehlich

Den der erzogen wurde vom grausamen schmerz.


2

Des alten Frascati liebende priesterinnen ·

Thaliens töchter deren allein noch im sarg

Der flüsterer denkt · und berühmte verschwenderinnen

Die Tivoli ehmals in seinen blumen barg:


Sie alle berauschen mich · unter den zarten gestalten

Sind aber auch solche die machten zum honig den schmerz:

Sie sagten zum opfermut: willst du uns aufrecht halten?

Mächtiges flügelross · flieh mit uns himmelwärts![136]


Die eine im leiden geübt durch die heimatsonne

Die andre die ihres gatten qualen ertrug

Die dritte des kindes willen durchbohrte madonne –

Sie hätten um ströme zu bilden der tränen genug.


3

Wie manchen bin ich gefolgt von den kleinen alten!

Von ihnen eine · zur zeit als die sonne sank

Und sich der himmel hüllte in blutige falten –

Gedankenvoll sass sie abseits auf einer bank


Dem klang der soldatenmärsche zu folgen der bebend

Von pauken zuweilen durch unsere gärten gellt

Und der · an abenden golden und wiederbelebend ·

Mit heldenmut etwas die herzen der bürger schwellt.


Sie also (noch kräftig sich fühlend trotz ihrer jahre)

Sog gierig ein die lebhaften kampf-melodien.

Mit ihrem auge glich sie dem alten aare ·

Ihr marmornes haupt für den lorbeer geschaffen schien.[137]


4

So ziehet ihr klaglos dahin mit stoischen stirnen

Inmitten unserer lebenden städte schlund ·

Ihr mütter mit blutendem herzen ihr frommen ihr dirnen

Ihr deren name vor zeiten in aller mund.


Euch die man die pracht genannt und die schönheit der erde

Euch kennt nun keiner · ein betrunkener schlüpft

An euch vorüber mit höhnischer liebesgebärde ·

Ein boshafter knabe hinter den fersen euch hüpft.


Geduckten ganges euch schämend mit furchtsamem blicke ·

Verschrumpfte gestalten die ihr an die mauern streift ·

Euch achtet keiner · seltsame geschicke ·

Ihr trümmer von menschen die ihr für die ewigkeit reift!


Ich aber schaue auf euch von fernem · nicht minder

Besorgt und auf euren schwankenden schritt –

Wie wundersam! als wäret ihr all meine kinder ·

Ich fühle · euch unbekannt · heimliche freuden mit:[138]


Ich sehe wie eure jungfräulichen triebe sich künden ·

Ich sehe die frohzeit und das verlorene glück.

Mein herz wie vervielfacht ergeht sich in all euren sünden

Und all eure tugenden strahlt meine seele zurück.


Ihr trümmer! ihr schwestern! mir verwandte scharen!

Ich nehme feierlich abschied von euch jeden tag.

Wo seid ihr morgen · ihr Even von hundert jahren

Auf denen Gottes entsetzlicher finger lag?

Quelle:
George, Stefan: Baudelaire. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 13/14, Berlin 1930, S. 133-139.
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